Warning: Undefined variable $output in /home/.sites/865/site8950218/web/mlmwp5/wp-content/themes/malmoe/functions.php on line 19
MALMOE

Zehn Platten zu Weihnachten

Built To Spill – When the Wind Forgets Your Name
Sub Pop, 2022

Doug Martsch spielt Gitarre, wie er sich seinen Bart föhnt: ausgiebig und gründlich. Seit 1992 formiert Martsch gleichgesinnte Musiker*innen um sich und nennt das immer wieder „Built To Spill“. Warum auch einen neuen Namen hervorzauseln? Bei dem 2022er-Album unterstützen ihn Melanie Radford (Bass) und Teresa Esguerra (Drums), und sie machen das vorzüglich. Der Sound hat eine entrückte Selbstähnlichkeit. Ist jetzt nicht so, dass sich seit den 1990ern wahnsinnig viel im Indie getan hätte. Wichtig ist dieses Built-To-Spill-Feeling. Stellt euch vor, ihr sitzt mit einer Bierdose auf der Veranda und schaut in den Abendhimmel. Ein netter Teddybär kommt vorbei und setzt sich neben euch. Ihr kennt euch seit der Schule: „Wie geht’s, Doug?“ Er sagt nichts und schnallt sich die Gitarre um und singt euch mit seiner warmen und eigentlich etwas zu hohen Stimme die komplette Scheibe When the Wind Wind Forgets Your Name vor. Wir nicken am Ende zustimmend: „War wieder super mit dir.“

Kind Kaputt – Morgen ist auch noch kein Tag
Uncle M Music, 2022

Mit Morgen ist auch noch kein Tag veröffentlichten Kind Kaputt ihr zweites Album. Die Band wird zum Post-Hardcore gezählt, bietet aber auf den zwölf Tracks vieles mehr. In den Texten versuchen sie mit der Welt, der Gesellschaft und sich selbst klarzukommen, und fangen so ganz nebenbei den modernen von Produktivität geplagten Zeitgeist ein. Von Konsumkritik bis zu Schilderungen von Depression ist alles dabei. Wütend, feinfühlend, traurig und alles andere als phrasenhaft. Mit Melodien, die mir nostalgisch an den Herzsträngen zupfen, hochwertig produzierten Klängen und Texten, die mich persönlich komplett abholen, hat Kind Kaputt eine durchaus gelungene Platte abgeliefert. Bis bald in der Arena!

Yao Bobby & Simon Grab – Diamonds
Lavalava Records, 2019

Seit einigen Jahren machen der togolesische Rapper und Aktivist Yao Bobby und der Schweizer Sound- und Noisekünstler Simon Grab gemeinsame Sache. Durch die Kreuzung klassischer Dancehall-Elemente, die das musikalische Fundament von Yao Bobbys Songs bilden, mit dem nerdigen, maschinellen Sound von Simon Grab erwacht ein regelrechter Sound-Golem zum Leben. Ein martialischer, metallischer und vor Lebensenergie sprühender Hybrid voller Punchlines und Glitches, der sich bereits auf dem Albumcover vorankündigt. Dass einem im endlosen Ätherstrom des Spotify-Algorithmus noch ein einzelner Song hängen bleibt, ist selten. Doch die an die Grenzen des Hörgenusses übersteuerten Synths und die ausgeprägt instrumentale Stimme von Yao Bobby, die er abwechselnd oder magischerweise gleichzeitig als Beatmaschine oder Erzähler verwendet, graben Spuren ins Soundgedächtnis. Im Song Milawoe kulminiert das musikalische Amalgam aus Hip-Hop, Noise und Dancehall zu einem Rhythmusgewitter, das lässt das Duo noch für Tage im Kopf nachhallen.

