MALMOE

Koloniale Kontinuitäten im ­Stadtbild Wiens

Erinnerungspolitische Anstöße zu weißer* Überlegenheit am Beispiel von Straßennamen und Denkmälern

Geht eins durch Wiens Straßen und hält Ausschau nach kolonialen Spuren, sind diese nicht unmittelbar auffallend. War ja das damalige Habsburg-Imperium nur peripher an dem Projekt europäischer Kolonialisierung beteiligt. Sprich Österreich hatte nur vergleichsweise kurz ein Kolonialreich. Dies wird auch immer wieder herangezogen, um die imperialen Verstrickungen zu relativieren oder gar zu leugnen, wenn es darum geht, die österreichische Geschichte in Bezug auf die koloniale Vergangenheit zu verhandeln. Nun, so einfach ist es nicht. Zum einen machen viele Schwarze Aktivist*innen seit Jahrzehnten darauf aufmerksam, dass Österreich enorm vom Kolonialismus profitiert hat, darin auch eine aktive Rolle spielte und von dem Verhältnis weißer Überlegenheit bis heute profitiert. Zum anderen kann durchaus anhand konkreter Beispiele belegt werden, dass sich ein koloniales weißes überlegenes Selbstbild in den Repräsentationen von Denkmälern, Straßennamen und Ortsbezeichnungen finden lässt.

Aufarbeitungsbaustelle Wien

Erst in jüngster Geschichte kam es zu Anstrengungen, diese kritisch aufzuarbeiten und in die weiße Repräsentationskontinuität zu intervenieren. Das produzierte hegemoniekritische Wissen ist ein sehr junges und alles andere als vollständig. So gab es zum Beispiel 2013 eine ausführliche Forschung zu Rudolf Pöch (1870–1921) von Sophie Schasiepen, aber noch keine konkreten Veränderungen an dem Pöch-Denkmal im Arkadenhof der Universität. Im Fall Pöch stellte auch der Historiker*innen-Bericht über Wiens Straßennamen, verfasst von Oliver Rathkolb, Peter Autengruber, Birgit Nemec und Florian Wenninger, die von 2011 bis 2013 Wiens Straßennamen hinsichtlich ihrer politischen Symbolik untersuchten, fest, dass es zur Pöchgasse einer historisch kritischen Diskussion bedarf. Rudolf Pöch ließ unter anderem illegal Gräber ausheben, um menschliche Überreste aus dem südlichen Afrika nach Wien für Studienzwecke zu schicken. Neben dem Denkmal gibt es nach wie vor die Rudolf-Pöch-Gasse im 14. Bezirk.

Lücken im Straßen­­namenbericht

Der Straßennamenbericht zu Wiens „politischen Erinnerungsorten“ nimmt kolonialrassistische Diskurse nicht in den Blick. Dass sich Rudolf Pöch als einer, der sich an dem kolonialrassistischen Projekt der Anthropologie einbrachte, in dem Bericht findet, ist jenem Fakt geschuldet, dass er die Vorarbeit der rassistischen NS-Ideologie leistete. Die Querverbindungen zu kolonialrassistischen Verhandlungen in dem Bericht bestehen eben nur in Verbindung zur NS-Geschichte. Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist in Österreich bisweilen hauptsächlich im Aufkommen antisemitischer Formierungen und faschistischer Tendenzen verortet worden und beinhaltete noch keine Auseinandersetzung mit dem Konzept weißer Überlegenheit. Eine Neuaufnahme des Straßennamenberichts, der Kolonialität und weiße Überlegenheit miteinschließt, ist daher ausständig und notwendig. So wurden in dem Bericht beispielsweise auch die augenscheinlichsten Diskriminierungen in Straßennamen ignoriert. Die Große und die Kleine M*-Gasse im zweiten Bezirk waren schlicht nicht Teil der Aufarbeitung, deren Umbenennung die Recherchegruppe zu Schwarzer Geschichte Österreichs bereits vor dem Abschluss der Untersuchung zu Wiens Straßennamen, seit über einem Jahrzehnt fordert.

Ein konstruktiver Umgang steht noch aus

Es gab zu Kolonialismus keine gesellschaftliche Aufarbeitung, und die Nachwirkungen bilden sich bis heute in den rassialisierten sozialen Ordnungen der post-migrantischen Gesellschaften oder eben als color-blindness in der Aufarbeitung von Rassismus weißer Liberaler ab. Die Diskussionen in Deutschland sowie in den Niederlanden verhalten sich hinsichtlich der Beziehung von Rassismus und Antisemitismus ähnlich. Die Aufarbeitung des antisemitischen Rassismus und die singuläre Konzentration auf den Holocaust als eine historische Ausnahme führte dort zu teils heftigen Auseinandersetzungen mit Vertreter*innen postkolonialer und dekolonialer Positionen. Problematisiert wurde von Letzteren, dass der Holocaust als eine singuläre Ausnahme in der europäischen Geschichte der Moderne einer umfassenden und grundsätzlichen Beschäftigung mit Rassismus und seinen Wurzeln im Weg steht. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan wiesen darauf hin, dass „postkoloniale Studien und Holocaustforschungen in einen produktiven Austausch gebracht werden (können und sollten), gerade um die im Namen rassistischer Ideologien und imperial-politischer Projekte ausgeübte Gewalt nuancierter sichtbar zu machen.“ Denn historisch betrachtet, sind Völkermord und Moderne ohne Zweifel eng miteinander verbunden. Wie auch Hannah Arendt konstatierte, sind die imperialistischen Praktiken als Vorläufer des nationalsozialistischen Terrors zu verstehen.

