MALMOE

Im Angesicht der Katastrophe

Der Roman Schermanns Augen schildert aus einem sibirischen Gulag den Untergang der europäischen Demokratien

Mit Schermanns Augen gelingt Steffen Mensching der große literarische Wurf: Die Prosa dringt aus der Perspektive eines sibirischen Gulags tief in die Turbulenzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Sie zeigt, wie der Einzelne durch die außer Kontrolle geratenen gesellschaftlichen Konflikte zermalmt wird.

Auf dem Rücken des Anti-Helden Otto Haferkorn werden die Konflikte zwischen Links und Rechts, zwischen Liberalismus und Autorität ausgetragen. Obwohl sie schon längst entschieden sind. Er ist bloß Statist in seinem Leben als überzeugter Stalinist. Im Wunderland der Werktätigen entscheidet nicht er über sein Leben. Es sind stets Zufälle, falsche Orte zu falschen Zeiten, an denen er sich aufhält und die sein Leben bestimmen.

Auf der anderen Seite der Held: Raphael Schermann. Er schafft es in den Demokratien der 1920er Jahre mit seinen graphologischen Fähigkeiten zu herausragendem Ruhm. Es ist eine Welt, in der Hellseher, Scharlatane und dubiose Lebensläufe Hochkonjunktur haben. Er ist der Schriftleser Europas.

Seine übersinnlichen Fähigkeiten zerbröseln im Laufe der Erzählung zu bloßer spitzfindiger Beobachtungsgabe, gepaart mit rhetorischer Kraft und einem Schuss Dreistigkeit. Doch sein Glaube an die göttliche Wirklichkeit bleibt auch in der Hölle des Gulags unanzweifelbar.

In der Lazarett-Baracke des Arbeitslagers irgendwo nordöstlich von Moskau kreuzt sich der Weg des gläubigen Schermans mit dem des im Marxismus geschulten Materialisten Haferkorn. Schermann ist auch noch inmitten des elendigen Gulags überzeugt, dass die Welt auf Gnade und Liebe gebaut ist. Doch durch den trockenen und unromantischen Blick auf die Menschen, den Schermann pflegt, wirkt es, als sei der Glaube beim Materialisten Haferkorn weit stärker als beim Schriftenleser, der sich all der bestialischen Untiefen der menschlichen Seele bewusst ist, während für Haferkorn „die Weisheit Stalins“ und die der Partei unbestritten bleibt. Die Unfehlbarkeit der Revolution gilt für ihn noch immer, obwohl er selbst durch innerparteiliche Intrigen als Faschist denunziert wurde und im Gulag landete.

Haferkorn wird zu Schermanns Übersetzer, denn Schermann behauptet, nur Jiddisch und Deutsch zu sprechen und Haferkorn ist der einzige im Lager der Deutsch spricht. Schermann will, anders als Haferkorn, sein Schicksal nicht hinnehmen und glaubt fest daran freizukommen. Während der Zeit im Lager, erzählt der Schriftenleser seine Lebensgeschichte. Entweder während er vom Lagerleiter verhört wird, oder im Gespräch mit Haferkorn.

In seinen Augen hat ihn Karl Kraus berühmt gemacht, sogar mit den Granden der Wiener Kaffeehauskultur hat er ihn bekannt gemacht. Um Erfolg zu haben, müsse man in die richtige Gesellschaft, schildert das Genie dem jungen Kommunisten. Und Schermann zeigte sich erkenntlich: Nur mit seiner Hilfe stellte Kraus Die letzten Tage der Menschheit fertig. Denn durch die Analyse der Schrift von Kraus’ Geliebter, konnte er den Liebeskummer des Kritikers, der sich zur Schreibblockade verfestigt hatte, trösten.

Schermanns Leben war das Leben eines Europäers: Im Galizien des Kaiserreiches aufgewachsen verschlug ihn sein Leben unter anderem nach Wien, Berlin und Paris. Haferkorn erzählt von seiner Flucht vor Hitler und von seinem Leben im Moskau der Zeit von Stalins Säuberungen. Aus dieser vergangenen Welt offenbart der Roman faszinierende und aufregende Anekdoten, die historische Fakten und Dichtung meisterlich vereinen.

Der Roman Schermanns Augen überzeugt nicht nur durch eine gewaltige sprachliche Pracht, sondern ist auch der Versuch, das turbulente Europa der 20er und 30er Jahre gerade von einem Ort aus zu beschreiben, an dem sich die Katastrophe bereits vollends entfaltet hat. Der Gulag, irgendwo in der sibirischen Kälte, zeigt sich als barbarischer Ort, in dem erhabene Ideen und Ideale langsam, aber gewiss zerbröseln. Mensching zieht den Leser tief hinein in die Abgründe der menschlichen Psyche und schafft es dennoch an diesem unmenschlichen und eisigen Ort einen kleinen Funken Hoffnung aus weiter Ferne blendend strahlen zu lassen.

Steffen Mensching: Schermanns Augen. ­Wallstein Verlag, Göttingen 2018