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MALMOE

Die Selbstgerechte

Warum die Entscheidung zwischen Identität und Klasse immer eine falsche sein muss

Im Zuge der Wahl habe ich mich mehr mit Parteipolitik auseinandergesetzt. Ich habe am Rande mitbekommen, wie sich die Partei Die Linke von vielen Aussagen Sahra Wagenknechts in ihrem neuen Buch Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, erschienen im April dieses Jahres, distanziert hat. Und jetzt, wo ich es gelesen hab: Zu Recht!

Wagenknecht leitet ihr Buch über ihr Feindbild ein: Die „Lifestylelinken“, die lieber „moralisieren statt argumentieren“. Die klassische „lifestylelinke“ Person fühlt sich moralisch überlegen (selbstgerecht), weil sie lieber mit dem E-Auto oder den Öffis statt mit dem Verbrenner fährt, im Bio-Laden einkauft, kein Fleisch konsumiert und sensibel mit Sprache umgeht. Es geht „Lifestylelinken“ mehr um Haltungen als um tatsächliche realpolitische Entscheidungen. Alles eine Frage des Lebensstils und der Konsumgewohnheiten und nicht mehr der sozialen und ökonomischen Probleme. Nach Wagenknechts Meinung findet nicht nur eine Verschiebung des innerlinken Diskurses statt, sondern der gesamtgesellschaftliche Diskurs verschiebt sich von materiellen zu immateriellen Problemen. Eine Entwicklung, die Wagenknecht der Identitätspolitik zuschreibt.

Das Konzept der Identitätspolitik kam als erstes in einem Text des Combahee River Collectives im Jahr 1977 auf. Das Kollektiv bestand aus schwarzen lesbischen Frauen, die feststellten, dass „eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Dieser Ansatz ist intersektional gedacht, was bedeutet, mehrere Diskriminierungsformen wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität, sexuelle Orientierung etc. als miteinander verschränkt zu sehen. Über das Konzept Identitätspolitik können marginalisierte Gruppen auf die Verknüpfungen ihrer Diskriminierungen aufmerksam machen und einfordern, dass diese im Diskurs berücksichtigt werden. Es wird eine Sensibilität geschaffen dafür, aus welcher Position gesprochen wird. Der Ansatz kommt aus der poststrukturalistischen Tradition, wo Sprache nicht als Beschreibung von Wirklichkeit gesehen wird, sondern Sprache Wirklichkeit erzeugt.

Linke, was hat euch bloß so ruiniert?

Doch darin sieht Sahra Wagenknecht das Problem. Sie warnt vor einer Spaltung der Linken in viele kleine Minderheiten und betont immer wieder, wie akademisiert der Diskurs geführt wird. „Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, Opfer zu sein. Wichtig, um zur anerkannten Opfergruppe zu werden, ist eigentlich nur, dass es sich um individuelle Merkmale handelt, nicht um solche, die mit sozialökonomischen Strukturen zusammenhängen.“

Sie konstruiert hier eine Feindschaft zwischen der Klassenpolitik und Identitätspolitik, um verloren geglaubte rechte Wähler:innenstimmen einzufangen. Die Argumentation: Das linksliberale Meinungsklima vergifte den Journalismus und die politische Debatte, sodass Stammwähler:innen der Linken aus Protest rechte Parteien wählten, da diese ihre Sorgen wegen der Zuwanderung verstünden und nicht herablassend über ihren Sprachgebrauch urteilten. Dass aber emanzipatorische linke Bewegungen (wie etwa #blacklivesmatter und #metoo) sich als Reaktion auf die schon immer rassistische, transfeindliche, sexistische, behindertenfeindliche etc. Gesellschaft zusammengefunden haben, kommt bei Wagenknecht schlicht nicht vor. Damit passiert eine klare Verschiebung der Verantwortlichkeiten. Menschen dafür verantwortlich zu machen, dass sie ein bereits bestehendes Problem benennen und so sichtbar machen, ist eine ebenso ignorante wie gefährliche Position. Ich dachte echt, wir hätten die Diskussion um Colourblindness schon hinter uns. Das galt vielleicht in den 1970ern als fortschrittlich, aber es ist rassistisch! Es delegitimiert verschiedene Diskriminierungserfahrungen, unterstützt das Herrschaftssystem und gaukelt eine homogene Gesellschaft vor, die es nie gab! Identitätspolitik ist keine Spaltung des Diskurses, sondern ein Hinzufügen von mehr Identitäten, die zuvor am bürgerlich-weißen, hetero-männlich geprägten Mainstream-Diskurs nicht teilhaben konnten.

