MALMOE

Kulinarische Ikone 
im Widerstand

Warum die Teigtasche zum Symbol des Widerstands der UkrainerInnen im Exil wurde

In keiner anderen Facette einer Kultur offenbart sich deren Essenz so eindrucksvoll wie in der Küche. In den Ländern des östlichen Europas, der ehemaligen Sowjetunion und anderen, historisch eher sozialistisch geprägten Regionen, bleibt die Tradition familiärer Mahlzeiten und hausgemachter Speisen nach wie vor hochgeschätzt. Verarbeitungsmethoden wie Gärung, Säuerung und Räucherung sind fester Bestandteil des Alltags vieler Haushalte. Auf jedem Markt werden hausgemachte Delikatessen wie eingelegte Gurken, Sauerkraut, getrocknetes und geräuchertes Fleisch und Fisch, selbstgemachter Hüttenkäse sowie lokale Kräuter angeboten.
Ungeachtet der Vielfalt an Lebensmitteln und Zubereitungsweisen sind die kleinsten gemeinsamen Nenner in der Regel einfache und unscheinbare Zutaten wie Kohl, Kartoffeln und Mehl. Aus diesen Grundnahrungsmitteln entstehen zahlreiche Gerichte, wobei eine kulinarische Galionsfigur herausragt: die Teigtasche. Ein Rezept findet sich auf der Rückseite des Magazins.

Who runs the World? Teigtaschen!

Die Teigtasche ist eine bedeutende Konstante der globalen Kochkunst und hat sich als fester Bestandteil der kulinarischen Geschichte in nahezu jeder Region der Welt etabliert. Während Teigtaschen aus Italien und China im Rampenlicht stehen, bleiben andere, insbesondere die aus Osteuropa, oft im Schatten.
Trotz ihrer geringen Popularität ist die Bandbreite an “östlichen” Teigtaschen herausragend. Mit Fleisch gefüllt sind sie als Pelmeni bekannt und haben ihre historischen Wurzeln in Sibirien. Die vegetarische Variante heißt Wareniki und ist neben Borscht eine Ikone der ukrainischen Küche. Wareniki sehen aus wie kleine Halbmonde und werden mit Quark, Kartoffeln, Sauerkraut oder sogar Kirschen gefüllt. Ähnlich den italienischen Ravioli oder den polnischen Pierogi verkörpern Wareniki eine Tradition, die von Kämpfen um Macht und Deutungshoheit geprägt ist.
Besonders in Kriegszeiten gewinnt die kulturelle Bedeutung des Essens und besonders der Teigtasche für die Menschen in und außerhalb der Ukraine zusätzliche Relevanz und wird zu einem Symbol der Stärke der Menschen dieses Landes.

Aktivismus aus dem Kochtopf

Die ukrainische Küchenchefin Olia Hercules und ihre Freundin, die russische Köchin Alissa Timoshkina, haben die Medieninitiative #CookForUkraine ins Leben gerufen. Sie ermutigen Unternehmen und Privatpersonen dazu, ukrainische Gerichte zuzubereiten und diese in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #CookForUkraine zu teilen. Die gesammelten Erlöse leitet die Initiative an KooperationspartnerInnen weiter. Mit dem Geld werden Geflüchtete unterstützen aber auch den Menschen vor Ort mit Medikamenten, Generatoren und Lebensmitteln geholfen, sowie Wärmebild-Drohnen, medizinische Ausrüstung und Fahrzeuge für die FrontkämpferInnen finanziert.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die AktivistInnen der Website ukrainischbrot.at. Im Ringen um Deutungs- und Geltungsmacht wird das „russische“ Brot kurzerhand zum ukrainischen Brot umgedeutet. Auf der Plattform gibt es eine Spendenaktion für die Ukrainische Samstagsschule Wien und ein Rezept für das ABC-Gebäck samt Backvorlagen in Form eines ukrainisch-kyrillischen Alphabets. Damit hat man alles zur Hand, um eine eigene Friedensbotschaft zu backen und diese anschließend in den sozialen Medien zu teilen.
Beide Projekte wollen nicht nur zur Solidarität aufrufen, sondern auch das Bewusstsein für die ukrainische Kultur stärken, indem sie traditionelle ukrainische Backwaren und Gerichte populär machen. Denn der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg, in dem es nicht lediglich um die Eroberung von Gebieten geht, sondern um die Deutungshoheit über Gedanken und Ideen mit dem Ziel, die kulturelle Identität der UkrainerInnen auszulöschen.
Auch die Berliner Initiative Monday Kitchen entstand als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine. Eine Handvoll Menschen aus der ukrainischen Community begann an Montagen regelmäßige Kochtreffen zu veranstalten, bei denen Geflüchtete aus der Ukraine und UnterstützerInnen zusammenkamen. Diese Treffen boten nicht nur die Gelegenheit, Comfort Food wie Wareniki und Borschtsch zuzubereiten, sondern ermöglichten auch den Austausch mit Menschen, die ähnliche Ängste und Nöte hatten. Von Anfang an standen aber nicht die Sorgen im Vordergrund, sondern die gelebte Solidarität in einem Safe Space.
Monday Kitchen entwickelt sich schnell zu einem Ort, an dem Menschen mit und ohne Fluchterfahrung aufeinandertreffen, um einen fröhlichen Abend zu verbringen, Wareniki zu kochen und mit einer positiven Erinnerung nach Hause zu gehen. Durch die Reichweite in den sozialen Medien und auf Telegram verwandelt sich der geschützte Raum des gemeinsamen Kochens und Essens zu einer Plattform für zeitgenössische ukrainische Kultur. Die MacherInnen von Monday Kitchen nutzen jetzt ihre Präsenz, um die Ukraine in Berlin nicht nur über Essen bekannt zu machen, sondern organisieren auch Musikveranstaltungen, Kunstausstellungen und Vorträge.

Wareniki: Zeichen des Widerstands und der ungebrochenen Identität

Inmitten des Krieges ist das Kochen ein zentraler Akt des gemeinsamen Handelns, denn der Krieg wird auch auf den Tellern ausgetragen. Aktionen wie #CookForUkraine, Ukrainischbrot oder Monday Kitchen schärfen das Bewusstsein für die Situation der Betroffenen und wirken als Appell, nicht aus den Augen zu verlieren, worum es bei dem Krieg für die Betroffenen geht: den Fortbestand ihres Landes, ihrer Geschichte und Kultur. Das gemeinsame Kochen hat eine symbolische Bedeutung, letztlich geht es um das kulturelle Erbe und die politisch-nationale Selbstbestimmung. Gleichzeitig sind diese Projekte Räume der kollektiven Trauma-Bewältigung. Es geht nicht nur darum, gemeinsam zu kochen, sondern auch darum, einen Ort des Austauschs zu schaffen, an dem Menschen zusammenkommen können, deren Zuhause zerstört wurde.
Wareniki sind somit nicht nur ein nationales Gericht, sondern auch ein essentielles Stück ukrainischen Kulturguts. Ihre Verbreitung in andere Länder und Räume, besonders im Krieg, macht sie zu BotschafterInnen der ukrainischen Kultur und Symbolen politischer Selbstbestimmung im Exil.