MALMOE

Bruchstücke einer 
queeren Sorgestruktur

Wir sind drei erwachsene Personen und ein fast vierjähriges Kind. Zwei der Erwachsenen sind miteinander in einer lesbischen Beziehung. Das Kind ist jeweils eine Woche in unserer WG, die andere Woche in seiner anderen WG. In diesem Text beziehen wir uns auf „unsere“ WG und sein Bezugssystem, in dem insgesamt sechs Erwachsene täglich bis monatlich Sorge für das Kind übernehmen. Wir Erwachsenen identifizieren uns als FLNT*, weiß, able-bodied, mehr und weniger akademisiert und queer.

Wir wollen Sichtbarkeit für queere Care-Netzwerke schaffen. Das ist ein politischer Anspruch, den wir verfolgen. Gleichzeitig ist es unser Privatleben, unser großer Schatz und unser langweiliger Alltag. Inwiefern sind wir euch verpflichtet unsere Intimsphäre auszubreiten um visibility zu schaffen? Und wie besonders ist unsere Position denn wirklich?

Sobald sich Leute außerhalb unseres Bezugssystems anmaßen Beurteilungen zu unserer Lebensform abzugeben, schwanken diese zwischen Irritation und Faszination. Oftmals wird ein Mangel in unsere Lebenslage hineinprojiziert, der in dem Sinne ja gar nicht zutreffen muss oder kann.

„Ohje… Das Kind ist sicher zerrissen in diesen zwei Welten; Dann DiE MuTtEr auch noch berufstätig; Und so viele Leute?“

In Wahrheit profitieren wir doch gerade von unserem großen Netzwerk und wie handlungsfähig es uns macht. Wir können uns abwechseln, Verantwortung übernehmen, aber auch abgeben. Wir können Lohnarbeit nachgehen, aber auch feiern gehen. Unser Kind hat es mit Erwachsenen zu tun, die die allermeiste Zeit richtig Bock darauf haben mit ihm abzuhängen, die sich auf es freuen und viele Ressourcen haben ihm Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken.

An vielen Stellen nehmen wir aber auch Bewunderung oder eine Art Romantisierung wahr: „Toll für dich als Mama, dann hast du ja total viele Leute, die mithelfen.“ Ja, es ist großartig, aber da steckt auch richtig viel Arbeit drin. Das gab‘s nicht geschenkt. Je mehr Leute involviert sind, desto mehr Koordination und konstruktive Kommunikation braucht es.

Die Reaktionen zeigen uns jedes Mal das vermeintlich Außergewöhnliche an unserem Lebensentwurf auf. Deswegen überlegen wir, wo und mit wem wir teilen, wie wir leben. Wollen wir uns den ausgelösten Emotionen der Gesprächspartner*innen aussetzen, uns womöglich rechtfertigen oder verteidigen müssen? Die Entscheidung zu einer Hetero-Kleinfamilienstruktur muss jedoch kaum verteidigt und noch weniger begründet werden. „Wie ist das wohl so, wenn es nur einen Papa und eine Mama gibt? Habt ihr keine Angst, dass das Kind nur binäre Genderidentitäten vorgelebt bekommt?“ Dass ihr schon aussteigt, sobald ihr unseren Mitbewohnis keine Geschlechtsidentitäten zuordnen könnt, langweilt uns!

Positive Erfahrungen im Austausch mit dem Außen gibt es glücklicherweise auch. Ehrlich interessierte Fragen können zum Beispiel das Gefühl gesehen und anerkannt zu werden erzeugen und auch ein Stückchen Sicherheit geben: „Puh, wir machen‘s eh ganz ok.“ Daran merken wir, dass wir oft verunsichert sind und vielleicht doch abhängiger von eurer Meinung, als uns lieb ist.

Bezüglich der ambivalenten Erfahrungen gibt es auch unter uns Erwachsenen verschiedene Wahrnehmungen, die sich aus den unterschiedlichen Rollen ergeben. Die Nicht-Obsorgeträger*innen können sich möglicherweise eher die Zuckerl herausnehmen – am Ende des Tages tragen wir keine offiziell rechtliche Verantwortung, erleben eher die Highs als die Lows. Wir Erwachsenen ohne Obsorge tragen Verantwortung für eine Beziehung zu einem jungen Menschen, die wir vielleicht doch eher dem Spektrum Freund*innenschaft zuordnen. Gleichzeitig ist es eine Freund*innenschaft, die anders ist als zwischen Erwachsenen: einerseits aufgrund unterschiedlicher Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten, andererseits bedingungsloser und sie geht mit einer besonderen Verantwortung einher.

Als queeres Couple gab es vor dem Zusammenleben ein Bedürfnis ein „eigenes Kind“ groß zu ziehen. „Wie ist es für euch mit einem Kind zusammen zu wohnen?“ „Mega cool und unser Kinderwunsch ist erfüllt.“ Das heißt aber nicht, dass wir die Vorstellung noch mehr Kids in der WG zu haben nicht sehr schön finden.

Die Auseinandersetzungen und Gespräche, die wir vor und während des Verfassens des Textes geführt haben, zeigten uns einmal mehr die Ambivalenzen auf, die sich nicht nur in den Reaktionen von außen widerspiegeln, sondern auch in uns selbst.

Wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt, hakt es bei uns wie in jeder anderen Wohn- und Lebenskonstellation auch von Zeit zu Zeit. Wir streiten übers Zähne-Nachputzen und darüber, wer mehr aufräumen soll. Aber vielleicht haben wir Erwachsenen manchmal ein bisschen mehr oder zu viel Furcht vor Klischees, die als Mangel von Care-Kompetenz gewertet werden könnten. Zum Beispiel, wenn die Kindergartenpädagogin fragt: „Ahja, das Kind lebt in zwei WGs?! Wie habt ihr‘s denn mit Regeln?“

Schuldgefühle und Versagensängste können auf unserer Seite schnell groß werden, schließlich kann die Einschätzung von außen auch real bedrohlich sein. Eine gewisse Erleichterung darüber, dass das Kind so sozial, meistens fröhlich und „umgänglich“ ist, ist dann fast beschämend.

Heteronormativ patriarchale Ideen davon aufzubrechen, wie Reproduktionsarbeit auszusehen hat, bedeutet Arbeit. Kollektivität mit Kind zu leben, heißt auch solidarische Praxis zu pflegen und zu lernen Dankbarkeitsverpflichtungen abzulegen. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn mein Kind anderen Leuten Arbeit macht und mich nicht bedanken, wenn diese Arbeit von anderen Leuten erledigt wird.

Schlussendlich gibt es für unsere Konstellation keine vorgefertigte Struktur – aber klar gibt es in der WG Regeln und Rituale. Sie richten sich nach den Bedürfnissen der einzelnen Mitbewohner*innen, sind bis zu einem gewissen Grad flexibel und werden regelmäßig angepasst. Unser Kind kann urviele verschiedene Dinge von uns lernen und wir von ihm. Unsere Sichtweisen und Erfahrungen sollen gleichwertig sein und jede*r soll den gleichen Raum zur Verfügung haben.

Fazit: „Boah wir haben ja auch keine Ahnung was wir da tun…“, aber dass wir es anders machen als unsere Eltern, beruhigt uns.