MALMOE

Die Singularität in uns

Bike.Polo.Stadt. (#21)

Der kleine rosa Ball rollt schon wieder nicht fröhlich über den Polo Platz. Sei’s drum – es ist ohnehin Winter, ein paar Wochen eine gute Ausrede zu haben, im Warmen zu bleiben, ist auch nicht zu verachten. Außerdem habe ich beschlossen, mich nicht mehr zu intensiv mit den aktuellen Unfähigkeiten der breiten Masse zu beschäftigen. Sie können nicht einmal ab und an eine Maske tragen, auf das tolle Erlebnis Shoppingcenter verzichten, sich generell ein wenig einschränken oder auch nur begreifen, was ein Virus ist? Gut, dann machen wir eben wieder ein paar Wochen Pause. Schön wäre es, wenn sich jener Teil der Bevölkerung, den wir schon durch die ganze Menschheitsgeschichte mitschleppen und der sich aktuell in seiner grenzenlosen Un- und Fehlbildung für querdenkend hält, selbst ein wenig dezimieren würde. Aber wie so oft zahlen leider auch viele, die nicht auf der Party waren, die Rechnung. Eine Freundin von mir lebt in Taiwan. Der letzte taiwanesische Corona-Fall, erzählte sie mir unlängst, liegt 207 Tage zurück (Stand: 27.11.2020) – kurzum: Viel weniger Menschen müssten in Europa an Corona sterben. Unsere Unmündigkeit tötet, wieder einmal.
Ich wende mich in meiner staatlich verordneten Pause statt dem kleinen rosa, dem großen schwarzen Ball zu. Heino Falcke, Radioastronom an der Radboud-Universität in Nijmegen, und einem großen Team an ForscherInnen ist vor etwa einem Jahr die erste Abbildung eines schwarzen Lochs gelungen. Was der Mensch nicht sieht, glaubt er nicht. Damit ist seit einiger Zeit bei schwarzen Löchern Schluss. Flimmernde Materie um den Schwarzschildradius, in der Mitte irgendwo die unsichtbare Singularität. Fehlende Details auf dem Foto spielen keine so große Rolle. Auch für mich nicht. Dem ersten Schritt ins Unbekannte haftet immer etwas Dreck, Abenteuer und Wildheit an, ich wäre skeptischer, wäre das Foto gestochen scharf. Ein Jahr danach ist in der Methode immer noch kein Fehler aufgetaucht, wir können davon ausgehen: Wir sehen tatsächlich ein schwarzes Loch. Ich kann mich der Faszination, die diese Aufnahme ausübt, nicht entziehen und ertappe mich dabei, sie minutenlang anzustarren. Die Menschheit ist bei der Entdeckung der Welt, in der wir leben, einen weiteren Schritt vorangekommen. Ob das alles einem göttlichen Plan folgt oder nicht, erscheint mir persönlich ziemlich nebensächlich.
Für den Fotografen des Gravitationsmonstrums im Zentrum der Galaxie Messier 87 spielt Gott aber trotzdem eine Rolle. „Wer es wagt, über die Grenzen der Physik hinaus zu fragen, kommt an Gott nicht vorbei“, ist Heino Falcke überzeugt. Auch ich denke, dass Wissenschaft und Gott keinen Widerspruch darstellen. Warum auch? Die Frage, was vor dem urigsten Urknall aller möglichen Urknalle war und warum es zu diesem kam (Langeweile oder doch nur ein weiteres motivationsloses physikalisches Ereignis?), und der Versuch, die Welt, die danach entstand, zu verstehen, sind schließlich zwei völlig unterschiedliche Dinge.
„Für den gläubigen Menschen steht Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende aller Überlegungen“, hat Max Planck einmal gesagt. Womit wir bei dem Irrweg wären, den das „Oaschloch von Wien“, der Papst mit seinem Kondomverbot, die polnischen AbtreibungsgegnerInnen, die leichtgläubigen EsoterikerInnen, der größenwahnsinnige alte Mann am Bosporus und all die anderen Wirrköpfe, für die erst ihre imaginären Freunde und dann erst die Welt, in der sie leben, zählen, begehen. Religion. Nichts würde das Göttliche, so es existent ist, mehr verabscheuen als Religion. Das wahrscheinlich ewige Mysterium der Existenz des Seins in Regeln zu zwängen, ist dermaßen kleinkariert menschlich gedacht, dass man eigentlich vermuten sollte, die erbärmliche Lächerlichkeit des Unterfangens würde sich jedem Menschen früher oder später offenbaren. Tut es nicht – wenn mensch seinen menschlichen Gott, Religion eben, an erste Stelle setzt. Der Rest ist eine Hochgeschwindigkeitsverbindung in die Verblendung. Die Ethik hält alle Handlungsanweisungen und Ratgeber für das Leben bereit, ohne dabei Unterwerfung, Unmündigkeit und Leid zu fordern und zu fördern.
Ich, als Agnostiker stelle mir die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest nicht, solange wir nichts darüber wissen, negiere aber auch nichts, über das ich nichts weiß, und lebe sehr gut damit. Menschen, die an die Existenz eines Gottes glauben und sich gleichzeitig voller Tatendrang an die Entdeckung der Welt machen, in denselben Topf werfen wie Salafismus, Opus Dei oder die Religion des Marktes der Neoliberalisten? Das halte ich für falsch. Erstere leben in der Welt, umgeben von einem höheren Prinzip, zweitere blenden fast alles in der Welt, in der sie leben, aus, damit sie ihre kleingeistigen Regeln nicht als offenkundig falsch erkennen müssen. Sicher wäre es schön, wenn Menschen wie Heino Falcke ihren durchaus pragmatischen Protestantismus gar nicht mehr benötigten, aber im Endeffekt ist es doch die Intensität der transzendentalen Vorstellung, die den Unterschied zwischen FanatikerInnen religiösen Menschen oder AtheistInnen ausmacht. Denn an irgendetwas glauben wir alle, selbst an das Nichts muss mangels besseren Wissens geglaubt werden.
Die Singularität ist übrigens kein Loch, kein endloser Schlund, keine bodenlose Hölle, sie ist eine Kugel, von allen Seiten gleich, sowohl im Zentrum von Galaxien als auch in uns. Aber auch hier bleibt die Frage: Was ist Religion? Eine Frage, auf die wir ÖsterreicherInnen in diesen Tagen auf traurige Art und Weise gestoßen wurden. Sind ein pragmatischer Rest-Protestantismus oder ein praktisch-folkloristischer Buddhismus, die sich im Grunde auf den gemeinsamen Glauben an ein höheres Prinzip ohne spezifische Definition reduzieren und eigentlich keinerlei Beschränkungen des Denkens auferlegen, wirklich dasselbe wie die katholische Kirche mit ihrem Kondomverbot oder Salafismus, Opus Dei, Erdogans islamistische Staatsterrorreligion, die polnischen AbtreibungsgegnerInnen oder das Wiener Oaschloch und seine Taten? Sie alle legitimieren sich über Religion, und doch sollten wir sie nicht in denselben Topf werfen.

3,2,1 … Polo