MALMOE

Warum Normen allein nicht reichen

Sinn für Angemessenheit und Rechtsgefühl in rechtsästhetischer Perspektive

Es ist an der Zeit, dass sich auch die Rechtswissenschaft von einer allzu starren Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl, von Subjektivität und Objektivität verabschiedet. Das braucht den Grundsatz der Unparteilichkeit nicht zu berühren, mehr noch, die Unabhängigkeit verlangt sogar die genuin eigenständige Anwendung des Rechts, die sich auf das Rechtsgefühl stutzen muss.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Annahme, dass neben Motiven, Handlungen, Sachverhalten und Urteilen auch die Wahrnehmung von Situationen unmittelbar für Recht und Moral von Belang ist. Um normative Urteile überhaupt fallen und ihnen gemäß handeln zu können, muss zunächst einmal die entsprechende Situation als normativ relevant wahrgenommen werden. Reicht dafür die sinnlich-kognitive Wahrnehmung aus? Oder ist für das Erfassen des Ganzen der Situation ein für Wertungen empfängliches Vermögen erforderlich? Es sind Gefühle, die anzeigen, was für uns wertvoll und wichtig ist. Für diese These hat bereits die ältere Philosophie der Gefühle vor etwa hundert Jahren argumentiert – so die frühe Phänomenologie, aber auch Martin Heidegger in Sein und Zeit –, und die neuere interdisziplinäre Emotionsforschung hat sie eindrucksvoll empirisch belegt. Wir alle erschließen Situationen mit Gefühlen, und wir erfassen auch die normativen Gehalte von Situationen primär durch Gefühle. Gesteht man Gefühlen eine derart zentrale Rolle für die alltägliche Orientierung zu, so können sie nicht mehr in dichotomer Weise der Vernunft entgegengesetzt werden. Die Strukturiertheit von Emotionen – zum Beispiel dass sie auf einen bestimmten Gegenstand bezogen sind – ist ein Grund neben anderen, ihnen Rationalität zuzuschreiben oder sie doch zumindest für rational zugänglich zu halten. […]
Sowohl das verfasste Recht als auch die Rechtsprechung setzen eine Fähigkeit voraus, die hier als „Sinn für Angemessenheit“ oder „Sinn für Verhältnismäßigkeit“ bezeichnet wird. In seiner speziellen Ausprägung im Recht heißt er „Rechtsgefühl“. Das Rechtsgefühl ist der Begründung und Beurteilung einzelner Normen übergeordnet, insofern es darum geht, deren Stimmigkeit untereinander und ihre Passung zur jeweiligen Situation zu überprüfen. Es ist unverzichtbar für die Wahrnehmung rechtlich relevanter Situationen und die Fähigkeit, normative Urteile zu treffen. Neben Motiven, Handlungen, Sachverhalten und Urteilen spielt auch die angemessene Wahrnehmung von Situationen eine direkte Rolle für Recht und Moral. Das dafür erforderliche Vermögen kann in den Gefühlen identifiziert werden. Nur durch Gefühle ist es möglich, Wertungen vorzunehmen, nur durch sie kann überhaupt bemerkt werden, dass eine Situation Ansprüche normativer Art an uns stellt. Die These von der emotionalen Natur des Sinns für Angemessenheit lässt sich durch die Skizzierung einiger Stationen der Begriffsgeschichte des „sensus communis“ untermauern. […]
