MALMOE

„Silence is Violence“?

Ästhetisierte Sprachlosigkeit

Binarität statt Spektrum

Keine 24 Stunden nach dem terroristischen Überfall der Hamas am 7. Oktober hatte eine größtenteils über das Internet miteinander verbundene Melange aus Aktivist:innen und sich als politisch verstehende Künstler:innen ihre Programmatik durchdekliniert: „If someone stole your house and murdered your family, what would you do?“ und „Do you hope for an ideal resolution in the future? Or do you recognize the material conditions that mould the current reality” sind zwei Beispiele einer ästhetisierten Copy-Paste-Identitätspolitik, die sich bereits auf der documenta15 anbahnte und die nun als rhetorisches Bollwerk gegen jede Kritik des Manichäismus von Unterdrückenden und Unterdrückten in Stellung gebracht wird. Hierbei erscheint es irrelevant, ob die Kritik von konservativen oder progressiven Stimmen formuliert wird. Die Slogans, einem der unzähligen Info-Slides auf Instagram entnommen, pressten nach dem Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung kurzerhand den Nahost-Konflikt in ein von jeder Widersprüchlichkeit bereinigtes schwarz-weiß Schema ein. Der Hinweis auf material conditions leitet keinen Prozess ein, in dem diese erkannt werden sollen. Sie werden stattdessen als dualer Antagonismus vorausgesetzt, der unter einem überhistorisch gefassten Begriff des Imperialismus erstarrt ist. Die undifferenzierte Identifikation mit allen Pälestinänser:innen als vermeintlich Unterdrückten, die es zulässt, die Taten der Hamas als historisch notwendig gewordene Form des Widerstands gegen den „Ethno-State“ Israel zu deklarieren, beruht auf der falschen Unmittelbarkeit eines binären Denkens: Es gliedert die zunehmend in Aporien erfahrenen Verhältnisse in einfache Gegensätze und mündet in der mediatisierten Mitteilungswut, Gut und Böse, Ausgebeutete und Ausbeuter, Unten und Oben, Opfer und Täter:innen als ausschließliche Analyseschablonen zuzulassen.
Die online Vernetzten wissen, dass sie gegen den auf Kolonialismus und Imperialismus reduzierten Kapitalismus sind, ohne sagen zu können, was das eigentlich ist. Alle wähnen sich per Herz-Like solidarisch, ohne die Schwierigkeit der Solidarität in anti-solidarischen Verhältnissen zu erkennen. Alle wähnen sich auf der richtigen Seite, denn der Gegensatz kennt keine Aporie. Die Frage „if someone stole your house and murdered your family, what would you do?” unterstellt als einzige Antwort: Ja! Und damit die Affirmation einer Gewalt, die als Reaktion gedeutet wird, nicht aber als Aktion. Das Denken in Gegensätzen drückt sich durch das reflexhafte Handeln im Namen derer aus, die durch diesen Gestus als „Unterdrückte“ entmündigt wurden. Der Akt des Tötens von Zivilist:innen wird qua der David gegen Goliath Metapher, in dem die Hamas zum Unterlegenen erklärt wird, automatisch von den Mitteln des Tötens, in denen sich ihre wahnhafte Mission spiegelt, abstrahiert. Die Toten in Israel und in Gaza werden – entgegen der Social Media Parolen – nicht vor der Entmenschlichung bewahrt, sondern auf beiden Seiten in Gestalt von Balkendiagrammen und Bezifferung erst recht zu abstraktem Menschenmaterial. Terrorismus und Share-Button werden zu Widerstand. Amok zum antiimperialistischen Befreiungskampf. Dagegen wird der Versuch, der Ohnmacht, Überforderung und Trauer im Angesicht der Gewalt in Israel und in Gaza, die weit über das Fassungs- und Einfühlungsvermögen der Einzelnen hinausgeht, Raum zu geben, sie zu benennen und als Ausgangspunkt einer Kritik zu begreifen, paradoxerweise selbst als gewaltvoller Akt verstanden, denn „Silence is violence”.

Speerspitze der Sprachlosigkeit

Die Ära des offenen Kunstwerks scheint vorbei. Das Denken des Gegensatzes von Aggressor und Opfer reproduziert sich in einer Kunst, die ihren Gehalt ausschließlich unter dem Primat des Inhalts festschreibt und sich im Künstler:innensubjekt, das deckungsgleich mit seiner politischen Identität zu sein hat, verdoppelt. Komplementiert wird diese Identität durch eine permanente Online-Offensive. Ausschließlich positive, von außen an das Kunstwerk, respektive den/die Künstler:in herangetragene Setzungen haben in der Welt der Künstler-Aktivist:innen inhaltliche Bedeutung. Gegenüber der als undurchdringbar erscheinenden neoliberalen Ordnung werden Chancen des widerständigen Mitmachens in den überall zu führenden „Kämpfen“ erhofft. Die erlebten und ertragenen Unterdrückungsformen selbst sollen es sein, die die Form des Kunstwerks vorgeben und legitimieren, nicht die ästhetische Übersetzungsleistung oder das Scheitern an einer einfachen Antwort. Hand (beziehungsweise Daumen) anlegen ist angesagt, denn die Ohnmacht muss abgespalten werden. Doch verdoppelt sich in diesem Aktionismus die Zurichtung eines Subjekts, das der Angst vor Unverwertbarkeit durchs Mitmachen zu entkommen versucht. Die mediatisierte, nur aus der Ferne proklamierbare Solidarität mit Kämpfen, die Schwierigkeit einer unmittelbar zu verwirklichenden Handlungsmacht innerhalb des Ablaufs des Bestehenden, muss durch eine Moralisierung und Politisierung eingeholt werden, in deren Gestus sich das eigene Selbst wenigstens an der Handytastatur als radikal darstellen kann. So wenig radikal aber das Einpressen des Theorie-Kanons der Insta-Slides und Uni-Seminare ins Kunstwerk ist, so wenig ist es diese Form der Ästhetisierung des Selbst. Im Gegenteil: Diese Totalität der Einfühlung, die auf Grundlage gemeinsamer Diskriminierungserfahrungen konstruiert werden soll, produziert lediglich ästhetische und mediale Echokammern. Sie bezeugt das Ende der Ambiguität in der Kunst zugunsten eines aktivistisch wirksam geglaubten Realismus und damit auch das Ende der Politik in der Kunst. Der Dauerlauf der Künstler-Aktivist:innen durch alle sozialen Medien und ihre Parolen sind Ausdruck der wiedergekäuten (und schlecht verdauten) theoretischen Versatzstücke. Darin sind sie Spielart einer imaginierten Form von Subjektivität: die der unterdrückten, doch widerständigen Künstler:innen , die nicht länger die Wirkungslosigkeit ihrer aktivistischen Kunst ertragen müssen.
Doch widerspricht die Ästhetisierung des Selbst als künstlerische Praxis nicht nur nicht dem Imperativ der Konkurrenz. Sie übersetzt die Prekarität des sich aus dem Wettbewerb um Ausstellungen, Stipendien und Residencies ergebenden Elends, das die Einzelnen täglich erfahren, in die Sehnsucht nach Identität. Damit sind die Künstler-Aktivist:innen traurige Vorreiter:innen von Prozessen, die sich durch jede:n Einzelne:n in der Gesellschaft reproduzieren. So wenig in den Anpassungsleistungen an die Logik der Konkurrenz ein Widerspruch gegen diese Prozesse möglich ist, so wenig kann das Glück des Kunstwerks darin liegen, mit den Künstler:innen analog und in deren Schnitzeljagd nach Widerständigkeit in den Dienst genommen zu werden.