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MALMOE

Traumtagebuch

(Kein) Entkommen

Ich bin 34 Jahre alt; erstgeborene Tochter mittelloser Flüchtlinge, die aus einem Land flohen, dessen Geschichte eines der gravierendsten Wandel des 20. Jahrhunderts vorweist. Ein Land, das verlorener nicht sein könnte. Ich habe die ersten sieben bis acht Jahre in einer Flüchtlingssiedlung gelebt, bin erst danach zur Wienerin geworden, zur Österreicherin. Für mich war das Leben ein ständiges Entscheidungen-Treffen, um mich weiter bewegen zu können: sozial, ökonomisch, intellektuell. Denn erst durch die Bewegung wäre ich in der Lage, etwas aus diesem Leben in diesem werteverzerrten Leben machen zu können. Doch wenn ich an Bewegung in meinem Leben denke, visualisiert sie sich durch Bilder aus einem Traum, den ich einmal hatte. Ein Traum, den ich direkt vor mir habe, dessen Abfolge mich bis heute nicht loslässt; dessen Sequenz an Szenen mich heute noch flasht, jedes mal wenn ich gedanklich vorspule. Und der Flash wird immer schwerer, härter, bis er nur mehr noch Kopfschütteln erzeugt… Was ich sehe?


Ich stehe, mit meinem Freund neben mir, am Rande eines Platzes. Auf einmal sehen wir die Menschen um uns herum alle ans andere Ende des Platzes rennen. Wir wussten, dass es die Soldaten sind, die durch die Straßen ziehen und wie ein Mückenschwarm das Stadtbild dunkel und leblos färben. Sie sind auf dem Weg in unsere Richtung. Wir wussten es, weil alle in die entgegengesetzte Richtung über den Platz liefen. Ich hörte aber keine Schreie. Ich hörte nichts. Ich sah nur die gesichtslosen Menschen und das Schrecken in ihren Körpern. Keiner hatte damit gerechnet, dass heute der Tag sein würde, an dem das monotone, gedämpfte, trostlose Leben zu einer vergangenen Sehnsucht werden würde. Niemand sah das kommen. Also reagierten wir wie die Anderen und liefen. Mitten auf diesem riesengroßen Platz vor uns stand, sich als einziger Mensch nicht vom Fleck bewegend, ein weinendes Kind. Während ich in seine Richtung renne, frage ich mich, ob ich es mitnehme oder stehen lasse. Sobald ich aber auf der Höhe des Kleinkindes war, drehe ich mich zu ihm, packe es unter beiden Armen und renne mit ihm in meinen Armen weiter, ohne stehen zu bleiben oder langsamer zu werden. Bis zum äußeren Rand des Platzes laufen wir; mein Freund neben mir. Wir kommen zum Stillstand, gehen an der ersten Häuserreihe vorbei, die den Platz wieder verschloss (das waren natürlich keine Häuser, sondern eine abstrakte Formierung), erblicken eine Bank und setzen uns zu dritt drauf um vom vielen Laufen zu rasten. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich bemerke, dass ich aufs Klo muss.


Ich stehe auf, lass die beiden auf der Bank auf mich warten, gehe ein paar Meter, entdecke einen Container, der aus einem Raum besteht, und im Grunde ein WC-Raum ist, mit Waschbecken und Fliesen an den Wänden. Ich mache die Tür auf und gehe den länglichen Raum nach hinten, wo die einzige Toilette zu finden ist. Es ist aber keine Kabinentoilette. Es ist eine Fliesenwand, die bis in die Mitte des Raumes reicht, sie ist türlos und verdeckt, was dahinter passiert. Ich gehe hin, tue, was Menschen in solchen Umständen tun, setze mich hin, und entdecke, positiv überrascht, ein kleines charmantes Fenster mir gegenüber. Gleich in der nächsten Sekunde geht ein Soldat an dem Fenster vorbei, die Waffe straff an seinen Körper drückend, schießbereit. Er kommt von rechts und geht in Richtung der Eingangstür. Der Soldat sieht mich nicht durch das Fenster. Er ist offensichtlich zu sehr auf den Eingangsbereich fixiert. Ich weiß, dass er gleich die Tür entdecken, dass er sie aufmachen und dass er mich dort vorfinden würde. Ich kann ihn sehen, als er durch das kleine transparente Glasfenster in der Eingangstür zu mir hineinsieht. Der Raum ist so langgezogen, dass er, um mich zu finden, einige Sekunden bräuchte, wenn ich mich verstecken würde. Sekunden unfassbar unerträglicher Angst, weil mein Leben auf dem Spiel steht und ich nichts machen kann. Er kommt durch die Tür, und ich … ich lehne meinen Körper nach vorne, strecke meinen Kopf hinter der Fliesenwand hervor, damit er mich schneller sieht und schießt. Genau das tut er auch.