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Wer ist Hanna? Wir sind Hanna!


Prekäre Arbeitsbedingungen, neofeudale Strukturen und aufkeimende Kritik an Universitäten

Wer Geisteswissenschaften studiert und im akademischen Feld arbeiten möchte, muss mit einer exorbitanten Qualifikationszeit rechnen – um die zehn Jahre bis zur Promotion! Um damit dann nur kurzfristig Beschäftigung zu finden und langfristig arbeitslos zu sein. Ein Verheizen von Talent und Lebenszeit mit System. Wie so oft im Kapitalismus werden individuelle Schicksale unsichtbar gemacht und Veränderungen, die über Kosmetik hinausgehen, von den Verantwortlichen der Universitäten und Parlamente als unmöglich dargestellt. Dass doch recht viel in kurzer Zeit möglich ist, ist aber spätestens seit der Pandemie offenkundig. Es kommt derzeit einiges zusammen, vielleicht genug für konstruktive Empörung.

Mehrere Publikationen aus diesem Jahr (#IchBinHanna, Wissenschaftliche Fairness, Emanzipatorische Wissenschaftskritik, Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz) problematisieren Fehlverhalten von und an Universitäten im deutschsprachigen Raum. In diesen geht es vor allem um die schlechten Arbeitsbedingungen, aber auch um den Einfluss großer Verlage, um dubiose Anreize für die vermeintliche Etablierung und Vermehrung von Exzellenz, um Diskriminierungsmechanismen und nicht zuletzt um klimapolitisches Versagen. Die meisten Kritiken thematisieren die Konsequenzen der anhaltenden Ausrichtung der Universitäten auf Wettbewerb und mangelndes Verantwortungsbewusstsein als potenziell machtvolle Institution. Der Einspruch kommt von Studierenden, aber diesmal auch vom wissenschaftlichen Personal und mancherorts sogar von den Rektor:innen. Kritik und Protest sind nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. So läuft in Großbritannien seit November dieses Jahres der größte von akademischen Arbeiter:innen geführten Universitätsstreik aller Zeiten. Zeitgleich finden Proteste in Graz, Linz und Wien statt, nicht zuletzt, weil plötzlich 1,2 Milliarden Euro an Österreichs Universitäten fehlen. Es kommt einiges zusammen.


Die Akkumulation und Extraktion des Uni-Proletariats


In Deutschland regelt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) seit 2007 die Befristungsmöglichkeiten von Arbeitsverhältnissen in der Wissenschaft. Hierbei handelt es sich um ein weitreichendes Sonderbefristungsrecht, das über die Befristungsobergrenzen in anderen Branchen hinausgeht. Denn im Normalfall greift das Teilzeit- und Befristungsgesetz, das in der Regel eine Entfristung nach maximal zwei Jahren vorsieht. Inzwischen ist die Professur fast das einzige unbefristete Beschäftigungsverhältnis bei Wissenschaftler:innen. Die dadurch legitimierten Befristungsquoten stehen in keinem Verhältnis zum restlichen Arbeitsmarkt. Jenseits der Universität lag die Befristungsquote 2019 bei 7,4 Prozent, während in der Wissenschaft 92 Prozent aller Personen unter 45 Jahren (ohne Professur) befristete Verträge haben. Befristungen ziehen in den meisten Fällen eine Zwangsmobilität für Wissenschaftler:innen nach sich, die eine Planbarkeit von Karriere und Familie oftmals verunmöglichen. Bereits 2020 hätte das Gesetz erneut evaluiert werden sollen, dies wurde aber verschleppt, was für weiteres Unbehagen sorgte. Außerdem wurde bereits nach der ersten Evaluation (2011) deutlich, dass eine tatsächliche Evaluation gar nicht vorgesehen ist, denn die Evaluationsausschreibungen kreisten lediglich um Teilaspekte. Die Auswirkungen des Gesetzes auf die Arbeitsbedingungen wurden hingegen ausgeblendet. Daher führte das Lab für Organisations- und Differenzierungsforschung der TU Dresden eine alternative Evaluation durch, deren Ergebnisse im Mai 2022 veröffentlicht wurden. (1) Alternativ, weil das Evaluationsprojekt der TU-Dresden auf „eine umfassende Evaluation des Gesetzes“ zielt. „Ein solcher Fokus ist u.E. umso dringlicher, als das betreffende Gesetz eine hochgradig arbeitgeberfreundliche Befristungspraxis an Hochschulen und Forschungseinrichtungen ermöglicht, die in anderen Berufsfeldern unvorstellbar wäre.“ Weiterhin wird an der offiziellen Evaluierung kritisiert, dass bereits Bundesberichte „regelmäßig das Fehlen belastbarer Daten zur Situation des entsprechenden Personals“ festgestellt hatten. Empirische Untersuchungen, ob befristete Arbeitsverhältnisse tatsächlich die Leistungsfähigkeit der Hochschulen erhöhen, fehlen laut TU-Projekt gänzlich.

