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MALMOE

Rezensionen – März 2022

Transhumanismus ist nicht revolutionär

„Konjunktivismus (…) soll verhindern, dass sich das Heer der Sklaven angesichts der scheinbaren Unmöglichkeit der Revolution abfindet und dann den günstigen Zeitpunkt zu seiner Befreiung ungenützt verstreichen lässt.“
Jule Bombons zweiter Versuch über den Konjunktivismus geht zurück an den Beginn des ersten Versuchs. Von dort wird der Erzählfaden erneut aufgenommen und in eine andere Möglichkeitswelt gesponnen. Es ist ein Spiel mit der Wirklichkeit, der Möglichkeit von Ereignissen und Handlungssträngen, dem Vorstellungsvermögen der Lesenden; ein komplexes Spiel zwischen Autor:in, „Roman“-Figuren und Leser:innen.
Zu Beginn ein Wiedersehen mit Elsa von Freytag-Loringhoven und Sèverine, mit denen der erste Versuch endete. Wir befinden uns im Jahr 1926 – die beiden Revolutionär:innen begeben sich nach Katalonien, um die anarchistische Bewegung zu unterstützen. Dort springt ihr revolutionskonjunktivistischer Elan auf Aisha und Ulrich über. Elsas Herz schlägt aber immer noch für Woddy, jedoch in der Form des ausrangierten Fahrkartenautomaten, in den er sich im ersten Versuch verwandelt hatte. Ein anderer Erzählstrang führt in den Norden Deutschlands zum Giftgasproduzenten Stoltzenberg: Dort treffen wir auf den Rassentheoretiker und Antisemiten Houston Stewart Chamberlain und den evolutionären Humanisten Jules Huxely. Wir bewegen uns nun in die Auseinandersetzung zwischen eugenischen und (post)modernen transhumanistischen Vorstellungen und Experimenten. Beiden geht es um die Optimierung des Menschen. Gekonnt verstrickt der Autor diese Diskursstränge in die Erzählung und unterzieht sie einer radikalen Kritik.
„Weder die einfältigen Nationalsozialisten mit ihrem Vordenker, dem Biologen Chamberlain (…), noch die erfolgreichen und zugegebenermaßen fachkundigen Naturwissenschaftler im elitären Kreise der Transhumanisten, haben begriffen, dass menschliches Leben nicht in der Anwesenheit einer Substanz besteht, die das Erbgut enthält (…), sondern in der Abwesenheit eines Bestimmungszwecks.“ Der Mensch ist also frei von Zweck, er ist keine Maschine, kein Automat, er ist Freiheit und Möglichkeit. Aber was heißt das für die Zukunft? Als Elsa von den Eugenikern und Transhumanisten erpresst wird, lässt sie sich darauf ein, ihre „Hetero-Beziehung“ zu dem Fahrkartenautomaten zu intensivieren, indem sie sich Teile des Automaten implantieren lässt und zur transhumanen Person wird. Sie wird somit selbst zur Maschine und auf der Vernissage der Weltbevölkerungskonferenz 1927 ausgestellt. Wofür hat sich Elsa entschieden? Für die Zukunft? Für Aisha ist klar: „Da die Zukunft automatisch kommt, das Werdende aber angestrebt werden muss, ist die Revolution – aktiv und lebendig – der Weg zum Werdenden, die Transhumanisten sind nicht revolutionär, sie sind mit der bloßen Zukunft zufrieden.“

Jule Bombon (2021): Der Mögliche und die Automatin. Zweiter Versuch über Konjunktivismus und den Mechano Sapiens. Wirklich, Wien. 11,99 Euro

Rezensiert von Andreas Gautsch

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Etwas, das sich tragen lässt

Lilly Axster Roman Der Pullover trägt mich nicht mehr stellt die fiktiven Held:innen der Literatur infrage, indem er eine reale Person als Heldin einer fiktiven Geschichte thematisiert. Es tun sich viele Fragen während des Lesens auf: Wem nützen eigentlich diese Heldenfiguren wie Superman? Der Glaube an das Unmögliche ist zwar immer nützlich, aber nicht, wenn dadurch die Realität verkürzt dargestellt wird. Wen oder was rettet eigentlich Spiderman? Die liberale Gesellschaft wurde mehr als eine Million Mal durch Superhelden gerettet. Allerdings wurde die gerettete Welt nicht ersetzt, weiterentwickelt oder von Grund auf verbessert: Die bestehende unerträgliche Welt wurde durch die großen Helden Hollywoods nur erhalten. Denn sie darf sich nicht ändern: Die einen werden arbeiten, die anderen ausbeuten und jeder Kampf dagegen repressiv erstickt. Mehr noch, all das bleibt für die breite Öffentlichkeit unsichtbar. Menschen, die gegen diese Ungerechtigkeit und andere Widerstand leisten, werden verfolgt, eingesperrt, gefoltert.
So erging es auch der Widerstandskämpferin Yeter Günes. Sie war Teil der Freiheitsbewegung und wurde wegen ihres Widerstands auf brutalste Weise vom türkischen Staat gefoltert. Für die liberale Gesellschaft ist Günes genauso wenig eine Heldin, wie für die linke Bewegung Superman ein Held ist. Axster stellt dieses verdrehte Verhältnis wieder auf die Beine: Die reale Person Günes wird im Roman die Heldin einer Volksschule, allerdings nicht einer Volksschule der utopischen, sondern der aktuellen, liberalen Gesellschaft.
Axster platziert in die rosarote Welt einer Volksschulklasse die knallharte Realität einer Ex-Gefangenen: Günes’ Haft, ihre erbarmungslose Isolation, die Folter, die sie erleiden musste … Die Kinder der Volksschulklasse sind von Günes’ Geschichte fasziniert und experimentieren untereinander mit Gefangenschaft. Dieses Detail erinnert an Ursula Le Guins Roman Freie Geister, denn auch hier faszinierte die Idee der Gefangenschaft Jugendliche. Sie konnten so eine unglaubliche Grausamkeit kaum fassen und experimentierten deshalb untereinander, ob sie so etwas überhaupt aushalten könnten. Aber ist der utopische Roman von Ursula Le Guin nicht auch ein Gegenbuch zur herkömmlichen Literatur, in der die grausame Welt immer wieder aufs Neue gerettet wird? Insofern können wir bei Axster eine Nachbarschaft zu Le Guin ausmachen: Beide schreiben Gegenbücher im Sinne einer Gegenkultur zu der bestehenden, üblich limitierten Einbildungskraft der Gesellschaft.
Axster umreißt ein viel größeres Problem, als es zunächst den Anschein hat. Es geht um mehr als Gefangenschaft oder die Held:innen unserer Gesellschaft: Sie zeigt die in ihren Werten verfälschte Welt. Warum gibt es immer noch Ausgebeutete? Und warum rettet Superman sie nicht? Warum ist Yeter Günes so unbekannt? Warum sollen Kinder nicht wissen, dass Menschen aufgrund ihrer Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen gefoltert werden? Weil dieses Wissen sie verstören könnte? Allein die Problematisierung dieser grausamen Realität, die Sichtbarmachung des Verschwiegenen macht Axster zu einer revolutionären Autorin. Es ist ein Buch, es ist etwas, das sich tragen lässt, etwas, das unsere Beziehung zur Welt verändert.

