MALMOE

Schmutzige Finger

Was war los auf der Viennale? Eigentlich alles wie immer. Doch etwas stimmt nicht im Kino.

Es ist Herbst in Wien und ein Leuchtturm der österreichischen Kulturlandschaft erhellt wie jedes Jahr aufs Neue die Leinwände der Stadt. Die Viennale findet als eines der ersten Filmfestivals nach dem ersten Lockdown im krisengeschüttelten Jahr 2020 wieder vor Ort im Kino statt und das mit ausgeklügelten Konzepten zu Contact-Tracing und Kontaktvermeidung – geschenkt. Alles was ein Filmfestival eben braucht. Bei all der Euphorie steht nach der Wiederöffnung der Kinos das Sterben derselben wieder im Raum. „Es lebe der Zentralfriedhof“ – in Wien lässt sich ja bekanntlich inflationär gern über den Tod und das Sterben philosophieren. Gar allzu sinnbildlich dafür macht ein Film von sich reden, der auch schon einen gewissen Erfolg bei der Berlinale 2020 feiern durfte. Es handelt sich um Tizza Covis und Rainer Frimmels neuestes Werk Aufzeichnungen aus der Unterwelt.

Die Milieustudie anhand zweier befreundeter Alt-Wiener-Strizzis veranschaulicht einen juwelhaften Einschluss eines vergangenen Wiens, in dem wohl – so scheint und heißt es – noch alles besser und gemütlicher als heute war. Alois Schmutzer und Kurt Girk, die sich in den 1970er Jahren im kleinkriminellen Dunstkreis des Stoßspielens herumtrieben, erzählen in intimen, schwarz-weißen Nahaufnahmen von Kriegstagen, ihrer Jugend sowie schließlich vom allmählichen Abdriften in die sogenannte Unterwelt, was in einem zunächst noch unaufgedeckten Justizskandal mit mehrjährigen Haftstrafen für beide gipfelt. Begleitet werden sie von den konterkarierenden Erzählungen ihrer Weggefährten aus vergangenen Tagen. Eine Geschichte, die es zu entdecken lohnt, die aber vor lauter wohltuender Geselligkeit zu unerreichbar weit vom Wien des Jahres 2020 entfernt zu liegen scheint, als dass man sich mit dem Vorwurf eskapistischer Nostalgie auseinandersetzen müsse. Besonders dann, wenn das Regie-Duo ein wenig zu verliebt von ihrer Affinität zu analogem Filmmaterial erzählt, als wäre alles gesagt und besprochen, besteht die Gefahr, es sich im Film angesichts schmerzlicher Erinnerungen zu bequem einzurichten. Man könnte den Film leichtfertig als humanistischen Wermutstropfen abtun. Aber gibt es so etwas wie Menschlichkeit im Film? Das, was wir sehen ist Melancholie, keine Trauer.

Anstand, Gemeinschaft und Narzissmus

Mit ironisch auf die Retrospektive zu Ehren des deutschen Kulturmessias Christoph Schlingensief schielendem Blick, war die Viennale noch nie ein Festival, das mit Skandalen aufwartete. So fügt sich auch jener Film von Covi und Frimmel bruchlos in diese Tradition ein. Es liegt wohl nicht an diesem Werk allein, oder überhaupt an ihm, und doch legt er sich wie kein zweiter balsamierend über das zerrüttete Gemüt des Wiener Publikums. Eines, das sich am liebsten selbst reden hört. Entweder über die leeren Dragee-Keksi-Behälter, das seltsame junge Publikum oder über die gestrige Demonstration vor der Oper. Links, rechts? Wer weiß das schon. In der Stadt mit der vermeintlich höchsten Lebensqualität gibt man sich lieber mondän und starrt mit hochgezogenen Augenbrauen oder ganz geschlossenen Augen auf die grelle Leinwand. Die Viennale steht für ein geschmackvolles Kino „der internationalen Filmkultur auf hohem ästhetischem und politischem Niveau“. Dank dem Anspruch an Vermittlung läuft man so glücklicherweise nicht Gefahr, die eigenen Sehgewohnheiten zu überfordern, geschweige denn über Bord werfen zu müssen. Was uns die Kurator_innen jedes Jahr wieder von ihrer Jagd der letzten Monate in die kuschlige Höhle mitbringen, wird traditionell mit Beginn des Vorverkaufs bereitwillig in der Kälte um sieben Uhr morgens heiß erwartet. Gemeint bzw. geteilt wird dazu gern und viel, aber tatsächlich kritisiert doch recht wenig. Es scheint ganz so, als scheue das kulturelle Wien davor, sich die Finger schmutzig zu machen, so ganz anders als die cineastisch rehabilitierten Helden der Unterwelt aus jenen Tagen, an denen von „Lebensqualität“ noch nicht die Rede war. Wenn Alois Schmutzer sich beim Publikumsgespräch darüber freut, endlich „anständige Menschen“ zu sehen, dann stimmt das in diesem Zusammenhang eher milde, denn wen meint er damit?

