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MALMOE

Rezensionen – Sommer 2023

Aus unseren Feuern

Das Staatsprojekt zur Erziehung eines „neuen Menschen“ ist längst gescheitert. Die DDR gibt es nicht mehr und MALMOE erscheint in Wien. Was hat das also mit uns zu tun?
Aus unseren Feuern ist ein Startschuss zu einem Zeitpunkt, an dem alles am Boden liegt. Das Rennen beginnt und du weißt noch nicht einmal, ob du gerade einen Sprint oder einen Marathon läufst. Der Roman mutet zuerst wie Coming of Age an, ist aber in Wirklichkeit eine erstklassige Montage. Der Blick zurück vermittelt die Unzulänglichkeit tradierter Verhaltensweisen. Während die alten Autoritäten in Schule und Familie gezwungen sind, sich nach dem Zusammenbruch der DDR einen neuen Platz zu suchen, wachsen die ostdeutschen Jugendlichen in die schöne neue Arbeitswelt hinein. Eine Geschichte aus der Perspektive von Arbeiter:innen: Bekomme ich einen Ausbildungsplatz? Zahlt der Chef diesen Monat pünktlich? Überlebt meine Liebesbeziehung die nächste Montage in einer anderen Stadt? Ist es im Westen der Bundesrepublik vielleicht besser? Ziemlich schnell verfangen sich die Erwartungen der Einzelnen in einem Netz aus Notwendigkeiten. Der Kragen geplatzt und der Ausbildungsvertrag gekündigt, ungelernt von einem Scheißjob zum nächsten. Dann sind da noch diejenigen, die sich eingerichtet haben, die durchkommen müssen und nicht mehr viel vom Leben erwarten: Sprüche klopfen, auf Montage fahren und eine mörderische Routine drin haben. Müllensiefens Roman zeigt Leute, die wie am Schnürchen von der Wiege direkt in den Sarg laufen. Das klingt zwar alles düster, und das ist es auch, doch Aus unseren Feuern ein Buch, das ohne Klischees auskommt. Das Versprechen vom sozialen Aufstieg oder der Glaube an die soziale Revolution sind längst nicht so handfest wie der Fernseher auf Baustelle. Da sitzen Maik und Mike und diskutieren darüber, welchen Film sie schauen sollen.
„,Da ist gerade ein Flugzeug in das World Trade Center geflogen.‘ – ,Schwachsinnige Amerika-Scheiße‘, sagte Mike. – ,Das ist kein Film!‘ sagte ich und zeigte auf den Fernseher. – ,Dann kannst du das heute Abend ja in den Nachrichten gucken. Wir haben hier eine ganze Kiste mit Videofilmen. Dämliche Jugend!‘, sagte Mike, und die beiden schalteten ZDF aus und klemmten den Videorecorder an den Fernseher an. – ,Was wollen wir denn gucken?‘, fragte Maik Mike. – Mike sagte: ,Was haben wir denn?‘ – ,Hier ist was mit Heinz Erhardt.‘ – ,Hm. Das ist schon mal gut.‘ – Ich schüttelte den Kopf. – Die beiden machten weiter: ,Uhrwerk Orange?‘ – ,Klingt langweilig. Weg damit.‘“ Die Dialoge sind filmreif. Ich sehe Robert Stadlober im Loop auf einen Keks wichsen, während der Fuchsschwanz von Til Schweiger vor Neid erblasst. Bei Müllensiefen werden Bilder produziert, die an Referenzen und Assoziationen so reich sind, wie es nur geht. Hier werden keine falschen Vorstellungen von großen Gefühlen oder Ideen wiedergekäut. Aus unseren Feuern zeigt die wirklichen Beziehungen von Menschen, ihre Abhängigkeiten voneinander und die daraus resultierenden Konflikte. Das ist deutsches Kino! Zum Lesen! Kannst du dir nicht vorstellen? Kannst du dir kaufen.


Philipp Moritz
Domenico Müllensiefen (2022): Aus unseren Feuern. Kanon, Berlin.

