MALMOE

Progressiv 
und pragmatisch!

Interview zu Drogenpolitiken in Amsterdam

August de Loor begann 1968 in den armen Teilen von Amsterdam zu arbeiten. Er wurde Straßensozialarbeiter. Viele Jugendliche waren Ende der 1960er Jahre arbeitslos und lebten auf den Straßen Amsterdams. Für sie wurde August zu einer Vertrauensperson. Er versuchte, eine Brücke zwischen ihnen und der Gesellschaft zu bauen, mit der sie viele Probleme hatten. Heute ist er in der Politik tätig und berät die Regierung zu Drogenfragen.

Was waren über die letzten Jahrzehnte einige Grundpfeiler deiner Beteiligung an der Arbeit zu Drogenpolitik und -regulierung?

Die moderne Drogenverwendung begann in den 1960er Jahren mit Cannabis. Vor dieser Zeit fand der Drogenkonsum nur in den oberen Gesellschaftsschichten statt. Zusammen mit der 1968 Revolution unter den Student:innen, der sexuellen Revolution und der Emanzipation der Homosexuellen entstand im Westen eine neue unabhängige Jugendkultur. Auch Cannabis wurde da populär.
In der weltweiten alkoholbezogenen Gesellschaft gibt es ein großes Interesse an psychoaktiven Substanzen. Nach Cannabis wurden LSD, Amphetamine, und Kokain populär, und im Schatten all dessen auf der Straße Heroin. Mit dem Beginn der Techno-Ära und den großen Raves ab 1985 kam der neue Drogentrend XTC auf, in den 1990ern waren es Pilze (und andere sogenannte „Smartdrugs“) und heutzutage die sogenannten „Designerdrogen“.
Ich habe einiges im Zusammenhang mit Drogen seit den 1960er Jahren gesehen. Seitdem war meine Arbeit lange Zeit darauf ausgerichtet, jeden neuen Drogentrend zu überwachen, warum er passiert und was für eine sichere Verwendung getan werden kann. Es geht um Schadensminimierung und wie man die Drogenpolitik in der Gesellschaft ändern kann.

Du warst an der Konzeption der niederländischen Coffeeshops beteiligt. Wie kam es dazu?

Ende der 1960er Jahre wurde Cannabis sehr populär, aber man musste es auf der Straße kaufen. Es gab einerseits viel Ärger und Angst, dass die Polizei Konsument:innen verhaftet, und andererseits wusste man nie über die Qualität von Cannabis Bescheid. Von dort aus starteten wir zwei Dinge.
Zunächst arbeiteten wir in den Jugendzentren, in denen Rock ‚n‘ Roll und später Punkkonzerte für junge Leute stattfanden. In diesen Jugendzentren organisierten wir sogenannte Heimdealer, bei denen die Besucher Cannabis kaufen konnten, anstatt es auf der Straße zu kaufen. Durch dieses System konnten wir das Cannabis als Teil unseres „sicheren Verwendungsprojekts“ in einem Labor analysieren. Dieser Heimdealer-Ansatz sorgte auch dafür, dass die Jugendlichen nicht mit anderen Drogen auf dem Straßenmarkt in Kontakt kamen, wie zum Beispiel Heroin.
Aber dieses System war immer noch illegal. Sehr langsam konnten wir die Regierung davon überzeugen, sich für ein System zu entscheiden, bei dem der Kauf und Konsum von Cannabis sicher ist. So kam es, dass die niederländische Regierung 1976 Cannabis entkriminalisierte und hierzu ein neues Gesetz erließ. Das war der Beginn des niederländischen Coffeeshops, ein sicheres System, in dem man Cannabis kaufen und rauchen konnte, kontrolliert nach den Regeln der Regierung.
Ich bin überzeugt, dass jede psychoaktive Substanz ihre eigene Kultur der Verwendung braucht. Die erste Maßnahme zur Verhinderung des Missbrauchs von Substanzen besteht darin, die Kultur rund um die Verwendung psychoaktiver Substanzen zu organisieren. Und das ist das, was der Coffeeshop für Cannabis ist.

Was ist unter einer „Verwendungskultur“ zu verstehen?

Alkohol für sich allein zu Hause ist gefährlich, aber in der Kneipe nicht. Dort gibt es soziale Kontrolle durch deine Freund:innen, den Barkeeper, die Besucher:innen.
Meiner Meinung nach sollte der Verkauf von Alkohol und Tabak aus dem Supermarkt aufhören und wieder in speziellen Geschäften – wie den Coffeeshops für Cannabis – landen. Das Gleiche gilt für XTC. So erreicht man eine pragmatische Politik, bei der all diese potenziell gefährlichen Substanzen an regulierten und sicheren Orten verkauft werden.
Auf der Tanzfläche großer Raves sind 90% der Besucher auf XTC. Wir haben damals ein pragmatisches System für sichere Raves organisiert. Von 1986 bis vor 10 Jahren habe ich hunderttausende XTC-Tabletten auf der Tanzfläche getestet. Wenn es gefährliche XTC-Tabletten in der Diskothek gab, haben wir die Musik gestoppt. Dann mussten einige tausend Raver aufhören zu tanzen. Wir erklärten dann: „Die gelbe Mitsubishi XTC-Tablette ist gefährliche, bringt sie zu meinem Stand von der Safe House campaign.“
Von einer Minute auf die andere hatte man tausend Ecstasy-Junkies im Club. Und ab dem Moment, wo die Musik wieder startete, hatte man wieder Ecstasy-Liebhaber auf der Tanzfläche. Wenn Raves wegfallen und der Ecstasy-Konsum ohne sozialen Kontext stattfindet, ist es gefährlich. Dann hat man Suchtkranke.

