MALMOE

Rezensionen – Dezember 2021

Die Möglichkeit der Revolution

„Ich bin Revolutionskonjunktivistin!“ – Er räuspert sich verlegen. „Revolutionskon… was? Was heißt das?“ – „Konjunktiv! Es geht überhaupt nicht darum, ob wir den Kampf gewinnen. Es geht einzig darum, ob wir ihn gewinnen würden!“
So diskutieren Woody und Marjusa im Roman Die Möglichkeit und der Automata auf dem Weg zu den anarchistischen Machnowschtschina in der Ukraine. Wir befinden uns in der Zeit der Russischen Revolution und den Kämpfen zwischen Revolutionär:innen und Konterrevolution. Der Ausgang ist noch offen. Die Bolschwiki bieten Machno ein Bündnis an. Marjusa, Verfasserin eines anarchokonjunktivistischen Manifests, spricht sich dagegen aus. Woody gibt sich taktisch-pragmatisch. Der Verlauf der Geschichte ist bekannt. Nachdem die Gegner der Revolution besiegt wurden, verfolgt und bekämpft die Rote Armee die anarchistischen Kräfte, und aus der Revolution wurde eine starre Maschine. Hier trennen sich die Weg von Marjusa und Woody und die Leser:innen tauchen in das Paris der 1920er-Jahre ein: Hier wird gefeiert und getanzt, jedoch nicht aus Freude, „sondern um zu verdrängen“.
Durch den Text ziehen sich sowohl eine philosophische Auseinandersetzung über die Freiheit und Möglichkeit des Menschen als auch ein wiederkehrendes Spiel mit der Zeit, mit der Chronologie der Ereignisse, mit Fiktion und realen historischen Begebenheiten und den Erzählperspektiven. So werden wir aufgefordert, uns die Szenen gleich Bilder vorzustellen und wie auf einer Leinwand auszumalen. Jedes Bild und jede Wirklichkeit ist eine Konstruktion, die uns auf die Möglichkeiten verweist, unsere Zukunft anders zu gestalten.
In Paris lernen wir Elsa von Freytag-Loringhoven kennen. Sie ist eine bekannte Avantgardekünstlerin der Zeit, die mit Marcel Duchamp zusammen lebt und arbeitet. Wahrscheinlich steckt sie hinter dem Pseudonym R. Mutt, das auf dem wohl berühmtesten Readymade-Kunstwerk zu lesen ist: das umgedrehte Urinal, das als Fontaine in die Kunstgeschichte Eingang fand. Während sie das Ding vom Zweck befreit, wird Woody, der sich ebenfalls in Paris aufhält, immer mehr zum Ding. Als Angestellter am Fahrkartenschalter wird er selbst zum Fahrkartenautomaten. Marjusa, mit der er nur brieflich verkehrt, wird hingegen zu einem Baum. So skurril und schräg der Text in all seinen Wendungen ist, folgt er doch einem logischen und philosophischen Konzept, das besagt: Der Mensch ist Freiheit. Die Maschine ist Zweck.
Während manche Figuren langsam die Textfläche verlassen, treten andere hervor, wie die bereits erwähnte Elsa, die den bürgerlichen Juris Severein aus seinen vorgegebenen Lebensbahnen gleiten lässt. Es entstehen neue Aufgaben im revolutionären Spanien von 1936, und das Spiel der Möglichkeiten dreht sich weiter … bis die Bombe explodiert.

Jule Bombon (2020): Die Möglichkeit und der Automat. Ein Roman über Konjunktivismus und den Mechano sapiens. Wirklich, Wien. 11,99 Euro

Rezensiert von Andreas Gautsch

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Kybernetische Proletarisierung

Simon Schaupp verdichtet in Technopolitik von unten jahrelange empirische Forschung algorithmisierter Arbeitsprozesse zu einem gut lesbaren und mit vielen Beispielen angereicherten Buch, das sowohl für ein Fachpublikum als auch für eine interessierte Öffentlichkeit bestens geeignet ist. Sein Blick auf die Veränderbarkeit von Arbeitsprozessen durch Beschäftigtenmacht rückt den Fokus weg von einem passivierten Arbeitsobjekt hin zu handelnden Subjektivitäten von Beschäftigten. Gerade diese grundlegende Einstellung ist relevant für ein progressives Vorantreiben sowohl der Debatte als auch der empirischen Forschung.
Schaupps zentraler Ansatz einer kybernetischen Proletarisierung ist geeignet, um aktuelle Veränderungen im Arbeitsprozess zu verstehen. Hier sieht Schaupp eine neue, technologisch induzierte Qualität von Proletarisierung: Beschäftigte sind nicht nur einer unternehmerischen Kontrolle unterworfen, sondern auch in digitale Rückkoppelungsschleifen eingebunden und tragen dadurch zu einer weiteren Rationalisierung und Automatisierung ihrer Arbeit bei: „Ein Teil des kybernetischen Proletariats besteht also darin, sich selbst überflüssig zu machen, indem es Daten produziert, die dann für seine Verdrängung aus dem Produktionsprozess genutzt werden.“ Er sieht darin einen Zyklus aus technologisch ermöglichter Dequalifizierung menschlicher Arbeit und als Folge eine erweiterte Integration von Arbeitskraft, weil Tätigkeiten nun leichter erlernbar sind.
Anhand von vier Fallstudien zeigt Schaupp, wie sich eine kybernetische Proletarisierung vollzieht, weist aber auch auf die Widerstände hin. Mit Rückgriff auf drei Aushandlungsarenen (Regulationsarena, Implementierungsarena und Aneignungsarena) arbeitet Schaupp die jeweils spezifischen Aushandlungslogiken und Akteurskonstellationen heraus. Nur an wenigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass neue Begrifflichkeiten für schon existierende Konzepte geschaffen werden. Beispielsweise wenn die Formalisierung von Betriebswissen als Dequalifizierungsstrategie gefasst wird, die die Austauschbarkeit menschlicher Arbeit erhöht und in der Folge von betriebsinterner- und betriebsexterner Dequalifizierung gesprochen wird. Hier hätte es eine klarere Differenzierung zu dem in der Arbeitsforschung gängigen Konzept von funktionaler/externer Flexibilisierung gebraucht. Das sind aber nur Detailaspekte, die die Qualität des Buches nicht beeinträchtigen. Leseempfehlung für alle, die an einer kritischen, empirisch fundierten Perspektive auf die Zukunft der Arbeit interessiert sind.

