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MALMOE

Eine offene Kühlschranktür und ein dreckiges Baby

Für die MALMOE-Literaturseite schreiben Katharina Pressl und Marie Luise Lehner über das Wohnen, manchmal hochpolitisch oder eindringlich, manchmal humorvoll oder seicht. Dieses Mal behandeln die Texte das Statussymbol Topfpflanze und Befindlichkeiten sowie die Aussicht durch den Türspion.

Folge 4: Die Ermüdung einer Hauptmieterin und die Regeln auf dem Campingplatz

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Ankünfte und Abfahrten

An unserer Wohnungstür hing lange ein Plakat, das einmal für eine Fotografieausstellung geworben hatte. Durch das Auge eines Mannes, der in Schwarz-Weiß darauf abgebildet war, ging ein kleines Loch, durch das das Auge unseres Spions lugte. Auf dem Plakat stand der Titel der Ausstellung, die ich nie gesehen habe, aber deren Name ich gut an einer Wohnungstür finde: Arrivals and Departures.

Seit ich in der Wohnung wohne, sind viele Leute ein- und ausgezogen. Ich habe schon oft zu unterschiedlichen Leuten gesagt, bitte die scharfen Messer nicht in die Spülmaschine, bitte die Dosen vor dem Wegschmeißen auswaschen. Ich habe öfters die Abdeckung des Boilers geöffnet und gesagt, schau, hier kannst du sehen, wie hoch der Wasserdruck ist; auf einen Hahn in der Wand gedeutet und gesagt, hier kannst du Wasser nachfüllen. Anfänglich habe ich in den Gemeinschaftsbereichen öfters die Wände gestrichen. Mittlerweile bin ich müde geworden. Ich wohne seit fast zehn Jahren hier, und es gibt, so wie das Wändestreichen, einige Dinge, die außer mir noch nie jemand gemacht hat. Zum Beispiel den Siphon der Badewanne zu reinigen. Abgesehen davon, dass er wie jeder Siphon stinkt, ist das umständlich, weil die Badewanne nicht sonderlich professionell eingebaut worden ist. Man muss am Boden liegend mit dem Arm bis zur Schulter in ein kleines Loch hineingreifen und blind und einhändig den Siphon ab- und nach dem Reinigen wieder anschrauben.

Vor kurzem ist eine Amerikanerin ein- und wieder ausgezogen. Sie hatte gedacht, sie würde ein wenig länger bleiben, hat dann aber nach einem halben Jahr einen gut bezahlten Job in New York gefunden. Sie hat versucht, einen Sauerteig anzusetzen. Sie brachte viele Gewürze und drei große Tupperdosen mit, die meistens mit Linsen-Dal befüllt im Kühlschrank standen. Sie musste viel an ihrem Computer arbeiten. Öfters habe ich ihr Essen an den Schreibtisch gebracht. Manchmal haben wir miteinander Gymnastik gemacht, einmal sind wir zusammen zur Donaustadtbrücke geradelt und haben ein Bier im Sonnenuntergang getrunken. Sie ist ausgezogen, während ich im Urlaub war. Als ich zurückgekommen bin, hat sie keinen Zettel hinterlassen, aber ein vollgestelltes Zimmer. Ich entsorge ihre Dinge, putze schwarze Schlieren von ihren Wänden und ihrem Parkettboden. Der zweite Mitbewohner ist immer noch im Urlaub. Ich bin eine Weile lang dankbar, allein zu Hause zu sein. Ich wohne nicht ungern in Gemeinschaften, nur das ständige Kommen und Gehen ist mühsam. Umso kürzer die Mitbewohnerinnen bleiben, umso weniger geben sie auf die Räume und Böden und Wände und Türen acht.

Das Alter der Leute, die in WGs einziehen wollen, bleibt immer ähnlich. Meistens sind Interessierte sehr jung. Ich versuche, mich über den Freundinnenkreis umzuhören, wer gerade sucht, über spezielle Gruppen oder Mailinglisten, trotzdem melden sich regelmäßig Menschen, die erzählen, sie würden gerade noch bei den Eltern wohnen und die Wohnung wäre ihr erster Schritt ins Erwachsenenleben. In allen Gesprächen, in denen sich Menschen, die einziehen wollen, vorstellen und in denen wir über die Wohnung sprechen, wird, als wäre es ein Zauberspruch, von allen Seiten immer wiederholt, die Wohnung soll ein Ort sein, an dem sich alle sicher fühlen.

