MALMOE

Die Biennale als Schule


Die erste Autonome Kunstbiennale in Tel Aviv

Auf der documenta fifteen erklärte die Künstler:innengruppe ruangrupa das Fridericianum in Kassel zu einer Schule, um dort kollektive Projekte zum Lernen und Verlernen sowie zum Austausch eines translokalen Wissens zu bündeln. Auch die Autonome Kunstbiennale in Tel Aviv, die im April dieses Jahres das erste Mal stattfand, versammelt solche „Experimente des Lernens“. Doch findet die Biennale in Tel Aviv nicht in einem Museum, sondern in einer richtigen Schule statt, deren Klassenzimmer zu Ausstellungs- und Workshopräumen umfunktioniert wurden: Die Biennale wurde in Kooperation mit den Lehrer:innen und Schüler:innenen des Hebräischen Herzliya Gymnasiums, der ältesten Schule Tel Avivs, entwickelt.
Aus einem ideologischen Staatsapparat heraus entsteht so das Versprechen eines neuen Anfangs: Die erste einer Reihe von Ausstellungen, die das hegemoniale Wissen und die mit ihm verknüpften Formen des Lehrens und Lernens sowohl stören als auch sich darin einschreiben. In dieser Hinsicht ist der Name Autonome Kunstbiennale bestens gewählt. Von den 40 Künstler:innen, die das Programm gestalten, sind etwa ein Drittel Palästinenser:innen und zwei Drittel Frauen. Im Programm werden lokale Kämpfe mit internationalen Kunstwerken und Fragen nach Freiheit und Gleichheit konfrontiert. Die Biennale ist dabei nicht von staatlicher Unterstützung abhängig, sondern fußt auf der selbstorganisierten Initiative einiger Künstler:innen, Lehrer:innen und Kurator:innen.

Gleichheit erlernen

Die Autonome Kunstbiennale findet zeitgleich mit den größten Protesten statt, die Israel je gesehen hat, und ist gleich mittendrin. Fragestellungen und Gegenstand der Biennale verhalten sich dabei zum ideologischen Staatsapparat der Schule entlang von benutzen/zerrütten/ausdehnen/ablehnen. Das Herzliya Gymnasium wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes hebräisch-sprachiges Gymnasium gegründet. Das berühmte historische Schulgebäude in der Herzl Straße musste 1958 dem Shalom Meir Tower weichen. Die Schule zog dann aus dem Herzen des alten Tel Avivs in ein modernistisches Gebäude auf der Jabotinsky Straße. Was blieb, war, zumindest zum Teil, der spezielle Status der Schule, immerhin älter als der Staat Israel selbst. Um die Autonomie der Schule sicherzustellen, wurde zwischen Schulverwaltung und Behörden der Stadt ein weiteres Gremium zwischengeschaltet. Diese Autonomie gewährt dem gegenwärtigen Direktor, Dr. Zeev Dagani, sowohl die soziale Durchmischung an der Schule als auch eine künstlerische Erziehung.