Es beschleicht einen das Gefühl, bei Anstand handele es sich um nichts weiter als provinzielle Gleichgültigkeit. Das ist jedoch nicht der aufkommenden Müdigkeit angesichts der Krise geschuldet, sondern im Gegenteil eher Symptom eines eigentümlichen Narzissmus. Rings um die Spielstätten bekommt man allerlei zu hören, aber ins Gespräch oder gar innn eine Diskussion begibt sich das geneigte Publikum aus Scheu, die Falschen zu kritisieren, eher nicht. Stattdessen gibt es die obligatorischen und meist mühsamen Q&As zu Promotingzwecken. Seltsamerweise tut das der Viennale offenbar keinen Abbruch – hat es vielleicht auch noch nie. Klar, die Viennale ist wie viele andere ein Festival des Stelldicheins innerhalb der überschaubaren Filmszene Österreichs. Kontakte werden gepflegt und natürlich gegenseitiger „Support“ gespendet, was bedeutet, sich gegenseitig zu bestätigen, das Richtige zu tun. Wenn Eva Sangiorgi den Geist der Viennale 2020 im Gemeinschaftssinn beschwört, entleert sie damit lediglich das Signifikat der Solidarität aufs Neue, indem Cineasmus oder kultureller Feinsinn eine positive Setzung erfahren. Kino ist darin keine Negation der Wirklichkeit, sondern in diesem „Geist“ nur noch ihre fetischisiert hochgehaltene Entfremdung an der klagenden Front des Verlustes von etwas, das wahrscheinlich nicht mehr vorhanden beziehungsweise nur noch in den Erinnerungen der Helden von Covi und Frimmel lebendig ist.

Der Wirklichkeit zugewandt

Angela Summereders Film Zechmeister aus dem Jahr 1981, der im Rahmen der Reihe Austrian Auteurs gezeigt wurde, steht geradezu paradigmatisch für die Notwendigkeit einer kritischen Negation der Wirklichkeit. So zeichnet er gewissermaßen ein Gegenbild zu Aufzeichnungen aus der Unterwelt: Summereder nimmt sich ihrerseits eines Justizskandals an, in welchem 1949 eine oberösterreichische Frau beweislos zu lebenslanger Haft aufgrund des Mordes an ihrem Ehemann verurteilt wurde. Eingebettet in die ländliche Tristesse des realen Schauplatzes und durch das verfremdete Laienspiel der Dorfbevölkerung offenbart sich eine klaustrophobisch-surreale Erzählung anhand der Gerichtsakten, die sich dem Vergessen des Unrechts mit jedem Bild und Ton des Films widersetzt. Summereder macht es uns nicht leicht, uns mit dem Schmerz der Vergangenheit zu identifizieren. Ihr Film versperrt sich geradezu, doch das macht ihn nicht weniger sinnlich. Das Unrecht ungeschehen zu machen vermag nur das Kino. Bei Zechmeister handelt es sich um einen Anachronismus, der sich nicht in melancholischer Sinnsuche ergießt. Vielmehr begreift der Film in seiner Form selbst die Gegenwärtigkeit des Gewesenen im Unrecht und macht dies zu seinem Prinzip. In ganz anderer Weise als Covis und Frimmels einfühlsames Erinnerungsdiorama fällt Summereders Film buchstäblich und überwältigend aus der Zeit, wovon das minutenlang quälende Schwarz bei Gewitterklängen am Filmende zeugt – „Etwas wird sichtbar“, wie Harun Farocki sagen würde.