Es zieht ein junger Mann in das Zimmer neben der Küche, und ich merke, ich will nicht mehr. Er fragt mich, ob ich ihm den Mistkübel zeigen könne, nachdem ich gesagt habe, er sei im Hof. Er lässt den Kühlschrank offenstehen, und wenn er Geschirr abwäscht, läuft eine ganze Badewanne voll Trinkwasser durch die Spüle. Er schneidet das Brot schief ab, lässt scharfe Messer ungewaschen herumliegen und kann nicht kochen. Er verräumt Dinge an Orte, an die sie nicht gehören, das kenne ich, das wird sich in einem Monat gelegt haben. Wir werden bis dahin miteinander neu verhandeln, ob die Tomaten in den Kühlschrank kommen oder nicht, wo der beste Platz für die Nudelsiebe ist, wie wir den Putzplan verbessern könnten, wann wir in der Früh Kaffee mahlen dürfen. Er stellt mir sehr private Fragen und ich antworte. Ich bin nicht wie eine Pension oder ein Hotel, die Menschen, die einziehen, wollen alles über mich wissen, und ich gebe es preis, weil ich auf eine gute Gemeinschaft hoffe. Wenn ich vor dem Einziehen eine Person noch nicht kenne, ist nicht immer ganz klar, wer mir gegenübersitzt. Es fühlt sich riskant an. Ich erzähle wahrheitsgemäß von meinen Beziehungen und meinen Eltern. Am zweiten Tag steht er in Unterhose und ohne T-Shirt in der Küche. Abends nimmt er mein Buch aus dem Regal und liest ein paar Zeilen daraus vor und lacht. Es ist keine lustige Stelle. Er sagt, das sei sarkastisch und fragt, warum ich nicht lache. Ich sage, es sei aus dem Kontext gerissen. Er will weiterlesen, aber ich nehme es ihm aus der Hand. Nachts wache ich auf und höre den fremden Mann, mit den ich gerade zu zweit in meiner Wohnung wohne, mit einem anderen Mann heimkommen. In der Früh trage ich meine Straßenkleider und nicht mein Schlafgewand, als ich aus dem Zimmer herauskomme.

Als ich heute Nacht davon aufgewacht bin, dass der neue Mitbewohner heimgekommen ist, ist mir klar geworden, ich muss ihm sagen, dass ich mit ihm nicht zusammenwohnen möchte.

Marie Luise Lehner

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Immer noch dreckiges Kind

Gegen Ende des Sommers oder bereits in der Mitte, wenn sich viele Besucher:innen und viel Regen in einer besonders ungünstigen Reihenfolge abwechselten, wurde der Großteil des Campingplatzes braun oder gelb. Anette gewöhnte sich daran, wie an alles. Und die Camper mussten sich gar nicht erst gewöhnen, denn so oder so breiteten sie riesengroße Plastikteppiche vor den Treppchen aus, die zu ihren Miniwohnungen führten. Viele der braunen Flecken kamen überhaupt erst davon. Unter der Plastikdecke wurde nach ein paar Tagen das Gras hellgrün, und wenn sie, die nur dazu diente, dass bloße Füße nicht auf pures Gras treten müssen, nach ein paar weiteren Tagen entfernt wurde, traf die Sonne die Grashalme zu hart. Es trat eine Überdosis Licht ein, sie starben ab oder die Freude der Camperkinder über rohen Boden zertrampelte sie bald.

Bei den Rundgängen gab es eine fixe Routine. Es gab Zwischenrufe, mit denen im Grunde genauso zu rechnen war. „Jemand hat mein Stromkabel ausgesteckt!“, „Haben Sie organische Holzkohleanzünder?“, „A Feiaobndhülsn, die Dame?“

