MALMOE

Schwierigkeiten der Emanzipation

Über das nicht ganz einfache Verhältnis von Kritischer Theorie, Poststrukturalismus und Feminismus

Die Beziehung zwischen Kritischer Theorie und Feminismus war nie spannungsfrei. Mit dem jüngst veröffentlichen Sammelband Kritische Theorie und Feminismus unternehmen Karin Stögner und Alexandra Colligs einen neuen Versuch für einen fruchtbaren Austausch.
Die Kritische Theorie ist einst angetreten, um zu untersuchen, wie sich in einer ökonomisch hoch entwickelten Nation und einem Ursprungsland der Arbeiter:innenbewegung ein Umschlag in die blanke Barbarei vollziehen konnte. Ihre Kategorien und Begriffe entwickelte sie unter anderem auf dem theoretischen Grund des Marxismus. Mithilfe der Hegel’schen Dialektik und der Ideologiekritik möchte die Kritische Theorie den „objektiven Verblendungszusammenhang“ in Form bestimmter Negation(1) und immanenter Kritik(2) offenlegen.
Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus geriet das marxistische Fundament jedoch mindestens in zweierlei Widerspruch. Zum einen manifestierte sich an diesem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) eine keineswegs geradlinig verlaufende Entwicklung der Produktivkräfte auf dem Weg zum Kommunismus, wie sich ein orthodox gelesener historischer Materialismus auslegen lässt. Auch führt der Nationalsozialismus vor Augen, dass das vermeintlich revolutionäre Subjekt (das Proletariat) keineswegs einen Hort der Emanzipation darstellt. Um dem Marx’schen Fundament eine unorthodoxe Aktualisierung zu unterziehen, bediente die erste Generation der Frankfurter Schule sich der Instrumente der Psychoanalyse, um auch die psychischen Vorgänge subjekttheoretisch erklärbar zu machen und die Ökonomie nicht überzudeterminieren.

Kritischen Theorie und Feminismus im Jahr 2022

Karin Stögner und Alexandra Colligs unterbreiten mit ihrem herausgegebenen Sammelband Kritische Theorie und Feminismus Impulse, dieses Verhältnis aktualisiert zu bestimmen. Das 18 Beiträge fassende Werk reiht sich ein in die bereits in der Vergangenheit geführte Diskussion um das Spannungsfeld von Feminismus, Poststrukturalismus/Postmoderne, Psychoanalyse und Kritischer Theorie. Zu nennen sind hier die Bücher Feminism as Critique von Seyla Benhabib und Drucilla Cornel, welches erstmals das Verhältnis von Kritischer Theorie und Feminismus umfassend diskutierte. Zum anderen muss auch Der Streit um Differenz, herausgegeben von Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser, erwähnt werden, führte dieses Buch doch zu einer starken Polarisierung zwischen poststrukturalistisch-partikular und materialistisch-universell argumentierenden Feminismen. Diese starre Gegenüberstellung, so falsch sie auch ist, verhärtete sich um die Jahrtausendwende zu einem ausgeprägten Konflikt im politischen Handgemenge, der bis heute nachhallt. Auch im explizit deutschsprachigen Diskurs erfolgte eine umfangreiche Kritik der Kritischen Theorie aufgrund ihrer attestierten Geschlechtsblindheit. Eine feministische Weiterentwicklung der Kritischen Theorie erfolgte unter anderem ausgehend von Regina Becker-Schmidt und Gudrun Axeli-Knapp in den 1980er-Jahren. Beide sind mit Beiträgen in dem neu erschienenen Band vertreten. Mittlerweile nehmen Theoretiker:innen dieser Strömung jedoch eher randständige Positionen im feministischen und akademischen Diskurs ein – zu Unrecht, wie der Band von Stögner und Colligs in einer großen inhaltlichen Breite unter Beweis stellt.