Zwischenräume und Umsiedlungen

»How do we learn when the accumulated knowledge cannot keep pace with the rate of change? How do we learn together in a multi-participant dialogue? How do we learn to forget what we learned in order to make room for a different experience?« Um diesen Fragen nachzugehen, die auf der Homepage der Biennale gestellt werden, bilden die Räume der Schule einen Kreislauf, der dem Lernen nachspürt: dem Lernen aus der Tradition, dem Lernen von der Zukunft, dem Lernen im geteilten Raum widersprüchlicher Erzählungen und Weltbilder. Währenddessen bewegen wir uns mit den Lehrer:innen und Schüler:innen in einer Schule, deren pädagogische Atmosphäre vom Design der Biennale gleichzeitig unterstrichen und überlagert wird. Am Eingang muss kein Eintritt bezahlt werden. Student:innen der HaMidrasha Fakultät für Kunst am Beit Berl College drücken einem:r ein Programmheft und einen Sticker in die Hand. Die Gestaltungselemente bilden ein Leitsystem: eine Bestuhlung aus gefundenen Dingen markiert den Weg, Lampen aus leeren Zeitungsseiten hängen im Korridor. Von Klassenzimmer zu Klassenzimmer entstehen Situationen, in denen sich Historisches und Geografisches, Politisches und Sprachliches überlagern und das Wissen möglicher Zukünfte in der Vergangenheit Gelerntes anficht. Die Biennale überzeugt, wo sie performative Translokationen hervorbringt, die Formen von Wissen gleichzeitig dekonstruieren und erweitern.
Zum Beispiel dokumentiert Hila Laviv in der Installation The Workshop die Geschichte eines Kibbuz in Schweden in den 1930ern. Dort konnten dank der Familie Warburg Kinder vor den Nazis in Sicherheit gebracht werden. Diese Geschichte, die mit der Projektion eines Fotoalbums auf die Tafel dargestellt wird, kann mittels Workshops in die Gegenwart überführt werden. Material, mit dem die Geflüchteten damals in Schweden arbeiteten, wird zum Ausgangspunkt gegenwärtiger Ausschnitte, die mit Studierenden erarbeitet werden. Geschichte und Gegenwart überlagern einander so im Raum und das Wissen wird sowohl übermittelt, wie auch angepasst.
Eine weitere Überlagerung stellt die Textilarbeit The Place I Come from von Lina Otom Jak Agolon dar, einer Künstlerin, die aus dem Sudan nach Israel floh. Ein Stoff im Gang der Schule erzählt eine Geschichte aus ihrem Heimatdorf, wo ihr Vater Schulleiter war. Diese Arbeit wurde in den letzten Jahren bereits an verschiedenen Orten in Israel gezeigt. Sie ist auch Teil von kollektiven Arbeiten von Kuchinate, einer Gruppe geflüchteter Künstlerinnen, die in Zusammenarbeit mit der Kuratorin Sandra Weil entstanden. Der Erlös aus dem Verkauf dieser Arbeiten kommt Geflüchteten zugute.
Zusätzlich zu diesen Überlagerungen von Geschichte, Räumlichkeit und Bildungsarbeit schafft die Performativität der Dislokation eine alternative Form von Wissen. Der palästinensische Künstler und Kurator Hanna Qubty hat ein Klassenzimmer der Ibn-Roshad-Schule in Ost-Jerusalem in ein Klassenzimmer der Herzliya-Schule in Tel Aviv versetzt. Diese räumliche Verschiebung bietet einen Einblick in ein Israel, das in Tel Aviv sonst größtenteils unsichtbar bleibt. Der Unterschied wird, mit Blick auf geografische Karten an den Wänden des Klassenzimmers, offensichtlich. Darauf wird Israel am nördlichsten Zipfel Afrikas positioniert und nicht wie üblich weit im Osten Europas. Dazu kommen zahlreiche Spuren arabischen Lebens in Israel, die für diejenigen offenkundig sind, die gewillt sind, solche Spuren zu bemerken. Beispielsweise liegt ein Englischbuch mit einem Übungstext, der die Geschichte der israelischen Unabhängigkeit behandelt, auf einem Tisch.
Auf dem Weg von Klassenzimmer zu Klassenzimmer begegnen uns mehrfach Momente von Differenz und Wiederholung. Wir treffen die gewohnten, die ungewohnten und die unbekannten Seiten des Vertrauten. In der Sporthalle läuft die Videoarbeit Each Moment Presents What Happens (2021) der schwedischen Künstlerin Johanna Billing auf einer großen Leinwand. Auf den Holzbänken des Herzliya Gymnasiums sitzend, sehen die Besucher:innen englische Schüler:innen, die John Cages Untitled Event (Theater Piece No. 1, 1952) wiederbeleben. Auch hier findet eine partizipative Überlagerung statt: Zum Gründungsfest der Bristol Grammar School war Johanna Billing damit beauftragt worden, eine partizipative Arbeit mit den Schüler:innen zu entwickeln. Die Schüler:innen spürten die Geschichte eines der ersten von Cages Happenings auf, das ursprünglich im Speisesaal des Black Mountain College aufgeführt wurde. Wie auch immer. Davon existieren nur mehr Fragmente, die hauptsächlich über Erinnerungen weitergegeben wurden. Die fehlenden Teile ersetzten die Schüler:innen mit ihren eigenen Handlungen, wodurch sie eine einzigartige Wiederaufführung schufen, die gleichzeitig der Tradition nachspürte und eine neue erschuf.
Generell spielen Performances in diesem Spiel der Überlagerungen eine wichtige Rolle. Die Performance zur Eröffnung von Manar Zuabi, von der auch ein Video in der Ausstellung gezeigt wird, stellt Fragen zu Mehrsprachigkeit, Übersetzung und Sprachenpolitik. Unter dem Titel Stop or I’ll Shoot You spricht und schreibt sie die wenigen arabischen Sätze, die die meisten Israelis noch aus der Armee kennen. Der Befehlston dieser Sätze verdeutlicht die minimale, meist militärische Verständigung. Dagegen spricht das Video Elevator Speech (2013) den spielerischen Spracherwerb an. Bei der Fahrt mit einem Aufzug kommt die Frage auf, warum Arabisch in Israel zugleich so präsent, so abgewertet und so schwierig zu erlernen scheint.
Auf dem grünen Schulhof dient die minimalistische, ortsspezifische Installation Set for a Learning Play (Checkpoint) als Bühne für das Lehrstück Resort des in Brooklyn lebenden israelischen Künstlers Ohad Meromi. Das Stück referiert auf einen Beitrag aus einer Nachrichtensendung, worin von einer arabischen Lehrerin an einer größtenteils jüdischen Schule berichtet wurde, die während eines Schulausflugs an einem Grenzübergang festgehalten wurde. Auf der Bühne liegt das Drehbuch und alle sind eingeladen, die Geschichte aufzuführen, die die politischen und persönlichen Dimensionen des Vorfalls durcharbeitet.

