MALMOE

Wir spielten im Schatten der Nervenklinik

Stephan Roiss legt mit Triceratops ein beklemmend schönes Debüt vor. Eine Mischung aus Familienroman, Coming-of-Age-Story und Psychiatrie-Literatur, die menschliche Abgründe poetisch auslotet

Die Mutter muss alle paar Wochen in die geschlossene Anstalt. Der bibeltreue Vater ist zwar anwesend, aber nie für seinen Sohn da („Vater übergab uns die Bibel, griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher wieder ein. Werbung für Zahnpasta, Werbung für Milch. Wir lasen leise vor uns hin […] ‚Pscht‘, machte Vater. Werbung für das Brettspiel des Jahres.“). Ebenso wenig wie für seine Tochter, die autistische ältere Schwester des Erzählers. Sie lebt in ihrer eigenen Welt aus Zahlen und geometrischen Mustern und muss doch früh Verantwortung für ihren kleinen Bruder, der von sich selbst als „Wir“ spricht, übernehmen. Im Laufe der Geschichte, die sich in kurzen, chronologischen Kapiteln von der frühen Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter des Protagonisten erstreckt, stellt sich heraus, dass die Aschbach-Großmutter – hantige Alkoholikerin mit weichem Herz – die einzige ist, bei der er sich einigermaßen wohl fühlt. Ihr kleiner Bauernhof samt umliegendem Wald ist sein liebster Rückzugsort. In diesem Wald befindet sich auch eine vom verstorbenen Großvater erbaute kleine Hütte, die – wie der Großvater selbst – von großer Bedeutung für die Story und ihren Erzähler sein wird. Möchte er zu Beginn des Romans noch Psychiater werden, um anderen Menschen zu helfen („‚Das heißt nicht Plüschiater‘, sagte die Aschbach-Großmutter.“), werden seine eigenen Probleme von Kapitel zu Kapitel immer größer und mannigfaltiger.

Neben ständigem Unwohlsein mit dem eigenen Körper (Neurodermitis, Enuresis, Akne) steigt mit zunehmendem Alter auch die Unlust, sich um seine immer bedürftige Mutter zu kümmern, seinen schulischen Pflichten nachzukommen, den braven Buben zu mimen. Mehr und mehr flüchtet er sich in seine Leidenschaft für das Malen von Drachen und Dinosauriern, wobei er sich stark mit dem Triceratops mit der Hornhaut und dem Nackenschild identifiziert. Er unternimmt lange Wanderungen, isoliert sich: von seinen MitschülerInnen, die ihn entweder mobben oder meiden, von seinen Verwandten, die ihm zwar Zuneigung entgegenbringen und immer einen guten Ratschlag parat haben, aber keinerlei Bemühungen unternehmen, sich für seine Interessen zu erwärmen:

„Wir saßen im Schneidersitz auf dem Bett, aßen Butterkekse und malten uns selbst […]. ‚Immer nur kritzeln‘, sagte sie. ‚Du bist doch kein kleines Kind mehr.‘ Wir nahmen das letzte Keks aus der Packung und während wir es zerkauten, malten wir uns einen Ritterhelm. ‚Und, wie heißt das Monster?‘, fragte Mutter, doch sprach weiter, bevor wir ihr antworten konnten. ‚Werd mir bloß kein Künstler. Die verdienen überhaupt kein Geld‘.“

Nach und nach gibt der Erzähler Ereignisse preis, die beispielsweise die Wandlung seiner Mutter von einer übermütigen und lebensfrohen Frau zu einer dürren Psychopathin erklären, während er selbst immer tiefer in die Isolation driftet, nur kurzzeitig Halt findet bei Außenseiter-Cliquen. Auch bei den Frauen hat er kein Glück. Auf der zehntägigen Spanienreise zu seiner Firmung lernt er ein „Mädchen mit kahlrasiertem Kopf, Nasenpiercing und purpurnen Lippen“ kennen und schreibt in einem seiner unzähligen Briefe an sich selbst, dass „Silvana unsere zweite große Liebe ist. So groß, dass wir beschlossen haben, die erste nicht zu zählen“. Doch Silvana wendet sich genauso von ihm ab wie später Helix, die ihn zuerst in ihre Gang aufnimmt und ihm die coolen Orte zeigt. Allen voran das „Café Against The Machine“ und das „Paradies“, einen Dachboden in einem verfallenen Wohnhaus, wo sie gemeinsam die Zeit totschlagen. Sie nimmt ihm seine Unschuld, lässt ihn aber kurze Zeit später bei einem heftigen Streit wissen: „Du fickst richtig behindert.“

Mehr hat es nicht gebraucht, völlig verstört und endgültig desillusioniert packt der inzwischen mit einer starken Neigung zur Pyromanie ausgestattete Protagonist seine Sachen und nimmt Reißaus. Die Nachricht, dass seine Schwester in die Psychiatrie eingeliefert wurde, lässt ihn zurückkehren und Freundschaft mit einem ihrer Mitinsassen schließen. Triceratops ist ein Pageturner im besten Sinn, formal und erzählerisch gleichermaßen unkonventionell wie bestechend, mit hohem Wiedererkennungswert speziell für Leute, die im Österreich der 1990er Jahre aufgewachsen sind.

Stephan Roiss (2020): Triceratops, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien. Selbstverständlich erhältlich bei Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.