MALMOE

Können InfluencerInnen 
auch flanieren?

Über die VermittlerInnen des „guten“ Geschmacks

Eine kulturpessimistische Perspektive mündet in der These: Es gibt keinen „guten“ Geschmack. In einer Gesellschaft, die kapitalistisch verwertet und rassistisch und klassistisch Ordnungen durchsetzt, ist Geschmack nur ein Instrument der Machterhaltung. Geschmackvoll ist, was bestimmte Gruppen als Geschmack festlegen. Was kann Geschmack als Kategorie, wenn alles eine Frage der Analysen von Macht ist? Gilt es, den Begriff aufzugeben?
Die Art der Vermittlung von Geschmack zwischen Individuum und Gesellschaft verrät viel darüber, was im „guten“ Geschmack verhandelt wird. Gesellschaften bringen über zeitliche und regionale Kontexte immer wieder Figuren hervor, die als GatekeeperInnen und ÜbersetzerInnen des „guten“ Geschmacks gelten. Ihre ökonomische Position — oft ein Mix aus freier Zeit und ökonomischen Ressourcen — ist dabei nicht wegzudenken.

InfluencerIn

Heute leben InfluencerInnen den „guten“ Geschmack massenwirksam vor. Ob Produkte oder Lifestyle, sie besetzen eine hybride Position zwischen WerbetexterIn, Model, MarkenbotschafterIn und KonsumkritikerIn. Letzteres mache ich stark gegen bürgerliche Stimmen, die nur im Feuilleton kritische Auseinandersetzung mit Konsum und Kunst sehen. Es ist falsch zu glauben, dass nur der bürgerliche Kanon legitim wäre und frei sei von ökonomischen Zwängen. InfluencerInnen sind wenig überraschend ebenso wie alle anderen KulturkritikerInnen in ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse eingebettet. Im Gegensatz zu anderen verkörpern InfluencerInnen aber einerseits eine Demokratisierung, weil sie die ehemalige Gatekeeper-Position der FeuilletonistInnen aufgebrochen haben. Andererseits werden sie von Unternehmen beauftragt. Ihre Verträge mit einer Marke laufen oft über Jahre, wobei sie in der konkreten Bewerbung der Produkte größtmögliche Freiheiten genießen. Dadurch wirkt die verrichtete Arbeit progressiv. Dabei werden InfluencerInnen jedoch stärker ans Produkt gebunden als etwa FeuilletonistInnen.
In InfluencerInnen zeigt sich aber noch eine weitere zentrale Verschiebung von Geschmack: InfluencerInnen sind nicht nur WerbebotschafterInnen und VermittlerInnen einer gewissen Ästhetik oder KulturkritikerInnen, sondern werden selbst zum Produkt. Anstatt durch sie zu genießen, „genieße“ ich sie selbst. Ich genieße, dass sie (vermeintlich) geschmackvoll leben. In ihnen materialisiert sich die Engführung von Genuss auf Werbung. Anders gesagt: InfluencerInnen sind nicht auf Werbung angewiesen, um andere Inhalte zu teilen. Eine Gesellschaft konsumiert den Inhalt von InfluencerInnen, weil sie Werbung sind.
Fraglich bleibt, ob hier noch von „gutem“ Geschmack die Rede sein kann. Es scheint viel mehr, dass der Kapitalismus Bedürfnisse produziert, als lediglich die Bedingungen dafür zu stellen.

Flaneur

Walter Benjamin (1892-1940) sieht im Flaneur eine Instanz für die Vermittlung des „guten“ Geschmacks. Ich bleibe hier beim männlichen Artikel, um näher bei Benjamin zu bleiben, wohl wissend, dass es immer schon weibliche, transsexuelle und nicht-binäre Flaneusen gab.
Vorweg interessierte sich Benjamin nicht für den Flaneur, um ihn historisch darzustellen. In seinem Passagenwerk interessiert er sich für Figuren, die im Begriff sind zu verschwinden oder sich radikal zu verändern. Über ihre Transformation will er den Kapitalismus seiner Zeit besser verstehen. Anders gesagt: Es geht ihm um keine „authentische“ Wiedergabe des Flaneurs. Für ihn spiegelt dieser Charakter etwas wider, was gesellschaftlich sonst schwer zu fassen ist.
Benjamin siedelt den Flaneur am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert als Teil der Bourgeoisie in Paris an. Die Stadt ist wie andere Metropolen im Umbruch: Reklame, Presse, Verkehr, Armut und dichter zusammengedrängte Massen von Menschen verändern die Wahrnehmung in der Stadt. Der Flaneur spiegelt diese gesellschaftliche Transformationen. Er ist von der beschleunigten kapitalistischen Verwertungslogik überflutet und kämpft mit einer veränderten psychischen Struktur: Reizüberflutung, emotionale Abstumpfung und Distanzierung sowie dem Gefühl, nichts mehr wirklich erfahren zu können. Affirmativ wird dieser Mangel von der Bohème durch kurzweilige Erlebnisse wie oberflächliche Unterhaltung gesättigt.
Auch der Massenkonsum macht keinen Halt vor dem Flaneur. Während er vormals noch als außenstehender Beobachter des Konsums galt, als umher streunender Müßiggänger, steht nun eben dieses „zweckfreie Spazieren“ am Übergang zur Warenform. Benjamin situiert den Flaneur in den Arkaden, einem Ort halb drinnen, halb draußen, halb Traumwelt, halb Kaufhaus. Seine spezifischen Eigenschaften bilden die „Schwelle“ seiner Funktion im Kapitalismus. Eine gesteigerte Nachfrage nach Information bringt den Flaneur in die Position, seine Beobachtungen zu verkaufen; moderne FeuilletonistInnen und KulturkritikerInnen sind geboren. Ihre „kritischen“ Beobachtungen sind gleichzeitig Teil einer Industrie, die sich durch Selbstverwertung auszeichnet und damit stetig erneuern muss.

Auswege aus dem Kulturpessimismus?

Also weg mit der Idee des „guten“ Geschmacks? Ist dann alles gleich (gut) eingeebnet? Benjamin deutet im Flaneur eine Perspektiven an, die den „guten“ Geschmack zumindest teilweise aufbewahren will. Der Flaneur ist seiner Konstruktion nach eine politische Figur. Auf seinen Spaziergängen findet der Flaneur Spuren einer unterdrückten Vergangenheit. Plätze und Straßennamen werden ihm zum Ausgangspunkt kritischer Überlegungen. Er versucht zu rekonstruieren, wie eine kollektive Geschichte seine Gegenwart formt und deren ideologische Verzerrungen aufdeckt. Vielleicht ist „guter“ Geschmack irgendwo hier angesiedelt: zwischen Reflexion und Erfahrung; Individualität und Kollektivität.

LeserInnen, die darüber mehr wissen wollen, sei die 2019 im Verbrecher Verlag erschienene Anthologie Flexen. Flâneusen* schreiben Städte wärmstens empfohlen.