MALMOE

„Das war und wird kein Einzelfall sein“

Im Juni 2020 war Favoriten drei Tage am Stück im Fokus der Berichterstattung. Von 24. bis 26. kam es zu Angriffen der Grauen Wölfe, einer faschistischen Bewegung der parteipolitischen extremen Rechten der Türkei, die auch in der türkischen Diaspora stark präsent ist. Ziel der Angriffe war zu Beginn die Frauensolidarität, eine türkisch-kurdische Frauenorganisation, die bei ihrer Kundgebung am Keplerplatz auf die steigende Zahl an Femiziden aufmerksam machen wollte. Im Laufe der Angriffe verlagerte sich der Ort des Geschehens zum nahe gelegenen Ernst-Kirchweger-Haus (EKH), wo unter anderem linke türkisch-kurdische Vereine Räumlichkeiten haben. Ein Interview mit Dilan von der Frauensolidarität über die Angriffe der Grauen Wölfe.

MALMOE: Du kommst von der Frauensolidarität Europa. Was macht ihr? Was sind eure Anliegen?

Dilan: In Wien sind wir als Frauensolidarität, in Europa haben wir vier Frauenorganisationen: Den Bund Sozialistischer Frauen, Avesta, Yeni Kadin und ADKH. Letztes Jahr haben wir uns zusammengeschlossen und diese Plattform gegründet, weil in der Pandemie mehr Frauen von häuslicher Gewalt und Femiziden betroffen waren, das wollten wir öffentlich machen. Wir haben im 1. Bezirk am Stephansplatz mit unseren Kundgebungen gestartet. Üblicherweise finden die Kundgebungen dort statt, aber wir haben uns entschieden, dass wir alle Frauen in allen Bezirken, vorzugsweise Arbeiterinnen und Migrantinnen, ansprechen wollen. Damit sie sehen, dass sie nicht allein sind, damit sie wissen, welche Frauenbewegungen es gibt, die sie in der Not kontaktieren können.

Wie hast du die Geschehnisse rund um die Angriffe durch die Grauen Wölfe wahrgenommen?

Ich bin aus der Arbeit direkt in den 10. Bezirk gefahren, etwa 20 Minuten später bin ich angekommen. In dem Moment habe ich gesehen, dass rund 20 Frauen da waren und nicht wussten, wie sie sich verteidigen sollten, weil sie rund herum von den Grauen Wölfen und der Polizei eingekesselt waren. Die Polizei war 10 bis 15 Minuten später zu der Kundgebung gekommen. Bevor die ankam, wurde eine Frau angegriffen und ihre YPJ-Fahne auf den Boden geschmissen. Ständig wurden wir beschimpft, die Grauen Wölfe wollten sich uns nähern und körperlich übergriffig werden. Anstatt deren Ausweise zu kontrollieren, haben sie bei einer Genossin eine Kontrolle gemacht. Die Grauen Wölfe haben währenddessen Videos und Fotos von uns gemacht, haben uns beschimpft und uns mit Vergewaltigung gedroht. Sie haben nicht einmal zugehört, was wir sagen, warum wir am Platz stehen. Einfach frauenfeindlich! Es war eine sehr große Anspannung, da sie jeden Augenblick angreifen konnten. Wir mussten unsere eigene Kundgebung, die wir Tage vorher angemeldet hatten, abbrechen, weil die Polizei die Grauen Wölfe nicht kontrollieren konnte oder wollte.
Danach sind wir zum VTID gegangen, ein türkisch-kurdischer Verein für Linke. Dort wollten wir nachbesprechen. Auf einmal hörten wir von draußen schreiende Menschen. Wir schauten nach und sahen, dass sich rund 50 Graue Wölfe versammelt hatten, die Polizei stand vor ihnen und tat nichts. Ihre Anzahl hat sich dann innerhalb von einer Stunde verdoppelt und verdreifacht. Wir durften nicht raus aus dem Gebäude, da es sonst zu Provokationen kommen würde, sagte ein Kommissar zu mir. Aber diese Männer durften sich in Massen vor dem EKH versammeln, uns mit Mord und Vergewaltigung drohen und das Handzeichen der Grauen Wölfe machen, obwohl das in Österreich verboten sein soll, angeblich. Drei Stunden lang ist es so weitergegangen, bis wir eine Demonstration zum Hauptbahnhof mobilisierten. Um 21 Uhr hat dann die Polizei weniger als 20 Minuten gebraucht, um die Grauen Wölfe aufzulösen.
Am nächsten Tag haben wir nochmal eine Kundgebung am Keplerplatz organisiert, die wieder von den Grauen Wölfen angegriffen wurde. Wir konnten aber trotzdem marschieren! Am selben Tag wurde der Verein DIDF angegriffen und die Fensterscheiben demoliert. Nachdem die Straße, wo zuvor linke AktivistInnen waren, leer war, attackierten sie das EKH. Die Polizei hat zugeschaut, obwohl sie wussten, dass die Mehrheit der Frauen dort Kurdinnen und Alevitinnen waren. Es war wild.
Am nächsten Tag, also am Freitag, haben wir nochmal eine Kundgebung organisiert – diesmal vor dem EKH – und sind dann Richtung Hauptbahnhof marschiert. Wir wurden von den Grauen Wölfen immer wieder beschimpft und mit Mord bedroht. Am Samstag haben wir uns am Columbusplatz versammelt und sind zur türkischen Botschaft gegangen. Das war die einzige Kundgebung und Demonstration innerhalb von vier Tagen, die friedlich abgelaufen ist.

