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MALMOE

Ist der Traum real oder 
die Realität ein Albtraum?

In der Winterzeit rund um Weihnachten findet das jüdische Fest des Lichts und Widerstands, Chanukka, statt. Im Dezember träumte ich, dass meine Wohnung von Neonazis der Corona-Demos gestürmt wurde

Samstagnachmittag. Es ist Schabbat, mein Vater ist in der Synagoge beten, und ich bin in meiner Wohnung am Gürtel, im neunten Wiener Gemeindebezirk. Ich sitze in meinem Wohnzimmer und spiele auf der Gitarre vor mich hin. Meine Fingerspitzen fangen langsam an weh zu tun, und meine Stimme ist vom Singen schon etwas mitgenommen. Doch ich genieße die Einsamkeit nach einer langen Woche. Nur ich, meine Gitarre und eine brennende Zigarette im Aschenbecher.

Den ständigen Sirenen, dem Lärm der U-Bahn und dem permanenten Autoverkehr vor meinem Fenster schenke ich im Traum keine Aufmerksamkeit. Auf meinem Fensterbrett steht meine Chanukkia, ein achtarmiger Kerzenleuchter, welcher zum jüdischen Fest Chanukka zur Anwendung kommt. Über die Jahre wurde sie durch bunten, zerlaufenden Kerzenwachs verziert. Die Chanukkia lässt mich an Abende des traditionellen Krapfenessens und eines Beisammenseins mit Freund:innen und Familie denken.

Plötzlich werde ich aus meinem Gemütszustand gerissen. Draußen wird es ungewöhnlich laut. Der Lärm der Autos und der U-Bahn wird von den Rufen von Corona-Leugner:innen, Neonazis, Esoteriker:innen und Verschwörungsideolog:innen übertönt, die seit einigen Monaten jeden Samstag durch Wien ziehen. Im Traum wohne ich im Erdgeschoss und bin plötzlich auf Augenhöhe mit Rechtsextremist:innen. Reflexartig lege ich meine Gitarre zur Seite und springe vom Sofa auf. Mein Herz fängt an zu rasen. Ich kann meinen Augen nicht trauen. Nein. Ich will meinen Augen nicht trauen. „O Gott, bitte lass das nicht wahr sein“, denke ich mir. Ich weiß, dass ich unmittelbar in Gefahr bin. Meine Hände fangen an zu schwitzen, mein Atem wird schwerer. Ich stehe nun wie erfroren in meinem Wohnzimmer und schaue ungläubig aus meinem Fenster. Der gefährliche, aufgeheizte Demozug zieht vor meinem Fenster vorbei. Direkt vor mir.

Innerhalb weniger Sekunden haben gewaltbereit wirkende Männer der „Demonstration“ die Chanukkia auf meinem Fensterbrett entdeckt. Sie beginnen: „Scheiß Juden!“, „Wir bringen dich um!“, „Ihr seid schuld an Corona!“, „Die Elite, Soros und Rothschild haben die Weltmacht!“ zu rufen. Ein Durcheinander antisemitischen Gebrülls. Alles passiert sehr schnell. Während die anderen Teilnehmenden trommelnd, singend und Aluhut tragend den Gürtel entlanggehen, kommt die Gruppe an weißen, älteren, gewaltbereiten, nach Bier stinkenden Männern immer näher.

Sie schlagen gegen meine Fenster. „Dich kriegen wir!“, höre ich. Tränen schießen in meine Augen. Ich weiß nicht wohin. Soll ich weglaufen? Soll ich ein Messer aus der Küche holen? Soll ich nach Hilfe schreien? Doch bevor ich einen dieser Gedanken ausführen kann, bringt mich der Lärm der Zerstörung aus dem Konzept.
Scherben liegen auf meinem Boden. Sie haben mein Fenster durchbrochen. Zu viert, zu fünft, zu sechst steigen sie hinein. Sie sind in meiner Wohnung und stehen vor mir. Sie wollen mir schlimme Dinge antun. Sie ballen ihre Fäuste und wollen zuschl…
Ich wache auf.

Es ist mittlerweile Februar und meine Chanukkia steht nicht mehr auf meinem Fensterbrett. Ich habe sie, ein paar Tage nachdem ich diesen Traum hatte, zurück auf meinen Schrank gestellt. Einerseits war Chanukka schon vorüber, andererseits wollte ich nicht Opfer eines antisemitischen Anschlags werden. Das Gefühl, die Geschichte könnte sich wiederholen, wächst immer stärker in mir. Es nimmt mich ein, lässt mich hilflos und allein fühlen. Jeden Samstag, wenn auf den Straßen meiner Geburtsstadt Neonazis marschieren, fühle ich mich von Politiker:innen und der Gesellschaft im Stich gelassen. Jenen Leuten, die zu Gedenktagen „Niemals wieder!“ skandieren, nur um sich dann den Rest des Jahres keine Gedanken über jüdisches Leben im Hier und Jetzt, um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden und um Antisemitismus zu machen.