Warning: Undefined variable $output in /home/.sites/865/site8950218/web/mlmwp5/wp-content/themes/malmoe/functions.php on line 19
MALMOE

Rezensionen – Dezember 2020

Sterbliche Überreste von Kriegsverbrechern

Es sind diese kleinen Merve-Bände, die überall herumschwirren und ihre Spuren hinterlassen. Mit Mengeles Schädel von Thomas Keenan und Eyal Weizman wird eine historische Einordnung einer forensischen Praxis versucht, die selbst nur für kurze Zeit genutzt wurde, aber, so die Autoren, großen Einfluss hatte.

Eyal Weizman ist bekannt für die Gründung des interdisziplinären Forschungsnetzwerks Forensic Architecture (FA), das am Londoner Goldsmith College angegliedert ist. FA geht mit modernster Technik (staatlichen) Verbrechen auf den Grund und sagt geschehenem Unrecht den Kampf an. Weizman zur Seite steht Thomas Keenan, Leiter des Human Rights Project am Bard College und ebenfalls Mitglied vom FA Team. Das Buch erschien anlässlich einer Ausstellung 2012 bis jetzt nur in englischer Sprache.

Auch wenn der Titel wie ein Magnet Lesende anzieht, behandelt das Buch weniger Mengeles Schädel selbst, als vielmehr eine Praxis, die angewandt wurde, um die sterblichen Überreste des Kriegsverbrechers zweifelsfrei zu identifizieren. Die Rekonstruktion der Ereignisse liest sich wie eine Kriminalgeschichte: Eichmann war identifiziert, es verdichteten sich Hinweise, dass auch Mengele in den 1960ern in Brasilien ausfindig gemacht wurde. Der israelische Geheimdienst musste sich entscheiden und beließ es bei der Entführung und Stellung von Eichmann. Mengele tauchte erneut unter und verschwand bis 1985. Erst mit dem 40. Jahrestag der Befreiung einigten sich die USA, UK und die BRD darauf, die Ermittlungen zu intensivieren. Westdeutsche Polizisten durchsuchten das Haus Mengeles in Bayern und fanden Briefe von einem Paar aus Brasilien. Das Paar hatte den Kriegsverbrecher versteckt, ihm Unterschlupf gewährt und eine neue Identität beschafft. Sie sagten auch aus, dass Mengele 1979 ertrunken und beigesetzt worden sei.

Es sind diese sterblichen Überreste, die 1985 geborgen wurden, von denen die Analyse des Hefts ausgeht. Die Leitthese des Texts: Die heutige Forensik der Kriegsverbrechen begann mit Mengele in Brasilien. Die Größe dieser Feststellung darf auf der einen Seite nicht unterschätzt, auf der anderen Seite aber auch nicht auf die Identitätsfeststellung reduziert werden. So ist etwa weniger bekannt – aber von großer Brisanz –, dass Teile desselben Expert_innen Teams, das an Mengeles Identifizierung arbeitete, anonymen Opfern des argentinischen Militärregimes eine Identität zurückgaben. Dieselbe Praxis also dazu benutzt wurde, um Verbrechen des Militärregimes anzuklagen und Verantwortliche zu überführen. So konnten Kriegsverbrecher rechtskräftig verurteilt werden.

Die Autoren identifizieren hier eine forensische Ästhetik, die über öffentliche Foren – das Interesse an der Identitätsfeststellung Mengeles war immens – Beweise in die Welt trägt und sich so in Machtausübungen aktiv einmischen kann. Das 130 Seiten starke Heft mit vielen Abbildungen lohnt, um einen Überblick über die Verfolgung des Kriegsverbrechers zu bekommen, eine Einführung in die Arbeit von Forensic Architecture zu erhalten und Genaueres über eine forensische Ästhetik zu erfahren.

Thomas Keenan, Eyal Weizman (2020): Mengeles Schädel. Merve Verlag, Berlin. 16 Euro

Rezensiert von Teo Klug

*

Rückkehr nach Lustenau

Lustenau, das „Braunau am Rhein“, wie es die Parteigänger von Hitler während der Zeit der deutschen Besatzung liebevoll nannten, ist eine Kleinstadt in Vorarlberg und direkt an der Schweizer Grenze gelegen. Dort wird 1896 Hugo Paterno als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Dort wird er heiraten, vier Kinder in die Welt setzen und seine Familie durch die Arbeit als Zollwächter ernähren. Doch sein Leben findet im besten Alter von 47 Jahren ein gewaltsames Ende: Hugo Paterno wird 1944 in München-Stadelheim geköpft.

Im nahezu gleichen Alter veröffentlichte 2020 sein Enkelkind Wolfgang Paterno ein Buch über ihn. Es ist eine Annäherung, die auf drei Ebenen operiert: Einerseits ist es eine wissenschaftliche Studie über die Methodik des nationalsozialistischen Mordkollektivs zur Ausschaltung von RegimegegnerInnen. Weiters ist es in vereinzelt eingestreuten Bezügen auf das eigene Leben und Empfinden eine autobiografische Darstellung der eigenen Familiengeschichte. Eine dritte Ebene liegt in der direkten Kontaktaufnahme des Autors mit den Kindern der TäterInnen, ein wichtiger Schritt, auf den diese einhellig mit Abwehr reagierten.