Eine para-institutionelle Strategie

Die Biennale zeigt, wie vielfältig das Verhältnis zwischen performativen und installativen künstlerischen Praxen auf der einen Seite und Praxen des Lehrens und Lernens andererseits sein kann. Die Spannweite reicht von Brecht-artigen Lehrstücken über den klassischen Workshop bis zum persönlichen Austausch. Die Autonomie, die ja schon im Namen der Biennale steckt, ist dafür wahrscheinlich die Voraussetzung. Aber was ist nun eine Autonome Kunstbiennale? Sicher, es gibt nie so etwas wie absolute Autonomie. Wo staatliche oder andere öffentliche Förderungen vermieden werden sollen, müssen alternative Finanzierungen, Räumlichkeiten und andere Ressourcen aufgetan werden. Selbst vollständig privat finanzierte Institutionen oder Unternehmen sind keine Garantie für Autonomie, sondern fördern vermutlich nur andere Abhängigkeiten. Allerdings scheint die Autonome Kunstbiennale genau dort Freiheiten schaffen zu können, wo sich unterschiedliche Abhängigkeiten überschneiden und einander widersprechen, sodass sie gegeneinander ausgespielt werden können. Durch die Unabhängigkeit von staatlicher Förderung entsteht Raum für Handlungsmacht und Allianzen, der ansonsten verschlossen bliebe. Die öffentliche Schule ermöglicht als Ort andererseits eine Heterogenität und eine Aushandlung sozialer Prozesse, die in konventionellen, privaten Kunsträumen undenkbar wäre. Dabei kommt den Organisator:innen der Biennale ein „produktiver Anachronismus“ zugute: Das Herzliya Gymnasium, älter als der Staat Israel, hat eine größere Autonomie als andere Schulen, da es eine spezielle Organisationsform besitzt – eine Semi-Autonomie –, deren Grenzen der derzeitige Schulleiter kontinuierlich verteidigt und erweitert.
Der Raum der Biennale überschneidet sich mit dem der Schule und umgekehrt. Insofern kann die Autonome Kunstbiennale als para-institutionelle Strategie verstanden werden, als infrastrukturelle Überlagerung: Nicht nur auf repräsentativer Ebene, auch auf konkrete Strukturen bezogen entsteht ein dazwischen liegender Raum von Möglichkeiten aus dem dialektischen Verhältnis von „Autonomer Kunstbiennale“ und lokal verankerter öffentlicher Schule.

Der Text ist eine gekürzte und von MALMOE übersetzte Version von The Biennale as a School,
Online zu finden unter: art-education.hfbk.net/en/writings/die-biennale-als-schule









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