MALMOE

Da ist etwas serbisch in Dänemark

Nach vier Jahren Wartezeit ist dieser Tage Barbi Markovićs neues Werk Die verschissene Zeit erschienen und es ist ein Masterpiece geworden

Belgrad, 1995. Vanja, ihr Bruder Marko und ihre Freundin Kasandra fristen ein tristes Dasein in einer tristen Zeit im tristen Stadtteil Banovo brdo. Gewalt und Erniedrigung sind Teil ihres täglichen Lebens, sei es in der Schule, auf der Straße oder zuhause.

In dem Kontext könnte man fast von einer willkommenen Abwechslung sprechen, wenn der auf den ersten Blick sehr sympathische verrückte Wissenschaftler Miomir Vukobratović beim Versuch, mit seiner Zeitmaschine ins Jahr 1968 zurückzureisen, um der Menschheit (konkret: den Student:innen) noch eine Chance zu geben, das gute Leben zu erkämpfen, kläglich scheitert. Stattdessen beschwört er unabsichtlich die „Allneunziger“ herauf. Direkt davon betroffen sind auch die drei Protagonist:innen, die gerade versuchten, im erzwungenen Auftrag der endbossähnlichen Problemzwillinge mit dem klingenden Nachnamen Bambalić, ein ominöses Medaillon aus dem Haus von Miomir und seiner Frau – niemand geringerem als dem Pop-Superstar Gana Savić – zu entwenden. Miomirs Malheur hat zur Folge, dass es zu einigermaßen unvorhersehbaren Zeitsprüngen kommt, allerdings nur innerhalb der 1990er Jahre.

Die Story ist so haarsträubend verrückt wie witzig. Diese Tatsache allein ist schon eine Meisterinnenleistung, wenn man bedenkt, in was für einer schrecklichen Zeit sich die Handlung des Buches vollzieht, es herrschte immerhin Krieg am Balkan. Aber auch auf formaler Ebene lässt es die Autorin krachen. Die Geschichte wird nämlich großteils aus der Sicht von Vanja geschildert, die aber nicht selbst die Ereignisse wiedergibt, sondern von einer unbekannten Erzählperson angesprochen (mitunter auch motiviert und beschimpft) wird. Apropos Schimpfen: Kraftausdrücken kommt eine tragende Bedeutung in diesem herzerwärmenden Roman zu, sind sie doch das zielführendste Mittel, um sich der ewig aussichtslosen Lage zu stellen. In diesem Kontext ist Kasandra hervorzuheben, die unangefochtene Meisterin der Schimpftiraden: „Scheißzwillinge! Ich pisse auf eure weißen Unterhosen und T-Shirts und Sportschuhe und ficke eure Sava-Brote, die ihr fresst mit meiner Scheiße und ihr sagt Mmmhm, weil euch meine Scheiße schmeckt, wie das Schwarze vom Eurocrem (…)“

Einer ganz kurzen Affäre von Kasandra mit dem Gangstergehilfen Damir entspringt dann auch einer der schönsten Sätze der Literaturgeschichte: „Insgesamt produzieren Kasandra und Damir an diesem Abend eines der wichtigsten und flüchtigsten Produkte des sozialen Lebens, das man nicht kaufen kann und nur relativ selten zustande bringt: Nähe.“ Auffallend ist zudem, dass die jugendlichen Hauptcharaktere sich eines Vokabulars sowie einer Denk- und Ausdrucksweise bedienen, die sie in ihrem Alter kaum beherrschen können (abgesehen vom Fluchen). Kurz gesagt macht sich die Autorin einen großen Spaß mit ihren Figuren, der Handlung sowie der deutschen Sprache („Ein lauwarmer Wind föhnt die versammelte Gemeinde“). Es ist der erste Roman, den die seit 2006 in Wien lebende Serbin Marković ohne Übersetzungshilfe auf Deutsch geschrieben hat.

Ein bisschen Proust darf in der Verschissenen Zeit natürlich auch nicht fehlen („Warten bedeutet, immer die gleiche Zeile zu lesen und dann wieder die gleiche Zeile und dann wieder von vorne die gleiche Zeile im Proust“) und wer nicht genug von ihr bekommen kann, ist herzlich eingeladen, selbst einzugreifen mithilfe der dem Buch beiliegenden Anleitung zum gleichnamigen Rollenspiel. Verfickter Vater aus Plastik!

Barbi Marković (2021): Die verschissene Zeit. Residenz Verlag, Salzburg/Wien. Selbstverständlich erhältlich im Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.