Vorstellungen über Angemessenheit spielen in vielen Bereichen eine Rolle, auch im Recht. Hier gilt Angemessenheit als eines der Kriterien für Verhältnismäßigkeit. So wird eine staatliche Maßnahme dann als „verhältnismäßig“ bezeichnet, wenn ihr Nutzen im Verhältnis zur herbeigeführten Beeinträchtigung steht und in diesem Sinne angemessen und für die Betroffenen zumutbar ist. In den Begriffen „Angemessenheit“ und „Verhältnismäßigkeit“ stecken Ableitungen von „Maß“ und „Messen“, aber in beiden Fällen ist ziemlich unklar, woran Maß oder Messen orientiert sind, denn es liegt auf der Hand, dass es sich nicht um Messvorgänge in einem physikalisch-mathematischen Sinn handeln kann. Maßgenommen wird in diesen Fällen aber auch nicht an Normen, denn da, wo auf „Angemessenheit“ oder auf „Verhältnismäßigkeit“ rekurriert wird, stehen gerade keine eindeutig anwendbaren Normen zur Verfügung, unter die das Handeln zu subsumieren wäre. Auch wenn Verhältnismäßigkeit ein Rechtsprinzip ist, so sind die richtigen Proportionen, die sie verlangt, doch immer Sache von Auslegung und Abwägung. Ich spreche im Folgenden von „Angemessenheit“, weil dieser Begriff weiter ist als der der Verhältnismäßigkeit und nicht nur in der Rechtswissenschaft in einer relevanten Tradition steht; er passt für außer-rechtliche Kontexte besser. […]
Nicht zuletzt ist natürlich auch das Rechtsgefühl ein Speziallfall des Sinns für Angemessenheit. Ich interpretiere diesen Begriff, der in einer sehr deutschen Tradition steht, etwas anders als das Gerechtigkeitsgefühl. Das Rechtsgefühl bezieht sich speziell auf das gesetzte Recht und kann somit auch rechtliche Fragen abseits von Gerechtigkeitserwägungen betreffen. Beispielsweise die Frage, ob eine Regel zu einem bestimmten Regelwerk „passt“ oder nicht. Der Begriff „Rechtsgefühl“ kann in seinem Anwendungsbereich sowohl weiter sein (wenn er sich nicht nur auf Gerechtigkeitsfragen, sondern auf das gesamte Recht bezieht) als auch spezifischer (oder enger anwendbar) als das Gerechtigkeitsgefühl. Letzteres könnte sich beispielsweise auch auf Gerechtigkeitserwägungen zwischen Freund_innen beziehen, die diesseits rechtlicher Regelung angesiedelt sind; hier ließe sich nicht sinnvoll von „Rechtsgefühl“ sprechen. Wie Gerechtigkeitsgefühl, so kann auch Rechtsgefühl prinzipiell sowohl von Laien als auch Expert_innen ausgebildet werden; der Wortgebrauch ist allerdings nicht in allen Kontexten gleich. Eindeutig auf Expert_innen bezogen ist der sensus juridicus oder auch das Judiz, das ein spezifisch juristische Urteilsvermögen bezeichnet, etwa das speziell ausgebildete Rechtsempfinden und die Urteilskraft der Richter_in. Judiz lässt sich als Fähigkeit beschreiben, einen Rechtsfall intuitiv zu bewerten. Damit wird auch in der Rechtswissenschaft, deren Aufgabe im Wesentlichen im Differenzieren, Erläutern, Reflektieren und Anwenden von Rechtsprinzipien besteht, einem Vermögen Rechnung getragen, das gerade nicht in der starren Anwendung von Paragraphen und ihrer richtigen Deduktion besteht, sondern auf einem Gespür für die Gesamtsituation des Rechts beziehungsweise für das rechtliche Umfeld eines Einzelfalles beruht, für die Besonderheit der möglichen Verstöße und Komplikationen, von Schuld und Strafen. Judiz wäre damit eine Form des Rechtsgefühls. […]
Der Ausdruck „Rechtsgefühl“ bezeichnet jene Fähigkeit, die notwendig ist, um Vorstellungen von Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit ausbilden zu können: „Angemessen“ und „verhältnismäßig“ im Recht ist das, was der Gesamtheit der Sachverhalte, Programme und Probleme einer bestimmten Rechtssituation Rechnung trägt und also eines auf das Ganze bezogenen Vermögens bedarf; dieses Ganze muss umfassender wahrgenommen werden als bloß als Summe einzelner Sachverhalte und Rechtsnormen. Das Rechtsgefühl ist die Fähigkeit, eine Gesamtsituation mit ihren normativen Gehalten wahrzunehmen; sie zeigt sich in der gekonnten Ausübung, nämlich darin, das Spezifische einer rechtsrelevanten Situation zu erkennen, das erst in einem zweiten Schritt auf allgemeine Prinzipien bezogen werden kann. Das Rechtsgefühl dient also nicht nur der nachträglichen Korrektur von Rechtsanwendungen mit Hilfe von Gerechtigkeits- und Angemessenheitserwägungen, sondern ist ihnen vorgeordnet. […]