Beispiel Familie

Als radikal kritische Wissenschaft untersucht die Kritische Theorie gesellschaftliche Institutionen in ihrer Gewordenheit und nimmt das Soziale nie als unveränderliche äußere Natur wahr. Vielmehr wird das Vorgefundene in seiner komplexen, nicht auf ökonomische Faktoren reduzierbaren, geschichtlich-gesellschaftlichen Entstehung analysiert. Explizite Fragen des Geschlechts stellten allerdings nie Dreh- und Angelpunkte der frühen Kritischen Theorie dar. Aufgrund ihrer wichtigen Rolle für die Herausbildung autoritärer Charaktere war jedoch die Familie eines ihrer ersten Untersuchungsobjekte. Bereits den Studien über Autorität und Familie (1936) liegt ein dezidiert historisch-materialistisches Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit zugrunde. Schon dort wurden eine Trennung der Sphären Produktion und Reproduktion sowie eine damit einhergehende Zuweisung von Attributen entlang dieser binären Logik reflektiert.
Zwar identifiziert die ältere Kritische Theorie durchaus emanzipative Momente innerhalb der Familie durch die Liebe, welche keiner Zweckrationalität unterliegt, sondern bedingungslos erfolgt. Vom Zwangscharakter der Gesellschaft bleibt aber auch diese nicht verschont. Adorno resümiert seinen Aufsatz „Zum Problem der Familie“ deshalb wie folgt:
„Man kann nicht die Schutzfunktion der Familie erhalten und ihre disziplinären Züge beseitigen, solange sie ihre Angehörigen vor einer Welt zu beschützen hat, der der vermittelte oder unmittelbare gesellschaftliche Druck inhäriert und die ihn all ihren Institutionen mitteilt. Die Familie leidet an demselben wie alles Partikulare, das nach seiner Befreiung drängt: es gibt keine Emanzipation der Familie ohne die Emanzipation des Ganzen.“
Wie darin anklingt, beweist die frühe Frankfurter Schule ihre Stärken in ihrer Grenzbestimmung gesellschaftlichen Emanzipationspotenzials. Insbesondere neuere Ansätze der Queer Theorie wie „doing kinship“ oder „doing family“(3), neigen dazu, das individuelle Tun zu überhöhen und den gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang zu vernachlässigen. Innerhalb eines konstruktiven Dialogs kann die Kritische Theorie so als Korrektiv und Hinweisgeber für etwaige Sackgassen fungieren.

Kritische Theorie und Poststrukturalismus

Für eine Hervorhebung der Stärken der Kritischen Theorie scheint es sinnvoll, diese in einen Vergleich mit anderen theoretischen Zugängen zusetzen. Vor einer allzu platten Gegenüberstellung der Kritischen Theorie mit dem Poststrukturalismus und postmodernen Zugängen sollte sich jedoch gehütet werden. Einem komplexen Gegenstand wie dem des Geschlechts ist es nicht zuträglich, gar eine gewisse Unvereinbarkeit der Theorien zu postulieren. Ticket-Denken(4) und voreilige Kritik an anderen theoretischen Zugängen dürfen dem Erkenntnisinteresse nicht im Wege stehen.
Essenziell ist in der Kritischen Theorie eine Vorstellung von Gesellschaft als Totalität, welche mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile. Vielmehr meint Totalität das Verständnis von Gesellschaft als sozialen Strukturzusammenhang, wie auch Stögner in der Einleitung zum Band ausführt. Das bedeutet nicht nur, dass es kein „Außerhalb“ der Gesellschaft gibt, sondern dass ein Überhang des Gesellschaftlichen über dem Individuellen besteht: eine Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere. Dementsprechend lässt sich Gesellschaft auch nie vollends über Verhalten und Handeln der vergesellschafteten Subjekte erklären, worauf Gudrun-Axeli Knapp im Band eingeht. Das allumfassende Prinzip, auf welches die Subjekte sich universell zurückgeworfen sehen, ist der Äquivalententausch, oder allgemeiner: die kapitalistische Warengesellschaft. Gegensätzlich dazu ist die Konzeption im Poststrukturalismus, welche Gesellschaft nicht über ihren universellen Zusammenhang versteht, sondern eher über die Differenz, die Diskurse und die daraus produzierten Ein- und Ausschlüsse.
Sucht der Poststrukturalismus Herrschaft also eher in den Subjekten, ihren Praxen und den Diskursen, versteht die Kritische Theorie Subjektivierung selbst als Produkt der gesellschaftlichen Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft. Damit geht sie zweifelsohne über eine strenge Ökonomiefixierung nach Marx hinaus. Vielmehr bedeutet diese Analyseperspektive, alle gesellschaftlichen Institutionen wie Sprache, Psyche, Sexualität, Ästhetik, Vernunft und Denken selbst auf ihre ideologischen Momente hin zu untersuchen. Ein derart gelagerter, komplexer Begriff von Gesellschaft steht einer allzu manichäischen Einteilung der Welt in Unterdrückte und Unterdrücker zu wider, da er anerkennt, dass alle Menschen innerhalb dieses Verweisungs- und Funktionszusammenhangs von Herrschaft durchdrungen sind. Oder in den Worten Stögners: „Darauf zu reflektieren, dass im schlechten Allgemeinen Partikularismus und Universalismus gleichermaßen beschädigt sind, ist eine der vordringlichen Aufgaben einer feministischen Kritischen Theorie.“