Plattformkapitalismus per Gesetz


Ende 2018 gab es erstmals eine größere Protest-Welle auf Twitter unter dem Hashtag #unbezahlt, mit dem all die Arbeit sichtbar gemacht werden sollte, die in der Wissenschaft selbstverständlich erledigt wird, ohne dass dafür eine Entlohnung erfolgt. So schreiben die Autor:innen von #IchBinHanna: „von unsichtbaren Überstunden über unentgeltliche Lehre bis hin zu Vortragsreisen und Publikationen, für die die Kosten aus eigener Tasche finanziert werden, obwohl sie klar zu den Dienstaufgaben gehören.“ Entscheidend katalysiert wurde diese Entwicklung durch die Pandemie. Die Mehrbelastung und die Verschiebung des gesamten sozialen Austausches in digitale Formate befeuerte Ende 2020 Aktionen in den sozialen Medien, bei diesen fanden auch die Aktivist:innen und Autor:innen von #IchBinHanna zusammen.
Ähnlich wie in anderen Berufssparten werden auch von Forschungseinrichtungen und Hochschulen alle Risiken auf die Beschäftigten abgewälzt, die via staatlichen Sicherungssystemen letztlich von der übrigen Gesellschaft aufgefangen werden müssen. Die Arbeitsverhältnisse von befristet und über Drittmittel Beschäftigten ähneln laut den Autor:innen Scheinangestelltenverhältnissen.
Ganz richtig werden die universitären Arbeitsbedingungen im Kontext eines allgemeinen Trends zur Prekarisierung gestellt: Hochschulen gleichen in ihrer Personalpolitik und Organisationsstruktur immer mehr Unternehmen und Konzernen. In ihren Organisationsstrukturen ähneln sie Unternehmen des Plattformkapitalismus. Auch diese arbeiten nur mit einem kleinen Team fest Beschäftigter und outsourcen den Hauptanteil an Subunternehmer:innen, deren Beschäftigte kaum Rechte haben und Arbeitskräfte regelrecht verheizt werden. Die Autor:innen von #IchBinHanna vergleichen befristete Wissenschaftler:innen, die sich von Fristvertrag zu Fristvertrag hangeln, mit Uber-Fahrer:innen, weil sie mit ihnen strukturell mehr gemein haben als beispielsweise mit Schullehrer:innen (die sie allerdings ausbilden und die größtenteils später verbeamtet werden). „In beiden Systemen, Wissenschaft und Uber, dürfte gelten, dass man mit der inhaltlichen Kernarbeit – Forschung und Lehre bzw. Chauffeurdienstleistung – kaum noch reelle Chancen auf eine Karriere oder auch nur eine sichere Anstellung hat.“

Die Lage in Österreich


Es wird kaum verwundern, dass die Situation in Österreich eine ganz ähnliche ist. Je nach Rechnungsmethode sind derzeit 80 bis 90 Prozent der Wissenschaftler:innen an österreichischen Universitäten befristet beschäftigt. Statt WissZeitVG gilt hier die Universitätsgesetznovelle von 2002 (UG2002) und der Paragraph 109 Prekarisierungs- und Entsolidarisierungsmittel der Uni-Unternehmer:innen. Während das österreichische Arbeitsrecht eine Aneinanderreihung von befristeten Arbeitsverhältnissen eigentlich untersagt, macht der Paragraph 109 in der UG2002 auch hier einen Sonderweg möglich.
Angeblich geschaffen, um den besonderen Umständen von Wissenschaftler:innen Rechnung zu tragen und es zu ermöglichen, befristete Qualifikationsstellen später in unbefristete Anstellungsverhältnisse zu überführen – was bisher nicht eingetreten ist.
Die Novellierung des Gesetzes im Jahr 2021 verschärfte die untragbare Situation noch weiter. Hier wurde die Maximaldauer der faktisch existierenden Kettenverträge auf acht Jahre pro Dienstgeberin beschränkt. Mit einer Ergänzung im Universitätsgesetz wurden die Universitäten sogar direkt aufgefordert, „entprekarisierende [Karriere-]Modelle zu entwickeln“, wie es in der Regierungsvorlage heißt. (2) Leider wurde dies aber nicht vorgeschrieben, sondern nur empfohlen, weshalb die Universitäten es schlicht ignorierten. Das Netzwerk Unterbau Wissenschaft (NU Wiss), das sich für die Demokratisierung der österreichischen Universitäten und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von prekären Wissensarbeiter:innen in Österreich einsetzt, beschreibt eine Praxis, in der befristete Beschäftigungsverhältnisse weiterhin tendenziell aneinandergereiht werden, um sie dann „letztlich auslaufen zu lassen“. (3) NU Wiss sieht keine Anzeichen dafür, dass eine Verkürzung der Befristungszeit eine Trendumkehr einleiten könnte. Die IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen sieht sogar die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen in Gefahr sowie die Qualität von Forschung und Lehre.