Simon Schaupp (2021): Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung. Matthes & Seitz, Berlin. 20,60 Euro

Rezensiert von Benjamin Herr

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Im Endeffekt sind wir Erinnerungsfetzen

Bahoe Books hat wie immer ein Händchen für Übersetzungen, nicht zuletzt zeigt das Die Farben der Angst. Dieser Roman von Alfons Cervera erschien 2005 auf Spanisch und holt Erinnerungen hervor, die einige gerne vergessen hätten. Wir befinden uns in Los Yesares, einem Dorf in der Nähe von Valencia. Eine französische Studentin will dort Material über den Alltag nach dem Spanischen Bürgerkrieg sammeln. „Es ist immer die Angst, wiederholt in den zittrigen Stimmen der Lebenden und dem andauernden Echo der Toten, die wie eine unersättliche höhnische Ratte die hart gewordenen Krumen des Gewissens kaut.“ Das Gefühl der Angst zieht sich dabei durch die vielen Stränge und Geschichten, die sich nur schwerfällig zu einem Ganzes fügen. Vieles bleibt Andeutung. Ein Stück Zigarettenpapier, das gerahmt an der Wand des Zimmers hängt. Ein Fenster, durch das ein Junge mit den Vögeln spricht. Und an dem alten Johannisbrotbaum vor dem Dorf baumelt ein Strick. Diese zerstückelte Form hat ihren Grund in dem Gegenstand der Geschichten: Erinnerungen an eine Zeit des Terrors und der Gewalt.
Viele Erzählungen aus Los Yesares enden auf dem Friedhof von Paterna. Hier liegt auch das Massengrab des spanischen Faschismus, wo über 2.000 Menschen nach dem Bürgerkrieg exekutiert wurden. Die Friedhofsmauer und die Erschießungen tauchen immer wieder auf. Zumindest in den Erinnerungen der Republikaner:innen und ihrer Nachkommen. Nicht so jedoch in denen der Gegenseite: „Ich weiß, was mir meine Eltern und meine Großeltern erzählt haben. Nichts.“ Denn wer sich erinnert, sind die Verlierer:innen des Krieges. Sie lässt Cervera sprechen, während die Faschist:innen eine Erinnerung scheuen, die ihre Verbrechen benennt und die Normalität stört, in der sie sich eingerichtet haben. Wer will sich schon an die Wagenheber erinnern, mit denen menschliche Gliedmaßen zertrümmert wurden? An die Schweißbrenner, die Kinder verstümmelten?
So brechen die Geschichten in Bruchstücken aus den Menschen heraus, die damals noch Kinder waren. Im Buch erzählen die 80- oder 90-Jährigen der französischen Studentin von ihren Traumata, aber auch von gewöhnlichen Kindheitserinnerungen. Sie spielen, gehen fischen oder ins Theater, sie haben Sex, tanzen …
Cervares hat über das Aufwachsen einer ganzen Generation zwischen einer unbändigen Lust am und der nackten Angst um das Leben geschrieben. Denn wie könnte eine:r weiterleben in einer Umgebung, die nur von Leid und Tod erzählt und nicht auch von Leben und Liebe? „Wir erinnern das, was wir wissen wollen, behalten nur die Teile in unserem Gedächtnis, die wir von der Zeit, in der wir leben, bewahren wollen. Und stellen alles übrige dem Vergessen anheim. Im Endeffekt sind wir Erinnerungsfetzen, nicht mehr[.]“ Ein Buch, das sich einfach liest und doch nicht so schnell verdaut werden kann. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mich auch viel später noch an Trotzki erinnern werde. Selbstverständlich an den Kanarienvogel namens Trotzki.

Alfons Cervera (2020): Die Farben der Angst. Bahoe Books, Wien. 20 Euro

Rezensiert von Philipp Moritz