Deutschland plant, Cannabis zu legalisieren. Was hältst du von dem favorisierten Ansatz?

Das Konzept des Social Clubs, wie es Deutschland einführen möchte, berücksichtigt nicht die soziale Umgebung, und deshalb fehlt ihm ein grundlegender Aspekt, den es im Coffeeshop gibt.
Um Mitglied eines Social Clubs zu sein, musst du einen Ausweis vorlegen und organisieren, dass die Hanfpflanze für den Eigenverbrauch angebaut werden kann. Das sind viele Hürden und Eintrittsschwierigkeiten.
Cannabis ist nach Alkohol die beliebteste Substanz. Der Social Club, wie Deutschland ihn vorschlägt, ist ein hochschwelliges Angebot nur für die, die Cannabis selbst produzieren wollen. Viele Konsument:innen haben keine Zeit dafür!
Nach der Arbeit möchtest du gern deinen Joint haben, mit deinen Freund:innen sprechen und dich im Coffeeshop treffen, bevor du nach Hause oder ins Kino gehst. Das ist das soziale Umfeld der zweitbeliebtesten Droge der Welt. Wenn ich meinen Joint haben möchte, gehe ich zu meinem Lieblings-Coffeeshop in Amsterdam.
Es braucht ein Netzwerk verschiedener Arten von Coffeeshops im ganzen Land. Auch in Holland gibt es Coffeeshops für die Mittelklasse, Coffeeshops für die türkische Bevölkerung. Es gibt schwule und lesbische Coffeeshops, Touristen-Coffeeshops, Coffeeshops mit vielen amerikanischen Einflüssen. Es gibt sogar einen speziellen Coffeeshop für die Fußballfans von Ajax Amsterdam. Das ist ähnlich wie Kneipen, es braucht einen Lieblingsplatz, um sich mit Freund:innen zu treffen!

Was habt ihr zum Beispiel mit Heroin gemacht?

Es gibt keine Junkies mehr auf den Straßen von Amsterdam und in Holland, weil wir vor 20 Jahren mit der ärztlichen Verschreibung von Heroin begonnen haben. Wir haben Heroin auch vollständig aus dem Justizsystem genommen und es in die medizinische Welt verlegt. Dort wird es kontrolliert.
Also bin ich überzeugt, dass man für jede Droge etwas organisieren kann. Ein Krieg gegen Drogen, der für fast alle Länder auf dieser Welt Realität ist, hat immer nur Verlierer.
Als ich Anfang der 1980er Jahre sah, dass unter den intravenösen Heroinbenutzer:innen viele Hepatitiserkrankungen auftraten, starteten wir ein Nadelaustauschprogramm.
Im Zuge der AIDS/HIV-Krise haben wir mehr als eine Million Nadeln in einem Jahr gewechselt. Dadurch gibt es die Spritzen auch nicht mehr vor dem Kindergarten und auf den Straßen. Das war ein wirklich großer Erfolg im Kampf gegen HIV/AIDS und Hepatitis. In Holland beträgt die HIV/AIDS-Rate unter den intravenösen Heroinbenutzern nur 1-2 Prozent. In Russland sind es hingegen etwa 85 Prozent der Benutzer:innen. Das ist ein weiteres Beispiel für das, was ich mit pragmatischem Ansatz meine.

Einige Dinge für die Zukunft?

Wir müssen das Wort „Drogen“ ganz abschaffen. Sobald das Wort auftaucht, entstehen Ängste. Ich denke man sollte stattdessen über psychoaktive Substanzen sprechen, die Teil der Gesellschaft sind, weil die Menschen sie gerne konsumieren. Das Wort „Droge“ lässt keinen Raum, es gibt so viele verschiedene Arten von Drogen.
Hört auf mit den ekelhaften Bildern und Texten auf den Zigarettenpackungen, dass sie gefährlich sind, du stirbst und deine Lungen sind schwarz und so weiter. Kommt schon. Es ist eine psychoaktive Substanz. Die Leute rauchen gerne Tabak. Also bringt es in einen speziellen Laden, in dem über die Vorteile und Risiken von Tabak gesprochen werden kann. Komm nicht mit all diesem Wahnsinn vom Sterben und Tod, denn das ist das Gegenteil einer guten Lösung für unsere Situation.
Es geht bei psychoaktiven Substanzen um Glück. Jedes Glück hat seine eigenen Risiken. Und wir müssen das beobachten und das Risiko minimieren. Das erreicht man weder mit dem moralisierenden Zeigefinger noch mit einem Krieg gegen Drogen.