Wirklich überraschende Ausreißer gab es nur ab und zu, dann dafür in alle Richtungen. Einer mit Hakenkreuz-Tattoo oder „Österreich“ ausbuchstabiert über den Bauch tätowiert, ein schnell anschwellender Bienenstich am Hals, ein abschwellendes Geburtstagsgstanzl mit anschließendem Applaus, die Einladung zu einer Schachpartie, eine grölende Junggesellenpartie, die schmutzige bis gesetzlich relevante Liedtexte sang. Nie hatte sie etwas ganz so Arges erlebt, wie das, was ihr einmal ein alter Deutscher erzählt hatte, der damals im Osten einen Campingplatz besaß, damals, als Campen gerade erst erfunden worden war und viele Familien das erste Mal (oder das erste Mal seit fünfundvierzig) urlaubten. Zuerst wild, irgendwo, dann dort, wo jemand ein Klo und ein Waschbecken hingestellt hatte und Geld für deren Benutzung verlangte. Und während so eines Urlaubs holte man den alten Deutschen, der vor ein paar Jahren Anette gleich zur Begrüßung im Rezeptionshäuschen diese Geschichte erzählt hatte, bei einem Rundgang über seinen Platz zu einem Zelt, und darin war ein Baby zur Welt gekommen, genau in den letzten eineinhalb Stunden, während der Besitzer auf Kaffee und Kuchen bei seiner Mutter einen Ort weiter gewesen war. Das Baby war nicht das sauberste und zu früh dran, aber dreckige Kinder seien gesunde Kinder, meinte der alte Deutsche zu Anette, genau wie Anettes Mutter es zu jedem gemeint hatte, der es hören wollte. Immer wenn sie diesen Grundsatz ihres Aufwachsens hörte, musste sie unweigerlich ihre Hände hinter dem Rücken verschränken, um die womöglich schmutzigen Fingernägel zu verstecken, oder sie griff sich reflexhaft an die Nase oder in die Augenwinkel, um etwaige übersehene Beweise zu verwischen, dass sie im Grunde trotz der längst versuchten Erwachsenenordnung noch immer ein dreckiges Kind war. Die Camper waren zum Glück, da sie selbst im Matsch lebten, nicht allzu streng mit ihr, das war ein Trost. Doch so oder so hatte sie über all die Jahre, die sie sich einer wie auch immer breiten Öffentlichkeit aussetzen musste, gut genug gelernt, sich zurechtzurichten: privat, in den verschiedensten Arbeitsangelegenheiten, und wenn sie ihre Steinskulpturen in einer Galerie ausstellte. Letzten Endes hatte sie freilich keine andere Wahl. Allein aufgrund der Tatsache, Bewohnerin dieser Welt zu sein, musste sie sich zurechtrichten. Am Ende des Tages alles nur, damit ja niemand von unfrisierten Haaren oder dreckigen Fingernägeln auf ein Leben, das nicht im Griff war, schloss. Gerade mit den Haaren war die Sache nicht so eindeutig. So gab es die Art unfrisiert, die Coolness bedeutete, und die Art unfrisiert, die ein Nichtschaffen, ein Scheitern darstellte. Das richtige Unfrisiert kam nicht einfach so, sondern vom Verlernen. Aber wer es nie gelernt hat, dem merkte man den Unterschied in der Unfrisiertheit an. Und deshalb hat Anette über die Jahre nach außen genauer werden müssen, weil sie nie das Gefühl hatte, unrasierte Achseln sind cool, sondern eher, wenn du es nicht schaffst, regelmäßig und konsequent die Achseln zu rasieren, dann wirst du noch mehr stinken, und außerdem ist dein Pullover zu groß und hat hinten an der Schulter ein Loch. Gut möglich, dass Anette auch zu streng mit allen anderen war. Sicher gab es genug Hippies, die es weder besser konnten noch besser wollten und einfach at peace mit unfrisierten Haaren, griaglatn Augen, Haaren an der Brustwarze und nicht zweimal täglich geputzten Zähnen lebten. Es war ihnen passiert und gleichzeitig waren sie aus Überzeugung cool damit; ein überaus praktisches Zusammenfallen zweier Gegebenheiten. Und sicherlich gab es genug Queere und Hipster, die die Welt nicht in erster Linie als sauber, ordentlich, deutsch und bürgerlich kennengelernt hatten und denen vieles nicht leichtfiel zu verlernen, aber trotzdem verlernten, was sie für bescheuert hielten, ohne sich die Frage zu stellen, ob sie das andere, das Richtig-frisiert-Sein, genauso geschafft hätten, da sie es ja ohnehin für bescheuert hielten.

Das Schwierige war wohl kaum, sich nicht die Achseln zu rasieren; dafür musste man gar nichts tun. Das Schwierige war in allen Lebenslagen und gegenüber jeder Person d’accord zu sein.

Beim Rundgang war sie beim Blumenbeet angekommen. Mit der linken Hand versuchte sie, die schon wieder aufgehenden Triebe des alles überwuchernden Hartriegels auszureißen, und mit der rechten, die Touristenblumen zu gießen. Anette zupfte grob. Irgendwie war sie wieder an diesem Punkt angelangt, über so etwas wie Körperhaare nachzudenken. Immerhin sollte es eine Kleinigkeit sein, etwas Selbstverständliches, ein nichts veränderndes Symbol, ein Mindestgrad an Freundlichkeit gegenüber sich selbst. Wenn man wegen sowas herumdachte und sich hineinnagte, wie sollte man je in anderen Belangen weiterkommen.

Die Wildblumen sind dieses Jahr das erste Mal so richtig aufgegangen. Aus einem der Blütenkelche stolperte ein Tierchen mit gelbem, süßem Nektar in den Härchen. Hummeln, dachte Anette, sind die besseren Menschen.

Katharina Pressl