Self-Entrepreneurship verlernen


Eines liegt auf der Hand: Gemeinschaftliche Organisation für kollektive Anliegen ist notwendig, muss aber erst gelernt werden. Dies ist für die IG von besonderer Wichtigkeit, denn kollektive Debatten und Aktionen sind in der Wissenschaft ein bekanntes Problem, denn „Wissenschaftler:innen sind leicht erpressbar und zugleich schwer organisierbar“. (4) Warum das so ist? Die Begeisterung für das eigene Tun führt – ähnlich wie in der Kulturarbeit – tendenziell dazu, vieles in Kauf zu nehmen, auch weil individualisiertes Arbeiten oft die Norm ist. Speziell Dissertationen und Habilitationen gehen oft mit jahrelangem, vereinsamtem Arbeiten einher, wobei solidarisches Handeln mitunter verlernt wird. Organisiertes gemeinschaftliches Handeln wird zudem durch kurzfristige Beschäftigungen und verinnerlichtes Konkurrenzverhalten erschwert (das gilt ebenso für die Organisation von Studierenden, die heute nur noch kurz an einer Universität verweilen). An die Stelle von Wut tritt immer öfter ein stiller Ausstieg aus der Wissenschaft als einzige gangbare Alternative. Der leise, kaum bemerkte Abschied geht dann meist mit einer Entwertung der langjährig erarbeiteten Qualifikation unter prekären Lebensumständen einher.
Das erklärt auch, warum Empörung über die Zustände seit Jahrzehnten ausbleibt. Personen mit befristeten Verträgen hängen immer vom Wohlwollen ihrer Vorgesetzten ab und bangen – ob der zahlreichen Mitbewerber:innen – um die nächste Verlängerung, was das derzeitige System hochgradig missbrauchsaffin macht. Unter diesen Bedingungen bleibt die Bereitschaft, sich öffentlich zu äußern oder sich sogar zu organisieren, gering. Die fortschreitende Entsolidarisierung unter den wissenschaftlichen Beschäftigten ist daher als systembedingt zu verstehen. Hinzu kommt, dass die für die Universitäten zuständige Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) bisher die Belange der Prekären beharrlich ignoriert hat. Dies trug ebenso dazu bei, gewerkschaftliches Engagement als ineffektiv und unattraktiv zu deuten. Die IG merkt an, dass dies nicht so bleiben muss, denn gewerkschaftliche Unterstützung mittels Infrastruktur, Personal und Finanzen könnte durchaus hilfreich sein. Hier zeigt sich eine potenzielle Win-win-Situation.
An alternativen Vorschlägen zum derzeitigen Wissenschaftsbetrieb mangelt es nicht:
Bereits 2020 hat das deutsche Netzwerk NGA Wiss mit dem Diskussionspapier „Personalmodelle für Universitäten in Deutschland“ durchgerechnete Alternativen zur aktuellen Situation vorgelegt. (5) Dazu müsste für einige Modelle auch die (Idee einer) Kurien-universität abgeschafft werden, was auch eine Forderung der IG LektorInnen ist. Folgerichtig wird eine demokratische Hochschule mit Faculty- oder Departmentmodell und Mitbestimmungsrecht vorgeschlagen. Das müssen viele Involvierte zwar erst noch lernen, aber hier könnten akademische Aussteiger:innen vielleicht neue Berufsmöglichkeiten finden. In diesem Sinne kommen noch einmal die Autor:innen von #IchBinHanna mit ihrem letzten Satz zu Wort: „Gehen wir es an!“


Bianca Ludewig


(1) Mathias Kuhnt, Tilman Reitz, Patrick Wöhrle (2022): Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten, Creative Commons.
(2) Erläuterungen zur UG-Novelle: shorturl.at/bkTX6
(3) Netzwerk Unterbau Wissenschaft: Unbefristete Verträge für alle – §109 muss weg!
(4) Martin Birkner (Hg.) (2022): Emanzipatorische Wissenschaftskritik in Zeiten von Klimakrise & Pandemie, Mandelbaum, Wien. Der Forderungskatalog der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen ist auch via Open Access <>zugänglich: https://phaidra.univie.ac.at/o:1611083
(5) Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (2020): Personalmodelle für Universitäten in Deutschland. Alternativen zur prekären Beschäftigung: shorturl.at/gikL1
Weiterlesen:

Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon (2022): #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland, Suhrkamp, Berlin.
Katrin Frisch, Felix Hagenström, Nele Reeg (2022): Wissenschaftliche Fairness. Wissenschaft zwischen Integrität und Fehlverhalten, Transcript, Bielefeld.