Schwierigkeiten der Emanzipation aufzuzeigen

Was würde Karin Stögners in der Einleitung aufgestellte Forderung „mehr Kritische Theorie im Feminismus und mehr Feminismus in der Kritischen Theorie“ für die theoretische Debatte meinen? Mehr Kritische Theorie im Feminismus hätte den Vorteil gegenüber momentan hegemonialeren Zugängen, sich von einer gewissen Singularitätszentriertheit zu lösen, welche dem Subjekt oder der Markierung sehr viel Gewicht zu spricht, und sich damit, wie Kritiker:innen meinen, einer gesamtgesellschaftlichen emanzipativen Perspektive verschließt. Durch das Denken in und Anerkennen von Widersprüchen neigt die Kritische Theorie auch nicht zu einer Strukturfixiertheit streng orthodox-marxistisch inspirierter Feminismen und erkennt widerständige Elemente im Identitätsbildungsprozess an.
Durch ihre Anleihen bei der Psychoanalyse und eine damit einhergehende Perspektive, welche die Vermittlung der gesellschaftlichen Totalität mit dem Subjekt fokussiert, eröffnet sie einen größeren Horizont, als Institutionen nur als Praxisschleifen (Foucault) zu betrachten, wie es Bini Adamczak herausgearbeitet hat.
Ein zu starker Fokus auf Ansätze, welche in ihren Ursprüngen aus der Linguistik kommen, kann den Blick davor versperren, dass Menschen eben keine zu Fleisch gewordenen Codes oder Semantiken sind. Unser menschliches Handeln, die Praxis und die ihr innewohnende Lebendigkeit fordern die Ordnung der Diskurse stetig und fortlaufend heraus. Dies kann durch einen materialistischeren Zugang sichtbar gemacht werden.
Die Schwierigkeit ist und bleibt, dass ein Verständnis von Gesellschaft als Totalität und ihren verselbstständigten gesellschaftlichen Verhältnissen dazu tendiert, die Eigenlogik in den Praxen der gesellschaftlichen Akteur:innen nicht ausreichend wahrzunehmen sowie deren Selbstverständnissen zu wenig Raum und Gewicht zu geben.
Die Stärke der Kritischen Theorie liegt also auch für feministische Diskurse nicht darin, unmittelbare Möglichkeiten der Emanzipation, sondern deren Schwierigkeiten aufzuzeigen.


Nikolas Becker


Niko studiert aktuell im Master Gender Studies an der Uni Wien. Dabei interessiert er sich insbesondere für den Komplex Männlichkeit und versucht, die Kritische Theorie für dieses Thema fruchtbar zu machen.
(1) Bestimmte Negation meint in der Kritischen Theorie Ähnliches wie der Begriff der Ideologiekritik. Der Begriff kann gewissermaßen als Gegenteil einer abstrakt-moralischen Kritik verstanden werden. Die bestimmte Negation zieht ihren kritischen Gehalt daraus, dass sie sich auf die realen Verhältnisse bezieht. Durch konkrete Benennung des Falschen wird indirekt darauf verwiesen, was sein soll.
(2) Immanente Kritik bedeutet, die Widersprüche der Verhältnisse innerhalb ihrer eigenen Logik offenzulegen. Beispielsweise anhand der Funktionslogik des Kapitalismus nachzuweisen, dass immerwährendes Wachstum seine eigene Existenz untergräbt. Damit verweist auch immanente Kritik über die bestehenden Verhältnisse hinaus.
(3) „Doing kinship“- und „doing family“-Ansätze entspringen dem Gedanken, dass gesellschaftliche Institutionen wie Verwandtschaft (kinship) oder Familie entkoppelt von biologischen Abstammungsverhältnissen und rein durch Praxis und Performanz hervorgebracht werden können. Im posthumanistischen Verständnis von „doing kinship“ soll kinship auch mit Tieren, Gegenständen, Pflanzen und allen lebenden und nicht lebenden „beings“ eingegangen werden können.
(4) Ticket-Denken oder Ticketmentalität geht auf Ausführungen in den „Elementen des Antisemitismus“ in der Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos zurück. Bildlich gesprochen wird sich ein Ticket eines bestimmten Standpunkts, eines Mindsets, gezogen und von diesem aus Urteile über die verschiedensten Gegenstände gefällt, ohne ernsthaftere Reflexion zuzulassen. Ticket-Denken ist damit gleichsam eine Absage an das Denken an sich.
Alexandra Colligs / Karin Stögner (Hg.) (2022): Kritische Theorie und Feminismus. Suhrkamp, Berlin