MALMOE

­Geschichten aus der ­ hölz­er­nen Welt

Eine Besprechung der Bücher Ein Seemann aus der Neuen Welt und Gesetzlose des Atlantiks

In seiner Essaysammlung Gesetzlose des Atlantiks entwirrt Marcus Rediker einen Haufen Seemannsgarn und breitet die Stränge auf 300 Seiten geordnet wieder aus. So kann er zwischen Witzen, Zoten und glatten Lügenmärchen auch das im Seemannsgarn enthaltene „praktische Wissen um Arbeit und Klasse“ (Rediker, 29) klar benennen. Und selbst den haarsträubendsten Geistergeschichten eine Funktion zuweisen, ohne diesen dabei ihren unterhaltenden Wert abzusprechen. Denn mit ihren fein verästelten Geschichten vertreiben sich die Seeleute nicht bloß flaue Tage, sondern konservieren auch ihre Erfahrung für schlechte Zeiten. Damit am Ende alle wissen, was zu tun ist, wenn Löhne nicht gezahlt, zu wenig Rationen ausgegeben oder Matrosen sogar misshandelt werden. Streik und Meuterei sind zu riskant, um unvorbereitet durchgeführt zu werden, und das Geschichtenerzählen ist eine bewährte Praxis, dieses subversive Wissen zu vermitteln.

Bärtige Fratzen spiegeln sich in den Bierpfützen der Hafenkneipen. Raue Stimmen berichten von harter Hände Arbeit, von Meer und Einsamkeit. Doch auf ihren Knien räkeln sich keine Nixen, dort sitzen Jungs mit gespitzten Ohren. „Seebärenbrüder“ (72) nennt Rediker die testosteronhaltige Zusammenrottung von Verlierern, deren Leben von Gewalt bestimmt und deren Themen „Zechen, Sex und Männlichkeit“ (38) waren. Tatsächlich hat Rediker eine Statistik zu 800 noch bekannten Pirat*innen erstellt, in der sich keine Handvoll Frauen findet. (vgl. 106)

Auch 200 Jahre später hat sich an der Zusammensetzung des maritimen Proletariats wenig geändert, glaubt man den grotesken Abenteuerromanen von P. Howard – dem 1905 in Budapest als Jenő Rejtő geborenen Erfinder von Kapitän Fred Unrat und Jimmy Reeperbahn. Und man muss ihm einfach glauben, schafft Howard es doch, die von Marcus Rediker fein aufgedröselten Stränge des Seemannsgarns wieder fest zu verzurren. Ein nicht zu unterschätzender Glücksfall für das deutschsprachige Publikum ist dabei Vilmos Csernohorszky jr., der für den Elfenbein Verlag eine erstklassige Übersetzung der Werke Howards zusammenbraut. Hier wird feinstes Seemannsgarn herrlich schnoddrig angerichtet in „einer saugemütlichen Schweinekneipe für Kenner der alten Schule.“ (Howard, 152) Mit dem Wellengang wird das Ganze aufgeschäumt, bis die Bilder fleißig durch den Kopf purzeln. Kein Wasser an Bord, also Schnaps trinken? Kein Problem. In schöner Regelmäßigkeit absurde Schlägereien? Bitte sehr! Ein gutes Dutzend Verwechslungskomödien? Lassen Sie es sich schmecken. Aufgetischt wird selbstverständlich auch die Spezialität des Hauses: Geistergeschichten. Zwar kann der unter Seeleuten verbreitete und aufs Schaurigste ausgeschmückte Aberglaube auf so Profanes wie die hohe Sterblichkeit des maritimen Proletariats zurückgeführt werden – ein Rest Irrationalität bleibt dennoch. Und auch Jimmy Reeperbahn kann noch so oft beteuern: „Hat man erst mal Kultur jeschleckt, was das Zeug hält, dann gloobt man nicht mehr an diesen magischen Firlefanz.“ (171), die Angst vor den Geistern bleibt. Und sie bleibt so lange notwendiges Element der Verdrängung, solange es Sie nicht kümmert, dass, während Sie MALMOE lesen, „Geldsorgen einem unbekannten Klavierstimmer in der Nachbarwohnung graue Haare wachsen“ (36) lassen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Marcus Rediker: Gesetzlose des Atlantiks. Piraten und rebellische Seeleute in der frühen Neuzeit. Übersetzt von Max Henninger. Mandelbaum, Wien 2017.

P. Howard: Ein Seemann aus der Neuen Welt. Ein analoger Revuekrimi. Übersetzt von Vilmos Csernohorszky jr. Elfenbein, Berlin 2016.