MALMOE

Von der Krise zur Katastrophe

Flashback: Kann ein Virus die Weltordnung ändern? Man mag uns viel erzählen über die Relativität der Gefahren durch das Coronavirus, über die „Normalität“ von Grippeopfern und Verkehrstoten, über geeignete Gegenmaßnahmen und Heilungsaussichten. Aber diese Krankheit ist neu! Es ist ungewiss, wie sie sich entwickeln wird, und ungewiss ist auch, wie sich das Leben ändern muss, damit man mit dieser Krankheit leben lernt und ihre Opfer als „normal“ akzeptiert. Eine heimtückische Selektion zeichnet sich immerhin ab; die alten und schwachen, die
„vorerkrankten“ Menschen sind die hauptsächlichen Todeskandidat*innen, womöglich auch Menschen, die sich mehrfach infizieren, wie etwa Mediziner*innen und Pflegepersonal, „Dienstleister*innen“ und Ordnungskräfte. Nicht minder heimtückisch die größten Gefahren: die Reise, die öffentliche Versammlung, das kulturelle Leben. Und nicht zuletzt (es scheint, als würde in gewissen Kreisen gerade dies der Hauptgrund für Panik sein) sind Wirtschaftswachstum und Börsenkurse in Gefahr (in China, heißt es, ist dem Coronavirus wegen des wirtschaftlichen Rückgangs eine deutliche Verbesserung der Luftqualität zu verdanken); der Reichtum „flüchtet ins Gold“, die archaische und unproduktive Form von Kapital. Kurzum: Das Coronavirus als metaphorische Strafe für Globalisierung und „Asiatisierung“ des Kapitalismus führt tatsächlich zu einer Regression (womöglich hier und dort auch zu einer Rezession); auf die biografische Selektion folgt eine politisch-ökonomische.

Seuchen können Metaphern, Symptome, Beschleuniger von fundamentalen Verschiebungen von Macht und Ordnungen sein; können sie für sich auch ein Game Changing bewirken? Seuchen spielten, gewiss, ebenso beim Fall von Weltreichen eine wichtige Rolle, wie umgekehrt bei der Kolonisation und Ausbeutung; in den großen Kriegen waren Krankheiten oft so ausschlaggebend wie Heeresstärken, Wetter, Strategien und Bewaffnung, im schlimmsten Fall werden Krankheiten bewusst als Waffen eingesetzt – und umgekehrt unterstellt Propaganda rasch der Krankheit, vom Feind heimtückisch eingeschleust zu sein. Decken wir den Mantel der humanistischen Vernunft über ein sich nach und nach herausbildendes Narrativ, in dem das alles zusammenkommt: Die Seuche als Strafe Gottes (an den Regimes der „Ungläubigen“ und Unbotmäßigen und an den kosmopolitischen Wandernden und den „Unordentlichen“), die Seuche als Strafe für die Offenheit der Grenzen (und den Verrat an der Konstruktion völkischer und nationaler Identitäten als Abbild eines „gesunden“ und „wehrhaften“ Körpers, für „Vermischungen“ aller Art) und die Seuche als Wettbewerbsvorteil im Wirtschaftskrieg, als Bestrafung und Belohnung für zivilisatorische Effizienz. Dieses Narrativ der dreifachen Boshaftigkeit kommt kaum in einer reinen und kompakten Form vor. Es bilden sich eher suggestive Bilder, darüber, wie sich das Game Changing auswirkt.

Wir leben nicht nur mit der Krankheit bzw. gegen sie, sondern auch in der Angst vor ihr. Die Angst vor der Krankheit wird wiederum selbst zur Krankheit. Aber selbst der berühmte „eingebildete Kranke“ ist ein durchaus ambivalenter Charakter. Einerseits drückt er seine Angst vor der Krankheit aus (und damit natürlich auch die Wichtigkeit seiner bedrohten Person), andrerseits aber formuliert er auch ein Bittgesuch um Zuwendung, Nachsicht und Trost. Was die Biografien anbelangt, ist uns vollkommen klar, dass es auch eine „Flucht in die Krankheit“ gibt, die Krankheit als Metapher einer allgemeinen Überforderung und ungelöster Widersprüche. Lieber krank sein als schuldig, lieber dem eigenen Körper als dem peinigenden Mitmenschen nachgeben. Kann es auch eine Gesellschaft geben, die sich in die Krankheit flüchtet? In kleiner Münze erleben wir das im täglichen Medienkonsum als eine unendliche Schraube von Krankheitsfurcht und Vorsorgeversprechen; Gesundheit mag am Ende ein Fetisch sein, der sich aus beständig geschürter Angst bildet, nicht fit genug für den Wettkampf und für den anschließenden Fun zu sein. Gesundheit ist eine Ware und höchstes Gut der Selbstvermarktung. Kein Wunder also, dass eines der Symptome der Viruskrise das Zunehmen der Geschäfte mit der Angst, der Wucherpreise und der Wunderheiler ist.

Denn auch die Angst vor der Krankheit ist zugleich eine körperliche und eine soziale. Wie wird man mich behandeln, wenn ich krank bin? Werde ich mir Hilfe überhaupt leisten können, werde ich anderen „zur Last fallen“, wird man mir, dem Kranken, das Selbstbestimmungsrecht entziehen, verwandelt sich die Angst vor der Krankheit in die Angst vor mir, dem Kranken? Und umgekehrt fragen sich die gesellschaftlichen Systeme: Wie umgehen mit den Kranken, wie aber auch mit den Ängsten? Was muss verboten werden, welche Rechte dürfen nicht, oder erst im größten Notfall angetastet werden? Wie viel Wahrheit, wie viel Lüge muss im Interesse des öffentlichen Friedens und der Ordnung verbreitet werden? Wie die Versorgung, die Unterbringung, die Behandlung sicherstellen, ohne an anderer Stelle Krisen zu erzeugen? Tatsächlich ist jede Seuche auch eine Probe auf das Verhältnis zwischen den Regierungen und den Regierten. In finsteren Zeiten sind Seuchen und Bürgerkriege ineinander verwoben.

Auszug aus Georg Seeßlen (2020): Coronakontrolle – Nach der Krise, vor der Katastrophe. Bahoe Books, Wien. 15 Euro