Will man den Gedanken motivieren, dass das Recht durch einen Sinn für Angemessenheit zur Anwendung gebracht und austariert wird, und zwar unabhängig davon, ob die Rechtsauslegenden selbst das so verstehen oder nicht, und will man außerdem die These stutzen, dass das besagte Vermögen (auch) emotionaler Natur ist, so erscheint ein Blick in die Begriffsgeschichte von „Angemessenheit“ aufschlussreich. Zwar sind die Namen für „Sinne“ (im übertragenen Sinne) oder Fähigkeiten wie „Sinn für Angemessenheit“, „Gerechtigkeitssinn“ oder „moralischer Sinn“ vergleichsweise neueren Datums; sie finden sich erst seit etwa 1800 in Texten. Dennoch entstehen sie nicht aus dem Nichts, sondern sind in weiter zurückliegende Traditionen eingebettet, die auch heute noch anschlussfähig sind. Die älteste Quelle für Diskurse über Angemessenheit ist zugleich die wirkmächtigste: die Tradition der Rhetorik von der Antike bis zur Gegenwart. Aristoteles entfaltet in seinem gleichnamigen Werk die bis ins 21. Jahrhundert reichende Vorstellung von der Angemessenheit als einem Stilprinzip der Rede (prepon), zugleich aber auch seine wirkmächtige Emotionstheorie. Die rhetorische Tradition ist von vornherein mit Affektenlehren verbunden, die bis weit ins 18. Jahrhundert philosophisch lebendig sind. Der wesentliche Bezugspunkt für Angemessenheit ist in der Rhetorik stets die Situation. Was als angemessen anzusehen ist, muss dabei ausdrücklich von Fall zu Fall verschieden beantwortet werden. Damit ist Angemessenheit, wie erwähnt, im Unterschied zu Normen gerade nicht als situationsübergreifend zu verstehen, auch wenn sich manche Vorstellungen von Angemessenheit zu einer weiter reichenden normativen Geltung verfestigen können. Im Kern gilt das Angemessene ausdrücklich nicht als reguliert: hier gibt es nach Quintilian kein festes Maß; stattdessen kommt es auf „das Fingerspitzengefühl“ an.[…]
Andererseits ist das Angemessene aber auch das, was sich als Teil nahtlos in ein gegebenes Ganzes ohne Reibung einfügt. Dies ist eher ein mechanisches Bild; man könnte sagen, es beschreibt eine Art „Einrasten“: Ein bestimmtes Verhalten fügt sich genau dann als „angemessen“ in eine Situation ein, wenn es sich nahtlos mit kritischen Elementen der Situation verbindet und sie so zu einer neuen, harmonischeren Ganzheit gestaltet. […]
Die enge Beziehung von ästhetisch-sinnlicher Bedeutung und sozialem Sinn teilt die aptum-Tradition mit der in sich äußerst vielschichtigen und nuancenreichen Begriffsgeschichte des sensus communis. Sie beginnt mit Aristoteles’ koinon aisthētērion und hat zunächst eine ganz andere Bedeutung als der deutsche Ausdruck „Gemeinsinn“: Bei Aristoteles ist ein gemeinsames Sensorium der Einzelsinne angesprochen, das die einzelsinnliche Wahrnehmung zu einem Ganzen bündelt; es ermöglicht etwa die Identifizierung des Gesehenen mit dem Ertasteten. Diese Bedeutung kommt auch noch bei Descartes vor. In der Nachfolge von Aristoteles wird der sensus communis aber immer mehr im Sinne von gemeinschaftlichen Überzeugungen als Grundlage des Erkennens verstanden; er geht im 18. Jh. in common sense über – ein Aspekt, der die moral sense-Philosophie beeinflusst und auch Kants Verständnis des sensus communis bestimmt. […]
