MALMOE

Das symbolische Zentrum Europas

Ein Kommentar zum Flüchtlingslager Vučjak in Bosnien und Herzegowina

Im Jahr 2011 sagte der schwedische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Henning Mankell: „Das symbolische Zentrum Europas ist Lampedusa. Weil sich auf dieser Insel entscheidet, welche Art von Europa wir haben wollen.“ Im Jahr 2019, in dem Seenotretter_innen mit Gefängnis bedroht werden, da sie laut dem ehemaligen und künftigen österreichischen Bundeskanzler Anreize für die Flucht nach Europa schaffen, in dem eben dieser Bundeskanzler gerne betont, dass er persönlich die Balkanroute geschlossen hat, in dem der zur Zeit dieser Aussage amtierende österreichische Innenminister dafür eintrat, „Flüchtlinge konzentriert unterzubringen“ (ohne damit selbstverständlich irgendeine Assoziation mit der NS-Zeit zu beabsichtigen, für die Österreich seine Mitverantwortung über Jahrzehnte leugnete) – in diesem Jahr gibt es viele symbolische Zentren Europas.

Eines davon ist Vučjak, 10 km von der bosnischen Stadt Bihać und wenige Kilometer von der Grenze nach Kroatien entfernt. Ein Geflüchtetenlager auf einer Chemiemülldeponie, in dem Menschen wie Müll entsorgt werden. Mitten in einem Wald, in dem Schlangen ebenso zu finden sind wie Landminen. Ohne Strom, ohne Wasser, ohne ausreichende Nahrung, ohne Toiletten.

Vučjak ist ein Resultat der Schließung der Balkanroute. Dass Menschen, die vor drohendem Tod und verschwindenden Lebenschancen fliehen, durch Grenzschließungen von ihrer Hoffnung auf ein lebenswertes Leben abgehalten werden können, ist ein offensichtlich absurder Mythos. Grenzschließungen führen zu geänderten Fluchtrouten – etwa über Bosnien-Herzegowina nach Kroatien, das sich seinen Status als gehorsamer EU-Mitgliedsstaat und europäisches Urlaubsparadies erhalten will. Die idyllischen Strände dürfen nicht durch Geflüchtete gestört werden; diese müssen hinter den Bergen bleiben. Asylwerber_innen werden an der kroatischen Grenze brutal zurückgestoßen, zum Teil schwer verletzt. Handys werden zerstört, damit der Weg Richtung Kroatien nicht gefunden werden kann, und Schuhe abgenommen, damit dieser Weg nicht mehr gegangen werden kann. Und schaffen es Geflüchtete doch nach und durch Kroatien, dann werden in Slowenien Hunde auf sie gehetzt. Somit kommen sie jedenfalls nicht bis nach Österreich.

Und so bleiben tausende Geflüchtete in Bosnien, einem der ärmsten Länder Europas. Dies führt notwendigerweise zu Konflikten – und gewalttätige Auseinandersetzungen boten dem Bürgermeister von Bihać im Juni 2019 den Anlass, Geflüchtete zusammentreiben und nach Vučjak schaffen.

Gemildert wurde die Situation dort durch freiwillige medizinische Helfer_innen, die im Lager arbeiteten, bis ihnen dies Ende September untersagt wurde. Sie wurden wegen illegaler Arbeit angezeigt und bestraft. Seither ist die medizinische Versorgung in Vučjak zusammengebrochen. Und der Bürgermeister von Bihać eskaliert weiter, reduziert die Versorgung mit Wasser und Nahrung, um Druck auf die bosnische Regierung und die EU auszuüben – auf Kosten des Lebens der Geflüchteten.

Doch zivilgesellschaftliches Engagement kann er nicht verhindern. Bedroht von den Behörden, bespitzelt und schikaniert von ihren Nachbar_innen unterstützen Frauen in Bihać Geflüchtete, organisieren Kleidung und Essen, Schlafplätze und Duschmöglichkeiten. Und in Österreich werden Spenden gesammelt und Transporte organisiert, auch gegen den Willen von Politiker_innen.

Mittlerweile hat der Druck der Öffentlichkeit auch die EU zum Handeln gezwungen. Dieses Handeln ist scheinheilig – Menschenrechtsverletzungen in Bosnien werden angeprangert, die EU-Abschottungspolitik wird nicht thematisiert. Armut wird gegen Armut, Trauma gegen Trauma ausgespielt.

Doch immerhin erscheint es zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Artikel geschrieben wird, wahrscheinlich, dass das Lager Vučjak demnächst geschlossen wird. Das ist gut. Doch löst es nicht die Frage nach der Zukunft der Geflüchteten in Bosnien. Diese Frage kann nur die EU beantworten. Und diese Antwort entscheidet, welche Art von Europa es geben wird.

Informationen zu Unterstützungsaktionen für das Lager Vučjak in Österreich finden sich hier: https://www.facebook.com/SOSBalkanroute/