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Industrielle Leidarbeit

Slave Cubela ist ehemaliger Betriebsrat, jetzt gewerkschaftlicher Organizer und publiziert seit vielen Jahren vor allem zu klassentheoretischen Themen. Mit dem kürzlich erschienenen Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust widmet er sich der proletarischen kollektiven Versprachlichung von Arbeitsleid.
Die im Arbeitsprozess geschaffene soziale Realität wird über Sprache verständlich. Erst diese gesellschaftliche Selbstverortung schafft die Möglichkeit eines gemeinsamen Erwartungshorizonts, politischer Hoffnungen und Ziele und somit der Vorstellung von tiefgreifenden Veränderungen. Deshalb ist die Versprachlichung von Arbeitsleid notwendig für Arbeiter:innen-Widerstand, aber auch für Prozesse von Klassenformierung.
In einer Phase des Wortverlust manifestieren sich laut Cubela die sprachliche Dimension neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Die schleichende Erosion in der Beziehung von Arbeiter:innen und ihren etablierten Klassenorganisationen, die emotionale Erschöpfung bis hinein in vormals geschützte Kernarbeiter:innenschichten, der zum Ritual reduzierte tarifvertragliche Klassenkampf – all das durchzieht das Fehlen einer übergreifenden sozialen Sprache, die im Stande ist Arbeitsleid kollektiv zu reflektieren, wie das noch im 19. Jahrhundert, der EPoChe der Wortergreifung, der Fall war. Dazwischen liegt die Zeit der Worterstarrung: Arbeiter:innen werden als (Massen-)Konsument:innen gesellschaftlich integriert, gleichzeitig entfremdet sie ihre Annäherung an den Mittelstand durch Konsum von der kollektiven Leidarbeit (und den damit verbundenen Widerstandspraktiken!). Dieser proletarische Besitzindividualismus spiegelt sich in entpolitisierten gewerkschaftlichen Kämpfen, die zunehmend auf die Themen Lohn und Zeit verengt werden. In den technisch-optimierten Arbeitsprozessen spielt subjektiviertes Arbeitshandeln eine zunehmend untergeordnete Rolle, Arbeiter:innenwissen wird austauschbar. Der volkswirtschaftliche Output steht im Vordergrund und mit diesem ein nationaler Klassenkompromiss in Form des sozialen Bündnis von Arbeit und Kapital. Die Zusammenarbeit der Klassen unter technokratischer Herrschaft geht in der Phase der Worterstarrung Hand in Hand mit der gesellschaftlichen Anerkennung von Arbeiter:innen durch die Konsumsphäre.
Auf den 430 Seiten entwickelt Cubela ein dichtes Argument, begleitet von zahlreichen Exkursen, Verweisen und Fußnoten. All das erlaubt es den Argumentationspfad zu verlassen und arbeits- und gewerkschaftsgeschichtlichen Verzweigungen zu folgen. Cubela macht dabei gleich auf den ersten Seiten die Schwächen und Leerstellen seines Zuganges transparent, ein sympathischer und gewissenhafter Zug. Das grundlegende Argument dient – trotz (oder gerade aufgrund) der Einschränkung von Quellen, geografischen Kontexten und Erwerbsbereichen – als innovative Schablone für das Verständnis gegenwärtiger gewerkschaftlicher Konfliktdynamiken.


Benjamin Herr
Slave Cubela (2023): Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklasse. Westfälisches Dampfboot, Münster.

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Global Female Future

Dieses Buch wird Jede* mit großem Gewinn lesen, die auf 220 Seiten komprimiert berührende und Mut machende Stimmen und Interviews von und mit Frauen* zu den Hauptbrennpunkten feministischer Kämpfe hören und erfahren möchte. In sechs Kapiteln erfasst, vermitteln die Texte einen lebendigen Einblick in vierzig Jahre feministische Arbeit an den sechs Brennpunkten (Anti-)Rassismus und Postkolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit sowie Klima und Umwelt. Wo immer man das Buch aufschlägt, sich in einen Text vertieft oder ihn querliest, zeigt sich, wie brisant und aktuell die Themen und Fragen sind. Die feministischen Kämpfe der Frauen* aus Lateinamerika, Afrika, Asien und Europa drehen sich darum, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Es geht um grundlegende Rechte wie Selbstbestimmungsrechte, das Recht auf den eigenen Körper, das Recht auf Schutz vor Willkür und Gewalt. Es geht um Bildungschancen, um Partizipation, ökonomische und ökologische Fragen wie beispielsweise ein eigenes Einkommen, um den Zugang zu Wasser, Land und Ressourcen. Um Krieg, Migration und Fragen der Care-Arbeit in Zeiten globaler Umbrüche und Klimakrisen. Wie aktiv werden, wie sich organisieren, um gemeinsam Politiken zu verändern?
Sowohl im Rückblick auf vierzig Jahre feministische Arbeit der Frauensolidarität als auch im Hinblick auf eine mögliche Zukunft vermitteln die Beiträge, wie zentral es ist, einen klaren politischen Standpunkt zu finden, zu halten und gegen alle Widerstände beharrlich eine andere Gesellschaftsordnung zu entwerfen und politisch einzufordern. Eine andere Welt ist möglich! Der aktive Einsatz dafür spricht aus den Erlebnissen und Positionen der Frauen, die beim Lesen der beeindruckend dichten Texte präsent werden. Es wird deutlich, wie wichtig jeder einzelne persönliche Aufbruch einer Frau in eine positive Veränderung ist und wie sehr fundierte politische Analysen und Kritik Orientierung über das Private hinaus befördern. Eine Basis dafür bietet ein gemeinsamer, solidarisch getragener, aktiver Widerstand gegen patriarchale Strukturen, gegen Ungerechtigkeit und Gewalt in all ihren Formen, Verkleidungen und Ausprägungen. Das Buch entstand mit und über Frauen* des globalen Südens, und wie so vieles durch die Initiative einiger weniger Frauen. Doch der globale Süden, das sind wir alle. Wenn auch die Grade der Betroffenheit von Gewalt, Macht- und Unrechtsverhältnissen unterschiedlich sein mögen und sind, so zeigt doch dieser Textband deutlich, dass den Grundproblemen weltweit ähnliche Ursachen zugrunde liegen. Den Herausgeberinnen Andrea Ernst, Ulrike Lunacek, Gerda Neyer, Rosa Zechner und Andreea Zelinka ist zu danken, dass es ihnen gelungen ist, diese vielstimmigen Texte in einem Band zu versammeln und uns zugänglich zu machen. Dass sie als Aktivistinnen und Gründerinnen der Frauensolidarität 1982 in Wien bis heute selbst in der feministischen Arbeit aktiv sind, spiegelt sich in der Auswahl der Texte wider. Eine Leseempfehlung!


Edith Ertl-Hofinger
Andrea Ernst et al. (Hg.) (2022): Global Female Future, Kremayr & Scheriau, Wien