Ausgangspunkt sind zwei Aluminiumkisten mit Gerichtsakten, Protokollen, Briefen und Kassibern, Gutachten und Urteilen, die im Keller von Wolfgang Paternos Elternhaus lagern. Anhand dieser Dokumente lernt er die Person und das Schicksal seines Großvaters kennen. Mehrfach wurde Hugo Paterno wegen seiner Meinung über den Krieg und über die Nazis denunziert und verurteilt. Gehaltskürzungen und die Strafversetzung von Vorarlberg nach Tirol, weit weg von der Familie waren die Folge. Doch Hugo Paterno hielt mit seiner Meinung weiter nicht hinter dem Berg. 1943 geriet er an die von Zeitgenossen als „fanatische Nationalsozialistin“ beschriebene Trafikantin Rosa Rainer, illegales NSDAP-Mitglied seit 1937. Ihre Denunziation landete bei der Gestapo. Verhaftung, Prozess und die Hinrichtung am 7. Juli 1944 folgten, wie man erahnen kann, gründlich und präzise wie ein Uhrwerk. Hugo Paterno starb ungebrochen als katholischer Österreicher und Kriegsgegner. Trotz einer erstmaligen Verurteilung im Jahre 1939 setzte er seine Agitation gegen die deutsche Terrorherrschaft und gegen den Krieg fort. Auch wenn nur die aktenkundigen Fälle überliefert sind, ist davon auszugehen, dass sich Hugo Paterno im Alltag permanent „wehrkraftzersetzend“ betätigt hat, wie es in der Anklage hieß, und wie er es in einem aus der Haft geschmuggelten Kassiber andeutete.

Dem Autor geht es nicht darum, individuell Schuldige anzuprangern, sondern er zeigt minutiös die arbeitsteilige und bürokratische Struktur der Vernichtung politischer GegnerInnen auf. Man muss dieses Buch langsam lesen, innehalten und die Worte sich setzen lassen. Es ist erschütternd, einen Brief zu sehen, in dem die vier Kinder von Hugo Paterno den „Führer“ in kindlicher Handschrift um die Begnadigung ihres Vaters bitten. Man sollte sich im rechten Moment daran erinnern, wenn man heutigen RelativiererInnen, LeugnerInnen oder gar ApologetInnen dieser Zeit gegenübersteht. Nach der genauen Lektüre von Wolfgang Paternos schmerzvoller Rückkehr nach Lustenau wird man wissen, was zu tun ist.

Wolfgang Paterno (2020): „So ich noch lebe…“ Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation. Haymon, Innsbruck. 24,90 Euro

Rezensiert von Rudi Gradnitzer

*

Dicht zur Dichterin

Wer sehnt sich nicht nach dem Gefühl, einfach in den Tag zu leben, jeden Tag mit Freund*innen zu verbringen, mit einer „Scheiß-drauf“-Mentalität durchs Leben zu gehen und damit allen Autoritäten und Diskriminierungsformen zu trotzen. In ihrem Roman Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin führt Stefanie Sargnagel, die vorher schon mit ihren gewitzten Facebook-Statusmeldungen und mehreren nicht-fiktionalen Büchern glänzte, durch ihre Jugend als immer dichter „verlauster Straßenhippie“ in Wien-Währing. Im gewohnt lakonischen Ton beschreibt sie ihre damalige Lebensrealität. Durch die anekdotische Erzählstruktur fühlt es sich an, als würde sie uns ihre Geschichte bei einem Bier an der Theke erzählen.

Sie porträtiert ihre vielen Wegbegleiter*innen liebevoll mit allen Details und Macken. Sie kommt rum, probiert sich durch die unterschiedlichsten Cliquen und Orte. In der Bar Joe’s lernt Stefanie die prominenteste Figur des Romans kennen: Schelmisch, verschmitzt und immer mit einem Wortwitz auf den Lippen, so charakterisiert Stefanie Sargnagel ihren neuen Freund Michi. Er hält die Menschen in seiner Umgebung mit Fragen wie „Was ist wahrscheinlicher? Undenkbar wahrscheinlich oder denkbar unwahrscheinlich?“ auf Trapp. Die beiden geben ein denkbar ungleiches Paar ab. Auf den ersten Blick wirken sie sehr unterschiedlich, sie eine vor jugendlichem Leichtsinn strotzende, vorlaute Teenagerin und er ein zwanzig Jahre älterer, oft betrunkener Kerl. Doch auf den zweiten Blick muss man vertrauen, das Näherhinschauen ist wichtig.

In Dicht schaut Stefanie Sargnagel besonders gut hin. Sie schaut den Menschen in die Gläser und auf die nikotingelben Fingerkuppen, hängt mit Hippies und Outsidern ab und bringt ihre Begegnungen zwischen zwei Buchdeckel. Michi und Steffi verstehen sich in ihrer Einstellung zum Leben. Sie sind Geschwister im Geiste. „Zwei Punks im Herzen“. Ganz nach der Maxime „Du musst gar nichts!“ gehen sie durchs Leben, auf der Suche nach Abenteuer und Spaß begegnen sie so manchen Gestalten aus der Währinger Szene.

Schnell nach dem Kennenlernen avanciert Michis Wohnung zum Treffpunkt: Eine bunte Mischung aus Leuten macht sich dort breit und die Besetzung in der Wohnung ändert sich ständig. Teilweise lädt Steffi Bekannte und Freund*innen ein, die sie von der Schule oder aus Bars kennt. Teilweise kommen auch Freunde von Michi vorbei. Eine Utopie entsteht, in der Alter, Geld oder geistige Verfassung keine Rolle spielen. Sondern nur, dass man zusammen eine gute Zeit hat! Es wird nicht über Konsequenzen nachgedacht, sondern es wird einfach gemacht.

Das Buch ist eine Ode an eine „verschwendete“ Jugend und eine Liebeserklärung an Wien und an alle Menschen, die ins Stadtbild gehören. Mit ihrem sarkastischen und unaufgeregten Ton bespielt Sargnagel genau den Eskapismus, den wir gerade am allernötigsten haben.

Stefanie Sargnagel (2020): Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. Rowolth, Hamburg. 20,60 Euro

Rezensiert von Laura Peretzki