„Hier“ wie „dort“ wird interveniert

Die Black Lives Matter-Proteste in Bristol entzündeten erneut die Debatte um Denkmalkultur und Geschichtspolitik, als die Protestierenden die Statue des Händlers von Versklavten Edward Colston von ihrem Sockel rissen, zu Fall brachten und sie später im Hafenbecken versenkten. In Antwerpen demontierten Protestierende im Zuge der BLM-Proteste eine Statue von König Leopold II. Die spontanen Aktionen der Aktivist*innen richten sich gegen die Verherrlichung von massenhafter Gewalt, Entrechtung, Mord und Demütigung von Schwarzen und zeigt, dass diese erinnerungspolitische Arbeit längst überfällig ist.

Doch wird nicht nur in den ehemals kolonisierenden Ländern dekoloniale Geschichte geschrieben. Auch in Chile wurden Ende vergangenen Jahres massenhaft Denkmäler, die kolonialrassistische Diskurse repräsentieren, während der Proteste gegen die neoliberale Politik Piñeras gestürzt, übermalt oder umgestaltet. Eine beispielhafte Intervention von Aktivist*innen war, dass sie auf den Sockel einer Statue von Francisco de Aguirre eine Figur stellten, die die Diaguita, ein indigenes Volk im Norden Chiles, repräsentiert.

Bisherige Anstrengungen zur Aufarbeitung kolonialer Kontinuitäten im öffentlichen Raum Wiens beschränken sich auf einzelne Initiativen wie die Interventionen des Kollektivs Trenza, einer Gruppe aus in Wien lebenden Künstler*innen, Wissensproduzent*innen und Aktivist*innen, der lateinamerikanischen Diaspora. Zum Kolumbustag 2017 machten sie eine Intervention am Kolumbusdenkmal. 2019 riefen Aktivist*innen zu anti-kolonialem Widerstand vor dem Naturhistorischen Museum auf, an dessen Fassade sich auch eine Kolumbusstatue befindet.

Bereits 2005 begab sich die „Recherchegruppe zu Schwarzer Geschichte Österreichs“ von Evelyn Arthur-Johnston, Belinda Kazeem-Kaminski, Claudia Unterweger und dem Verein Pamoja auf den Weg, in die weiße Geschichtsschreibung Österreichs zu intervenieren, indem sie die Umbenennung der Löwengasse im dritten Bezirk in Josefine-Soliman-Straße forderte bzw. diese temporär in einer Kunstaktion umbenannte. Josefine Soliman lebte in der Löwengasse, damals Kirchengasse 38. Die „Decolonising Vienna Tours“ waren Stadtverführungen in Wien als Teil der Wiener Festwochen 2007.

Wichtige Vorarbeit für die Neubesetzung von Orten machen die oft selbstorganisierten Stadtspaziergänge. Bei der sich selbstermächtigend die eigene Erzählung angeeignet wird. Grundlegende Arbeit in Bezug auf Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Schwarzer Geschichte kommt von der Historiker*in Jaqueline Ejiji, die Stadtspaziergänge zu Schwarzer Geschichte in Wien in Bezug auf die Repräsentation Schwarzer Menschen in Österreich führte. „Kollektive Methoden des Verlernens“ waren von Carla Bobadilla initiierte Spaziergänge zu Orten in Wien, die in Bezug zum kulturellen Erbe des Kolonialismus stehen und den Stadtraum von Wien performativ erkundeten. Am Institut für Internationale Entwicklung lehrt sie aktuell mit Margarete Grandner, Marcela Torres Heredia und Gregor Seidl in dem Seminar „Dekoloniale Stadterkundungen als Methoden und Vermittlungspraxis. Methoden in Bewegung im Machtraum Wien“.

Es bleibt noch viel zu tun, aber es ist auch bereits einiges getan worden, auf das sich aufbauen lässt. Die meist aktivistische Forschung leistet hier in dem Feld Erinnerungspolitik wichtige Beiträge. Sie hat auch das Potential, in der Gesellschaft Verankerung zu finden und von unten eine große Wucht zu erzeugen. Die aktivistische Forschung in anderen europäischen Ländern dazu ist leider großteils ehrenamtlich, wie zum Beispiel das Dossier zu kolonialen und rassistischen Straßennamen in Berlin Stadt neu lesen. Dieses hat alle Straßennamen Berlins durchforstet und kam zu dem Ergebnis, dass es über 70 Straßennamen mit Kolonialbezug gibt. Das Dossier trug zur Umbenennung des Gröbenufers in das May-Ayim-Ufer bei. Die Auseinandersetzung um Erinnerung ist ein Prozess um Anerkennung in einem Machtgefüge und deshalb auch ein Kampf um Erinnerung mit den gegenwärtigen Verhältnissen. Und wie Fatima El-Tayeb treffend konstatiert, „bleibt der öffentliche Raum [in der Reproduktion und Adaption von Herrschaftsgeschichte] eines der wichtigsten Felder in der Auseinandersetzung um Erinnerung.“

* Um auf die soziale Konstruktion von rassial­isierenden Kategorien hinzuweisen und möglichst ohne verletzende Sprache über weiße Überlegenheit zu schreiben, wurde in dem Artikel weiß, weiße, weißer, … jeweils durch Kursivsetzung markiert. Das Adjektiv Schwarz wurde ebenfalls jeweils kursiv gesetzt, jedoch großgeschrieben, um auf das Widerstandspotential hinzuweisen. (Zur Schreibweise vgl.: Arndt, Eggers, Kilomba, Piesche (Hg.), Mythen, Masken, Subjekte, 2005, S. 13.)