Lilly Axster (2022): Der Pullover trägt mich nicht mehr. Edition assemblage, Münster. 16,50 Euro

Rezensiert von Senem Kahraman

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In ihren Worten

Bereits im September letzten Jahres erschienen bei Mandelbaum die Lebensgeschichten von Wienerinnen aus aller Welt. Darin sind autobiographische Texte versammelt in denen 24 Autorinnen zwischen 12 und 70 Jahren ihre Geschichten erzählen, ob als Gedicht, oder Brief oder als politisches Statement – alle Texte eint die Dringlichkeit einer Erfahrung, die gehört werden will. Viele von ihnen erzählen auch die Geschichten von Verwandten und Freund:innen mit. Einige beschreiben dabei ein Unbehagen, dass Jelena Gučanin in ihrem Text auf den Punkt bringt: „Und gleichzeitig schäme ich mich vor meiner Familie, weil ich das Gefühl habe, ihre Geschichte zu vereinnahmen. Die zwar auch meine ist, aber nicht so ganz. Wie immer nur so halb.“ – Und damit sind wir bereits mitten im Thema. Die Präsenz der Migration, die Allgegenwärtigkeit dieser Erfahrung und die unzähligen Ausschlüsse, die damit einhergehen. In unseren Worten bietet dem Platz und findet, gerade durch die Vielzahl der Perspektiven, einen adäquaten Ausdruck für den gesellschaftlichen Umgang mit Migration.
Die damals elfjährige Maryam Rezaee berichtet von ihrer Hilflosigkeit und wie schwer es ihr viel zu begreifen, dass sie und ihre Familie flüchten müssen. „Meine Füße brannten vom Salzwasser, alles war aufgerieben, ich konnte fast nicht mehr gehen. Als ich meiner Mutter von meinen brennenden Beinen erzählte, sagte sie, sie könnte nichts tun. So ging ich einfach schlafen.“ Shabana Raschid, die in der Muslimischen Jugend Österreich aktiv ist, kritisiert die Verhältnisse da: „Warum muss ich für eine österreichische Staatsbürger:innenschaft zahlen, obwohl ich hier geboren bin? Wieso gelte ich mit meinem Kopftuch gleich als „unterdrückt“? Wieso stehe ich als Ausnahme da, wenn ich gut deutsch spreche?“ Rassismus zieht sich wie ein roter Faden durch alle Texte, aber auch Arbeitsverhältnisse kommen immer wieder zur Sprache. Gerade Autorinnen der zweiten Generation berichten von Entwürdigungen ihrer Eltern, die sie als Kinder miterlebten. So beschreibt Katarzyna Winiecka, dass sie bereits früh lernen musste, was Ausbeutung bedeutet: „Arbeit ohne Papiere, Arbeit ohne Schutz, Arbeit ohne Rechte.“
Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen der Frauen und Mädchen auch, wie wichtig Solidarität in ihrem Leben ist. Früh haben sie gelernt Unterstützung anzunehmen und zu geben, haben gemeinsam gekämpft, um in Frieden und Sicherheit leben zu können. Daniah Sahib betont das Positive ihrer Geschichte: „Und jetzt nach fünf Jahren in Österreich, nach so viel Weinen wegen der Schule und weil meine Schwestern nicht bei mir sind, kann ich endlich aufatmen und chillen und mich ein bisschen ausruhen, weil ich mich jetzt fast wie eine Österreicherin fühle.“ – Das sind nur ein paar Ausschnitte, hinter den Gesichtern auf dem Cover warten noch viele Lebensgeschichten darauf gelesen, vorgelesen und geteilt zu werden.

Jelena Gučanin, Magdalena Gartner, Jasmin Shahali, Sarah Sulollari (Hg.) (2021): In unseren Worten. Lebensgeschichten von Wienerinnen aus der ganzen Welt. Mandelbaum, Wien. 14,00 Euro

Rezensiert von Philipp Moritz