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MALMOE

Eine Bühne für 
unbequeme Geschichten

Seit der Maidan-Revolution ist die Kulturszene der Ukraine aufgeblüht. Besonders eine Theatergruppe regt zum Nachdenken und Diskutieren an: das Theatre of Displaced People

Inmitten des historischen Stadtteils Podil, im Hinterhof der stillgelegten Textilfabrik Strichka, befindet sich der Eingang in den Kyiver Kultur-Underground. Teil dieses Universums ist die Bühne des PostPlayTheatre. 2014, während der Euromaidan-Proteste von einer Gruppe engagierter Künstler*innen gegründet, stellt es seither einen radikalen Gegenentwurf zum staatlich gelenkten Unterhaltungstheater dar. Es ist zum Aushängeschild einer kritischen und vor allem politischen Theaterlandschaft junger Künstler*innen geworden, die den Status quo im Land hinterfragen und für die es vor der Maidan-Revolution keinen Platz auf den ukrainischen Bühnen gab.

Ein festes Ensemble gibt es im PostPlayTheatre nicht. Es ist ein offener Raum für Performer*innen und Theatergruppen, die mit ihren Inszenierungen den Finger in die Wunde der ukrainischen Gesellschaft legen. Eine dieser Gruppen ist das Theatre of Displaced People (ToDP). Die Idee für dieses dokumentarische Theaterprojekt entstand mit Jugendlichen im Donbass und erhielt durchweg positive Resonanz von Mitwirkenden, Zuschauer*innen sowie nationalen und internationalen Medien. Die Stücke des ToDP basieren auf biographischen Schilderungen jener Personen, die vor dem Krieg und der Besetzung aus dem Donbass im Südosten der Ukraine und von der Krim geflohen sind. Im internationalen Jargon werden sie als Internally Displaced People (IDP) bezeichnet, daher auch der Name der Theatergruppe.

Im Mittelpunkt ihrer Inszenierungen stehen szenisch aufgearbeitete Interviewfragmente, die von Dramaturg*innen zu Bühnentexten montiert werden. Zeitweise werden diese Szenen unterbrochen durch Einschübe von Ton- oder Videoaufnahmen mit Informationen über die tägliche Anzahl gefallener Soldaten in der Ostukraine, Preise für Lebensmittel oder Mitschnitte lokaler Nachrichtenbeiträge. Aufwendige Requisiten und Kostüme gibt es beim ToDP nicht. Die Regisseur*innen arbeiten mit minimalen Mitteln, damit die Texte ihre volle Wucht entfalten.

Die Geschichten kreisen alle um den Krieg und die Vertreibung. Sie zeichnen Bilder der Auflösung von Lebenswelten, schildern Begegnungen mit Soldaten, Erfahrungen mit Gewalt und sexuellem Missbrauch. Es wird von der Zerstörung vertrauter Orte berichtet und der Tod von Verwandten und Freund*innen verarbeitet. Die meisten Darsteller*innen stehen zum ersten Mal auf der Bühne und sind selbst als IDPs nach Kyiv gekommen. Auf der Bühne sprechen sie über den permanenten Ausnahmezustand, der seit 2014 ihren Alltag prägt. Sie drücken dort ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen aus.

Theater als Traumatherapie

Die meisten Darsteller*innen haben den Krieg miterlebt und leiden unter seinen Folgen. Viele haben Geschehnisse verdrängt oder gelernt, mit ihrer Traurigkeit und der Angst zu leben. Die Arbeit an den Stücken holt die Erlebnisse wieder hoch und stellt eine große psychische Belastung dar. Darum bietet das ToDP seinem Ensemble eine psychologische Betreuung an, die von einem der Gründer, dem Psychotherapeuten Oleksiy Karachynskyi, sowie anderen Kolleg*innen ehrenamtlichen durchgeführt wird. Psychologische Hilfsangebote für Binnengeflüchtete gibt es in der Ukraine ebenso wenig wie kostenlose Therapiemöglichkeiten. Im Theater wechseln sich therapeutische Einzel- und Gruppensitzungen ab und werden auch über die Probenzeit hinaus angeboten. Die künstlerische Arbeit ist fest an die therapeutische Arbeit gekoppelt, weshalb oft auch ein*w Therapeut*in an den Proben teilnimmt, um, wenn nötig, unterstützend beizustehen. Dabei legen Regisseur*innen und Therapeuten*innen großen Wert auf eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre bei den Proben, da diese der Heilung dienen sollen. Die Darsteller*innen sollen sich in einem geschützten Raum bewegen, um überhaupt fähig zu sein, auf der Bühne in künstlerisch verdichteter Form (ihre) persönliche(n) Erlebnisse darzulegen, erklärt der Regisseur Pjotr Armanski. Armanski, der 2014 als IDP aus Donezk nach Kyiv kam, hat den therapeutischen Effekt des Theaters selbst erlebt: „Als ich mich im Juni 2014 in Kyiv wiederfand, konnte ich lange Zeit nicht akzeptieren, dass es für mich als Euromaidan-Aktivist lebensgefährlich ist, nach Donezk zurückzukehren. Wie ein Zombie ging ich zur Arbeit, kam nach Hause zu meiner Freundin, aber ich konnte nicht länger als fünf Minuten mit Leuten sprechen, es gab nichts worüber ich sprechen wollte. Ein Freund erzählte mir dann vom Theatre of Displaced People. Er sagte, ich könnte dort einfach mitmachen, ohne große Erfahrung. Dort habe ich Menschen mit ähnlichen Erfahrungen getroffen. Ich konnte dort spielen, verschiedene Übungen machen, phantasieren, träumen. Das hat mir sehr geholfen, hat mich aus der Depression rausgezogen. Davor war ich ganz allein, habe mich verschlossen. Plötzlich begann ich wieder, mich mit Leuten zu treffen, zu reden. Denn jeder, der dort mitmacht, redet über seinen Schmerz, über seinen Verlust. Ich verstand, dass ich nicht allein mit meinem Schmerz bin. Außerdem wusste ich vorher gar nicht, wie ich diese Gefühle ausdrücken kann. Aber wenn jemand anderes ausspricht, was du fühlst und bisher nicht in Worte fassen konntest, dann ist es eine große Erleichterung und du beginnst zu verstehen, was überhaupt passiert ist mit dir.“