Der Abschlussfilm The Truffle Hunters von Michael Dweck und Gregory Kershaw hüllte den letzten Abend dieser in vielfacher Hinsicht historischen Viennale ein wie ein berauschender Schleier. Die Dokumentation folgt alten Herren und ihren Hunden in die Wälder des Piemonts auf die Trüffeljagd. Zeit spielt in diesem Film keine Rolle. Mit Ausnahme seines unsäglich langen Abspanns könnte man ihm bis in alle Ewigkeit zusehen. Ein Film wie eine Trüffel selbst – ästhetisch delikat und bodenständig erdig. Raffinierte Bilder, als wären sie einem herbstlichen Arthouse-Spielfilm entrissen, inszenieren eine schrullige Welt der Sorglosigkeit. Die vorgebliche bäuerliche Glückseligkeit, welche die Protagonisten verinnerlichen, möchte man wohl in diesem Jahr für sich selbst vereinnahmen. Romantisch, poetisch, verklärt stellt sich dieser vermeintlich gefundene Sinn im Suchen selbst dar – Trüffelsucher_in beziehungsweise Kurator_in müsste man sein. Für einen kleinen Moment scheint die Welt in Ordnung. Einen Tag später sperren die Kinos noch ein voraussichtlich letztes Mal in diesem Jahr auf und ein Attentäter ermordet grausam vier Menschen, verletzt weitere 22 in der Wiener Innenstadt.

Für das Kino streiten

Das Verlangen nach Zerstreuung ist wohl nicht nur im Jahr 2020 gerechtfertigt. Doch gleichzeitig scheint es diesen realen wie ebenso zermürbenden Verhältnissen gegenüber fatal zu sein, wenn das Kino nur noch zum Hafen der Selbstvergewisserung schrumpft. Obwohl man oberflächlich die Gemeinschaft in Anwesenheit seinen Sitznachbar_innen erfährt, bleibt man doch mit seinen Gedanken allein. Wenn das passiert, ist das Kino von der Gegenwart nicht mehr zu unterscheiden, der oft prognostizierte Relevanzverlust ließe sich mit keinem Argument mehr abstreiten. Sich politisch wähnendes und – im eigentlichen Sinne – pädagogisches Kino fiele diesem Trugschluss schon mit seiner Entstehung zum Opfer. „Anderes Sehen“ ist eine Fähigkeit, die nur dem Kino obliegt und worin sich ein politischer Kern verbergen könnte. Es regt Skepsis, wenn die Rettung des Kinos zum Lippenbekenntnis wird – Rettung wovor denn? Vor dem Abdriften in die Unterwelt? Wer sagt uns, dass wir nicht schon längst dort angekommen sind? Sich wirklich für die Zukunft des Kinos zu engagieren, anstatt es von einer Krise zur nächsten zu retten und damit seine eigene Haut, bedeutet gerade nicht, sich Illusionen zu machen, sondern realistisch zu sein, daher: sich die Frage zu stellen, warum es Kino eigentlich braucht. Vor allem die Frage der Institution steht dabei immer noch als Ausdruck falschen Bewusstseins im Vordergrund. Wenn Kinobetreiber_innen glauben, den Streamingdiensten durch die bloße leibliche Erfahrung einer benebelnden Event-Ideologie etwas entgegnen zu können, dann sitzen sie einem Irrtum auf. Kino, egal in welcher Form oder Medialität, dient der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Dies zu artikulieren und zu bewahren müsste das Ziel für die Zukunft des Kinos sein.

Dafür ist es aber zuerst notwendig, der verdinglichten Begeisterung für das Kino – nennen wir sie beim Namen: der Cinephilie – mit Kritik zu begegnen. Gerade dann, wenn man selbst glaubt, verzweifelt daran festhalten zu müssen. Das stoische Wiederbeleben alter Tage und Bilder, wie wir es gegenwärtig zelebrieren, erinnert so mehr an einen Totentanz als an ein Nachleben. Das Kino zu retten, indem man es im selben Augenblick infrage stellt, klingt angesichts der Ausweglosigkeit geradezu paradox. Es wäre aber in diesem Sinne notwendig, den Streit im Dienste der Filmkritik wieder ins Zentrum zu rücken – also zwischen Leinwand und Projektor – und nicht vor die Tür oderin Texte wie diesen zu verbannen. Nur so ließe sich das Überleben der Kinos sicherstellen, das nicht von der ausgehöhlten Begeisterung einzelner Beflissener abhängen darf.