Besonders aufschlussreich für Überlegungen zu Angemessenheit ist Immanuel Kants Konzeption des Geschmacks, in der die ästhetische Dimension der Angemessenheit mit der sozialen verknüpft ist. Geschmack ist, so schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft, „das Vermögen der Beurteilung des Schönen“, genauer geht es Kant um die Fähigkeit, „durch eine mit der Vorstellung der Form eines Gegenstandes, ohne Beziehung auf einen Begriff, unmittelbar verbundene Lust allgemeingültig zu urteilen“. Diese schwierige Bestimmung des Geschmacks kann hier nicht in Kants einzelnen Begründungsschritten nachvollzogen werden; wichtig ist nur, dass Kant betont, beim Urteil über das Schöne gäbe es keine Beziehung zum Begriff. Auch bei Kants Begriff des Geschmacks findet sich also nichts, was mit begrifflich artikulierbaren Prinzipien oder Normen in Verbindung gebracht werden könnte. Dennoch nennt Kant das Urteil „allgemeingültig“, weil es, so Kants Formulierung, allen „angesonnen“ wird. Aber auch dabei geht es um das Spezifische der Gestalt des schönen Gegenstandes, die nach Kant potentiell alle gleichermaßen wahrnehmen. In dieser hypothetisch von allen geteilten Sicht liegt das Allgemeine beim Schönen. Hierbei handelt es sich erneut um eine allgemeine Adressierung, die ich als Kriterium für jegliche Formen von Normativität benenne, ohne dabei auf artikulierbare Prinzipien Bezug zu nehmen. Auch das Urteil über das Schöne im Kantischen Sinn lässt sich also dem allgemeineren Sinn für Angemessenheit subsumieren.
Bourdieu‘s sens pratique kann als letzter Bezugspunkt genannt werden, der die beiden Traditionslinien, nämlich die moral sense-Philosophie und die sensus communis-Tradition, miteinander verbindet. Bei Bourdieus „praktischem Sinn“ handelt es sich um ein habitualisiertes, verkörpertes Wissen um die Art, wie man sich zu bewegen und zu verhalten hat; dieser Sinn ermöglicht Orientierung, ohne dass auf explizites Wissen zurückgegriffen werden musste. Er gehört zum sozialen Habitus, womit das Spezifische eines Milieus angesprochen ist, und bezeichnet ein intuitives soziales Gespür für das, was in einer Situation angemessen ist. Hier wird die Verwandtschaft zum Rechtsgefühl deutlich: Dieses ist ein am Umgang mit dem Recht geschultes, aber zugleich intuitives Gespür für das, was eine rechtliche Situation verlangt. Ebenso, wie im Recht in solchen Fällen keine Normen zur Verfügung stehen, so ermöglicht auch Bourdieus sens pratique zu handeln comme il faut, ohne dass jemand eine Verhaltensregel formulieren musste – und oft nicht einmal könnte.
Die hier nur in groben Zügen skizzierten Traditionslinien, die Angemessenheit in verschiedenen Bereichen und zum Teil unter wechselnden Bezeichnungen thematisieren, berücksichtigen nur in der moral sense-Variante explizit affektive Komponenten. Bei Kant kommt immerhin die Lust am Schönen vor, wenn auch keine (anderen) „Neigungen“ oder Gefühle. Diese Abstinenz vom Emotionalen ist interessant, weil die Spezialfälle des Sinns für Angemessenheit, die hier skizziert wurden, zumeist durch Komposita bezeichnet werden, deren letztes Glied jeweils „Gefühl“ ist. Nun bezeichnen aber die Begriffe „moralisches Gefühl“, „Taktgefühl“ und „Rechtsgefühl“ klarerweise keine distinkten Emotionen. Unter anderem deshalb ist in der Rechtswissenschaft diskutiert worden, ob man das, was in der Tradition des „Rechtsgefühls“ gemeint war, nicht besser als „Rechtsbewusstsein“ bezeichnen sollte.