Wie habt ihr die Solidarität seitens des EKH, seitens linker Aktivist*innen empfunden?

Der Frauenstreik und das FZ waren von Anfang an bei unseren Kundgebungen dabei, ab Ende Mai auch die AG Feministischer Streik. An dem Tag waren die genannten Frauenorganisationen vor Ort und haben starke Solidarität gezeigt. Nachdem wir im Vereinsraum eingesperrt waren, sind die Genoss*innen vom EKH sofort an unserer Seite gestanden, auch deshalb konnten wir uns sehr schnell mobilisieren. Es sind auch sehr viele andere linke Organisationen gekommen und haben sich voll solidarisiert.

Wo siehst du als Feministin die Gefahr seitens Bewegungen wie den Grauen Wölfen?

Ich bin von der Frauenorganisation SKB – Bund Sozialistischer Frauen. Wir definieren uns als sozialistisch. Die anderen drei Frauenbewegungen definieren sich anders. Aber wir arbeiten sehr oft mit Feministinnen. Die Gefahr seitens Bewegungen wie den Grauen Wölfen ist sehr groß. Wir könnten auf der Straße von denen attackiert werden, wenn sie merken, dass wir Kurdinnen oder Alevitinnen sind, oder wenn sie merken, dass wir in linken Organisationen aktiv sind. Mord- und Vergewaltigungsdrohungen können Realität werden. Sehr viele Frauen fühlten sich für eine Zeit lang unsicher im 10. Bezirk und änderten die Routen zu ihren Wohnungen, aus Angst, dass sie angegriffen werden könnten.

Wie verhält es sich als kurdische Frau in Österreich mit dem türkischen Nationalismus und den Grauen Wölfen? Diese Probleme findet ihr bestimmt nicht nur in Favoriten?

Wir sind am Handelskai attackiert worden, wir sind in Meidling attackiert worden. Warum? Es geht um Repression, Druck und Belastung seitens der Türkei gegen kurdisch-alevitische Frauen und genau da greifen sie uns an. Etwa, wenn sie das Wort „Dersim“ hören. Wenn sie hören, was für schreckliche Sachen die Türkei und Erdogan mit uns gemacht haben. Da werden sie sprachlos, weil sie wissen, dass wir recht haben. In Meidling ist es genauso, sie hören in einem Satz „kurdische Frauen“ und greifen sofort an. An beiden Orten sind die Einwohnerinnen meistens Migrantinnen. Sie sind diejenigen, die immer wieder psychische, körperliche, verbale, emotionale und ökonomische Gewalt erleben. Als kurdisch-demokratisch-sozialistische Frauen werden wir den 10. Bezirk nicht den Grauen Wölfen überlassen und werden weiterhin für alle Migrant*innen vor Ort sein, wenn sie uns brauchen.

Was passiert in Dersim?

Der Staat und die Sicherheitskräfte in der Türkei wissen, dass die Menschen in Dersim sich gegen die Repressionen wehren. Sie stellen sich gegen die Razzien und beugen sich nicht. Aus diesem Grund greift der Staat die kurdisch-alevitische Bevölkerung immer und immer wieder an. Sie wissen, dass sich viele aus dieser Stadt gegen die türkische Besatzung in Kurdistan zusammenschließen und hart dagegen ankämpfen.

Bezüglich Österreich – Angriffe, wie die in Favoriten sind kein Einzelfall?

Das war und wird kein Einzelfall sein. Solange die Faschist*innen organisiert und frei herumlaufen können, werden diese Angriffe immer stattfinden.

Wie hast du die politische und mediale Debatte nach den Ausschreitungen aufgefasst? Hast du dich repräsentiert gefühlt?

Nein, es war lächerlich. „Parallelgesellschaften wollen wir nicht“ und „Türken-Kurden-Kampf“ – das sind diskriminierende Schlagwörter. Es waren hunderte Graue Wölfe, die eine Frauenkundgebung gestört und attackiert haben. Das ist es gewesen. Es gab natürlich Journalist*innen, die das Geschehen korrekt geschildert haben – denen ein großes Dankeschön. Was jedoch die Regierung und ihre Organe gesagt haben, war die reinste Diskriminierung von uns Migrant*innen.

Was würde deiner Meinung nach die Situation in Favoriten verbessern? So, dass es möglich ist, eine Demonstration oder Kundgebung zu machen, ohne angegriffen zu werden?

Man muss klarmachen, dass Favoriten nicht den Grauen Wölfen und den Nationalist*innen gehört. Wir müssen dort so oft wie möglich Kundgebungen organisieren und Infostände machen. Wir werden weiterhin gegen das patriarchale System kämpfen und für Migrantinnen, Arbeiterinnen, Mütter – für alle Frauen! – auf den Straßen bleiben.