Das Theater half Armanski, sich ein neues Leben in Kyiv aufzubauen und sogar seine berufliche Laufbahn neu auszurichten. Ehemals IT-Ingenieur in Donezk, widmet er sich nun ganz seinem künstlerischen Schaffen als Regisseur und Performer. Den Anstoß bot ihm das ToDP, das ihm als kreatives Ventil die Möglichkeit gab, sich auszudrücken und persönlich weiterzuentwickeln. Er wechselte damit vom passiven Erdulden des Kriegsgeschehens und der politischen Entwicklungen in die Rolle des handelnden Subjekts, welches auf der Bühne (s)eine Geschichte erzählt. Im ToDP erlangte Armanski seine persönliche Wirkungsmacht wieder: „Auf das, was im Leben passiert, habe ich keinen Einfluss. Aber das Theater ist ein Ort, an dem es sicher ist, an dem man mit dem Schicksal spielen kann. Man kann verschiedene Schicksale spielen, sie erleben und einen Raum mit verschiedenen Möglichkeiten schaffen.“

Aufklärung über den Krieg – Resonanzraum der Geschichte(n)

Auch mehr als sechs Jahre nach seiner Eröffnung wirkt das PostPlayTheatre wie ein improvisierter Ort: Die Technik ist nur provisorisch installiert und alle Möbel selbst zusammengezimmert. Einerseits ist es Teil ihres Images, andererseits gibt es einfach kein Geld für Equipment, Requisiten oder Möbel.

Alle im ToDP arbeiten ehrenamtlich. Die einzigen Finanzierungsquellen sind internationale Förderungen, die aber nur unregelmäßig verfügbar sind. Die Eintrittspreise sind eher symbolisch, da die Aufführungen für alle erschwinglich sein sollen, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Dafür sind die Aufführungen des ToDP meistens ausverkauft. Das Publikum stammt oft selbst aus dem Donbass oder von der Krim, aber es kommen auch Menschen, die sich für die Ereignisse und die damit verbundenen Schicksale interessieren und hören wollen, was die Binnengeflüchteten zu sagen haben.

Zum Teil besteht die Besetzung des ToDP auch aus Personen, die keine IDPs sind, aber es als gesellschaftliche Notwendigkeit erachten, sich mit dem Krieg und der Vertreibung auseinanderzusetzen. Alina ist eine von ihnen: „Es war mein Traum, in einer Aufführung des ToDP mitzuwirken, denn es ist eine Plattform, wo wichtige Themen behandelt werden und die Möglichkeit für einen echten Dialog besteht. In der Ukraine gibt es sehr wenige Orte, an denen das überhaupt möglich ist.“

Besonders den Zuschauer*innen, die keinen persönlichen Bezug zum Krieg haben und diesen nur aus den Nachrichten kennen, ermöglichen die Inszenierungen des ToDP einen Blick auf die Ereignisse aus Sicht der Betroffenen. Das ToDP will nicht unterhalten, sondern aufklären. Es ist ein soziales Theaterprojekt mit einer gesellschaftlichen Botschaft, das die Zuschauenden durch die unbequemen Geschichten herausfordert und zum Nachzudenken darüber anregt, was in ihrem Land passiert. Auch will es daran erinnern, dass alle Menschen in der Ukraine, ganz gleich, ob sie direkt betroffen sind oder nicht, Verantwortung für den Krieg tragen und auch dazu beitragen können, ihn zu beenden.