Wagenknecht wirft der „Lifestylelinken“ eine Realitätsferne vor, die sich in ihren Argumenten findet. Wer macht denn die Geringverdiener:innen-Jobs? Meistens Menschen, die mit mehreren Diskriminierungsformen zu kämpfen haben. Wichtige emanzipatorische Kämpfe wie #blacklivesmatter oder #metoo als Teil eines Lifestyles zu deklarieren, während es um reale Veränderung der Lebensrealitäten geht – das ist selbstgerecht. Selbstgerecht ist es auch, nicht zu verstehen, dass diese immateriellen Kämpfe mit materiellen einhergehen, dass struktureller Rassismus und Sexismus den Arbeitsmarkt dominieren und deshalb FLINTAs (Abkürzung für Frauen, Lesben, Inter, Nonbinary, Trans- und Agender-Personen) und Schwarze Personen strukturell weniger Geld bekommen.

Sahra Wagenknecht sieht in der Identitätspolitik eine Spaltung, dabei spaltet sie ihre Partei und verschiebt den linken Diskurs deutlich nach rechts. Indem sie sich gegen Zuwanderung und für den Nationalstaat als Austragungsort linker Politik ausspricht und sich dabei als links bezeichnet, kämpft sie um die Deutungshoheit darüber, was unter linker Politik und Solidarität verstanden wird. Wagenknecht weist dort große Gemeinsamkeiten mit der Rechten auf, wo es um die Frage nach dem legitimen Subjekt der Solidarität im nationalstaatlichen Rahmen geht. Bei ihr eine diffuse „deutsche Arbeiterschaft“.

Tell me about it, Sahra

Es ist schade, dass sie sich in ihrer Schlussfolgerung verrennt, denn Wagenknechts Beobachtungen sind oft sehr pointiert. Die Akademisierung des Diskurses und neoliberale Wende der Sozialdemokratie sind auf jeden Fall Probleme. Doch ist ein Rechtsruck keine legitime Notwehr, auf angeblich maßlose Anliegen von emanzipatorischen Bewegungen marginalisierter Gruppen. Sicher gibt es berechtigte Kritik an der Identitätspolitik. Zum Beispiel ihre Aneignung durch den Neoliberalismus und die Reduktion von Menschen auf Tokens. Wenn Firmen nur symbolisch Anstrengungen unternehmen und sich für mehr „Diversität“ einsetzen, ohne strukturell etwas an ihren Einstellungs- und Bewerbungsverfahren zu ändern. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist Parallelisierung von Klasse zu Rassismus und Sexismus. Dadurch entsteht die gefährliche Tendenz, Klasse nur mehr als Diskriminierungsform wahrzunehmen. Fragen nach der Ausbeutung von Menschen, die immer auch mit Rassismus und Sexismus verschränkt sind, werden dabei in gewohnter neoliberaler Überheblichkeit einfach nicht beachtet.

Doch die absolute Abneigung Wagenknechts gegenüber Sprachsensibilität ist schwierig zu verstehen. Während sie in dem Kapitel „Große Erzählungen“ selbst versucht auf die Macht gesellschaftlicher Narrative oder von bestimmten Begriffen aufmerksam zu machen, spielt sie später die Bedeutung von Sprache herunter. Dabei ist Sprache eine Waffe, mit der wir Dinge einordnen können, die uns passieren. Sichtbarmachung kann allerdings nur der erste Schritt sein, danach muss das Handeln kommen. Solange es allerdings keine Begriffe für Dinge oder Gefühle gibt, gibt es auch keinen Weg diese zu kommunizieren. Identitätspolitik selbst ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Wäre dieser Begriff nicht eingeführt worden, würde im weiß dominierten linken Diskurs weiterhin nicht über die Lebensrealitäten von mehrfach diskriminierten Menschen gesprochen.