Alligator Gozaimasu – Episode #9 Solange bunte Balken durchlaufen
RagRec, 2021

Hier ist nicht nur die Musik ein Schmankerl für sich. Zur Jahreswende 21/22 veröffentlichte das Musikkollektiv sein bereits neuntes Album. Alligator Gozaimasu spielt mit einer Open-Cloud-Community, das heißt, jede Person kann mitmachen, wenn die Inspiration um sich greift. Einmal ist es ein einfaches Gitarrenriff, ein andermal die Aufnahme von Wassertropfen, die den Prozess starten. Großartige Tracks und ein noch großartigeres Album tragen sich Layer für Layer dadurch zusammen. „Experimentell“ ist das allemal. Die Einnahmen kommen dabei der Seenotrettung Sea Watch e.V. zugute. Japanische und deutschsprachige Artists begründeten das Projekt, welches aber längst aus einem vielfältigen Pool schöpft. An die hundert Künstler*innen kreieren das spannungsgeladene Album, welches von feministischem Rap (Correct Me, if I’m Wrong) über klassische moderne Klavierstücke (Yang) oder elektronische Sounds (Eddo Budhampa. Sokoraya Remix) bis zu Free-Jazz-Elementen und poppigen Soundclouds mit Chorgesängen (My Holy Messmass. The Higgs Bo Song) ziemlich viel unter einen Hut bringt. Was soll ich sagen – hört es euch an!

Sudan Archives – Natural Brown Prom Queen
Stones Throw, 2022

Sudan Archives aus Los Angeles veröffentlichte mit Natural Brown Prom Queen ihr drittes Album. Als Künstlerin ist sie spätestens seit ihrem 2019er-Album Athena vom RnB/Pop-Himmel nicht mehr wegzudenken. In der deutschsprachigen Wikipedia steht, dass Sudan Archives einen Vertrag bei Stones Throw – dem traditionsträchtigen Hip-Hop-Label – „ergattern“ konnte. Eher andersherum, würde ich sagen: Die können sich freuen, eine schwarze, innovative, inspirierende, dynamische Künstlerin zu ihrem Männer-dominierten Repertoire hinzugewonnen zu haben. Ihre musikalischen Inspirationen entstammen etwa Irland, dem Sudan, von dort zurück in die USA. In einer elektrifizierten Sample-Art fügt sie verschiedenste Soundspuren zu klangintensiven Kompositionen zusammen, mit dabei immer die Violine, die sie seit der Volksschule zu spielen lernte. Aber genug gesagt, jetzt erstmal abtauchen in die Soundwelten.

Huerco S. – Plonk
Incienso, 2022

Kleine klare Tapsel-Sounds werden hier zu Beats verwoben, die sich immer an der Schwelle zu etwas Größerem bewegen. Das Dahintropfen in einer verzerrten Zeitlichkeit bildet einen schönen Kontrast zu der immer weiter eskalierenden Realität, in der sich das Album wiederfindet. Nicht wirklich was zum Runterkommen, anders als vielleicht noch Colonial Patterns (2013), das mit seinen sphärischen Klängen die Hörenden davontrug. Von den hochgradig komponierten Nummern hebt sich besonders ein Feature des Rappers SIR E.U deutlich von den anderen ab. Vocals und Klang synergieren hier auf einer Ebene, die trotz des Alleinstellungsmerkmals des Songs das ganze Album alterisieren.

Düsseldorf Düsterboys – Duo Duo
Staatsakt, 2022

Seit Wochen versuchen nähere und fernere Bekannte über Facebook Restkarten für das Wiener Konzert der Düsseldorf Düsterboys im B72 zu ergattern. Lohnt sich das überhaupt? All der Stress, all die Sorgen, all die Mühen? Ich will mir einreden, man könne doch die „Düdüs“ und vor allem ihre neue Platte Duo Duo so richtig nur zu Hause hören. Noch ein bisschen fester als bei ihrem Debüt Nenn mich Musik drücken sie dabei aufs Bremspedal in Richtung Ekstase. Ihre schmusigen Songs ziehen vorbei wie ein verrauchter Rotweinrausch, kriechen zärtlich ins Ohr und bleiben dann irgendwie doch unerreichbar, rätselhaft. Zu schön, um wahr zu sein, nudeln sich Worte – mehr Klang als Aussage – durch lauschiges Gitarrengeschrammel und Klaviergeklimper. So tragen Peters und Pedros Stimmen das Ohr allmählich an einen Ort, gebaut aus Versatzstücken, den man zwar nicht versteht, der sich aber sehr behaglich anfühlt. Zugegeben, ein bisschen Sehnsucht bleibt.

Authentically Plastic – Raw Space
Hakuna Kulala, 2022

Mit ihrem Debüt Raw Space präsentieren Authentically Plastic aus Uganda akustisches Schleifpapier der rauhesten Sorte. Lassen die 35 Minuten Spieldauer anfangs ein kurzweiliges Hörerlebnis vermuten, wird man vom Opener Aesthetic Terrrorism sogleich eines Besseren belehrt: Die dicht gedrängten Arpeggios und hochglanzpolierten Distortions dehnen die Zeit des Hörens unausweichlich. So erhebt sich ein Track nach dem anderen, keine Zeit zu verlieren, keine Zeit sich über das Gehörte Gedanken zu machen. Das ist animose Tanzmusik in Höchstform. Unvergleichlich produzieren Authentically Plastic bewusst gegen die obsessive Dominanz von Räumlichkeit westlicher Produktionen und transzendieren, womit wir am Dancefloor konditioniert wurden. Diese akustische Flachheit erzeugt eine einzigartig selbstbewusste Intensität; ein Rückgrat aus gebändigtem Chaos; eine schartige Klinge in der Rechten reflektiert das Neonlicht aus der Linken; ständig unklar, ob man dem Sound hinterherjagt oder von ihm vorangetrieben wird.

B. Fleischmann – Music for Shared Rooms
Morr Music, 2022

Nicht ohne Grund nennt man Bernd Fleischmann den Brian Eno der Wiener Außenbezirke. Fleischman (aka B. Fleischmann) ist einer jener Musiker, die immer weiter im Text wissen. Er wirkt beim Musizieren vollkommen bei sich und liefert sowohl Beats, die sitzen wie bei Massive Attack, als auch melodische Träumereien. Seine filmisch zu nennende Musiksprache ist derart bewegend, dass sie phasenweise für Anfälle der Prophetie geeignet scheint. Gerade die seriellen Passagen sind lyrisch ergreifend à la Philipp Glas oder Harold Budd. Zu hoch gegriffen? Nein. Der musikalische Reichtum der Genres entspannt sich bei Fleischmann vom romantischen Klavierstück bis zu Diskokrachern. Dabei beweist er stets die Bereitschaft, sich intensivem Schwermut auszusetzen. Ein hymnisches Stück gedenkt beispielsweise des 2020 tödlich verunglückten Sohns der Filmemacherin Anja Salomonowitz. Puhhh, also in dieser Platte ist wirklich viel drin, und deshalb ist Music for Shared Rooms ein großes Werk, das sich breite internationale Anerkennung verdient hat, die ihm nun – zwangsläufig – durch die Erwähnung bei den MALMOE-Weihnachtsplatten zuteilwerden wird. Diese Scheibe gehört einfach unter jeden Weihnachtsbaum oder neben den Chanukka-Leuchter.

Schwesta Ewa – Awanta
Alles oder Nix Records, 2022

190 Tage saß Schwesta Ewa eine Strafe wegen Steuerhinterziehung und Körperverletzung ab, während ihre einjährige Tochter bei Bekannten untergebracht war. Dann das Wiedersehen im Mutter-Kind-Vollzug. „Aber der Schaden war schon angerichtet (…) / Du läufst durch den Flur und hast andere Insassen ‚Mama‘ genannt / Hab’ davon geträumt, dass wir nach draußen gehen zum Spielen/ Jetzt reden Psychologen was von Traumatherapie“, rappt Schwesta Ewa auf ihrem neuen Album Awanta. Thematisch wohl eine Premiere im cis-männerdominierten Deutschrap. Zugegeben, es gibt keinen Vater-Kind-Vollzug in Deutschland (und Österreich). Dem linken Diskurs ist zum Thema „Kinder im Knast“ keine klare Position abzuringen: Werden die Kinder nun für das Verhalten ihrer Eltern mitbestraft, indem sie von ihnen getrennt werden oder indem sie mit ihnen gemeinsam in einer kleinen Zelle mit beschränktem Hofgang die Strafe absitzen? Was bleibt, ist der Rückzug auf die grundsätzliche Forderung: Knäste abschaffen! Wie das neue Album von Schwesta Ewa ist? Dafür reichen die Zeichen nicht mehr. Einfach reinhören.