In diesen Debatten bestand das Argumentationsziel zumeist darin zu zeigen, dass das Rechtsgefühl eine kognitive Kompetenz und nichts Irrationales ist. Das soll hier nicht bestritten werden, aber mein Vorhaben zielt auf einen anderen Aspekt, nämlich darauf, mit dem Bezug auf das Rechtsgefühl die Relevanz des Emotionalen für Wertungen zu unterstreichen. Es ist an der Zeit, dass sich auch die Rechtswissenschaft von einer allzu starren Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl, von Subjektivität und Objektivität verabschiedet. Das braucht den Grundsatz der Unparteilichkeit nicht zu berühren, mehr noch, die Unabhängigkeit verlangt sogar die genuin eigenständige Anwendung des Rechts, die sich auf das Rechtsgefühl stutzen muss. Aber das kann hier nur angedeutet werden. […]
Jedenfalls aber sind die Gefühle nicht per se der Vernunft entgegengesetzt; das zumindest ist in der Forschung kaum noch umstritten. Es scheint mir ziemlich eindeutig zu sein, dass das Gefühl für das Erfassen dessen, was eine Situation an normativen Ansprüchen stellt, eine gewissermaßen vorgelagerte Voraussetzung darstellt und damit auch für das Tätigwerden der Urteilskraft. Kant bestimmt die Urteilskraft als das Vermögen zu prüfen, ob ein Fall unter die Regel, im Bereich der Moral also unter das Sittengesetz, fallt oder nicht. Ihre Maxime lautet: „An der Stelle jedes anderen denken können“. Ich möchte diese Maxime folgendermaßen modifizieren: nicht nur an der Stelle jedes anderen denken, sondern auch an der Stelle jedes anderen fühlen können. Damit ist sie der Kantischen Moralphilosophie selbstverständlich diametral entgegengesetzt, da aus Kants Perspektive keinerlei sinnliche Antriebe – und dazu zählen die Gefühle – für moralisches Handeln eine Rolle spielen dürfen. Die von mir modifizierte Maxime der Urteilskraft kann als eine pointierte Formulierung desjenigen sozialen Wahrnehmens gelten, das ich als Sinn für Angemessenheit bezeichne: ein Gemeinsinn, der (neben der Ästhetik, aber das ist hier nicht Thema) Recht und Moral fundiert, oder sensus communis.
Mit der Formulierung „an der Stelle jedes anderen fühlen können“ ist selbstverständlich nicht gemeint, wir könnten die Emotion des anderen als unsere fühlen, wohl aber können wir das Gefühl anderer wahrnehmen und mit Empathie oder Sympathie auch nachempfinden. Wir nehmen die emotionale Perspektive der anderen ein, aber mit einem eigenen Gefühl, dessen „intentionaler Gehalt“, das heißt die Sache, worauf das Gefühl gerichtet ist, die Emotion des anderen ist. Das, was ich als „Sinn für Angemessenheit“ bezeichne, vollzieht aber noch einen Schritt mehr als lediglich die Empathie in bestimmte Personen, es geht über die konkreten Gefühle der einzelnen an der Situation Beteiligten hinaus. Dieser Sinn ermöglicht eine Einstimmung in die Situation, eine zumeist lediglich implizit vollzogene Zusammenschau der emotionalen Lagen der Beteiligten, idealerweise aller Beteiligten, und der Erfordernisse der Situation. Damit geht er über Empathie weit hinaus. Er ist eine Art emotionales, soziales Gleichgewichtsorgan, das unwillkürlich auf die vielen an der Situation beteiligten Perspektiven antwortet. […]
Wie gezeigt, erscheint in ästhetischen ebenso wie in vielen sozialen, auch moralischen und rechtsrelevanten Situationen ein starres, schematisches Befolgen eiserner Prinzipien oft unangemessen. Zum Sinn für Angemessenheit gehört eine gewisse Elastizität, auf wechselnde Bedingungen der Situation geschmeidig reagieren zu können, die durchaus auch neue Handlungsmöglichkeiten zu etablieren vermag.

Weiterlesen
Ronald de Sousa (1987): The Rationality of Emotion, Cambridge.
Samuel Thoma (2018): Common Sense und Verrücktheit im sozialen Raum. Entwurf einer phänomenologischen Sozialpsychiatrie.
Martha Nussbaum (2001): Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions.