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MALMOE

Heteronormative Dystopie

Feministische Ökonomie #14

Aus queerer Perspektive muss die Sicht auf Corona schon in den 1980er Jahren beginnen: So brachten die 1980er Jahre für LGBTs neue Freiheiten wie Bars, Mehrfachbeziehungen und Subkultur, Cruising Areas, Dark Rooms und Ledermänner. Es spielte die Musik von K.D. Lang, Michelle Shocked, Grace Jones, Boy George, Bronski Beat und Frankie Goes to Hollywood. Doch diese glänzenden queeren Zeiten waren auch gekennzeichnet durch den Aufstieg des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, die Zerschlagung von Gewerkschaften, das Sinken der Löhne im Vergleich zu den Kapitalerträgen, Privatisierungen, die Verschlankung der Sozialsysteme und ein Erstarken des Individualismus. Das größte Grauen der 80er war allerdings die einsetzende AIDS-Epidemie, die allein in den USA bis 1995 10 Prozent (oder 160.000) der sich als schwul definierenden Männer im Alter von 25 bis 44 Jahren das Leben kostete. Die LGBT Community reagierte kolossal mit der Gründung von AIDS-Hilfen zur medizinischen Unterstützung, Beratungsstellen, Buddy-Vereinen zur Organisation von Pflege und Hilfe im Privaten und dezidiert politisch aktivistischen Gruppen wie ACT UP (the AIDS Coalition to Unleash Power) oder Queer Nation.

Die 2020er Jahre werden womöglich als die Zeit der Corona-Pandemie in die Geschichte eingehen. Im Radio spielt wieder Voyage Voyage als merkwürdiges Déjà-vu. Diesmal sind nicht nur mehrspurige und ungeschützte sexuelle Kontakte, sondern alle sozialen Begegnungen potentiell gefährlich und zu vermeiden. Corona-Politiken können als eine heteronormative Dystopie für die queere Community gelesen werden, denn prinzipiell wird ein radikaler Rückzug in die Kernfamilie/den Haushalt propagiert: Wer keine Kernfamilie hat oder – Göttin bewahre – alleine lebt, wird schnell zum Problemfall: Hier darf in Österreich (im gegenwärtigen Lockdown II bis 7. Dezember) maximal eine sogenannte „Bezugsperson“ getroffen werden, das ist eine Person, mit der mehrmals pro Woche physischer Kontakt erfolgt, es ist also nicht gestattet, Personen, mit denen man wochenlang nur telefonisch oder online Kontakt hatte, während des Lockdowns persönlich zu treffen. Ausgenommen sind „engste Angehörige“ (das sind Eltern, Kinder oder Geschwister). Damit verbietet die Regierung praktisch nicht nur alle Dates über Grindr, Tinder oder Spicy, sondern auch Treffen mit Partner*innen, die seltener als einmal die Woche stattfinden – adieu Fernbeziehung! Wer also die Beziehung nicht monogam, sich mehrfach pro Woche treffend, oder noch besser im gleichen Haushalt lebend organisiert hat, ist während der Pandemie eindeutig im Nachsehen. Von nötigen Grenzübertritten soll hier geschwiegen werden, nicht nur aus „praktischen“ oder „romantischen“ Gründen erstrebenswert, sondern auch aus medizinisch-epidemiologischen wird die Fernbeziehung am besten ganz schnell geheiratet oder zumindest verpartnert.

Queerer Aktivismus 2020 gegen den Rückzug in ein heteronormatives Haushaltsmodell zum Schutz vor der Pandemie beschränkt sich gegenwärtig auf (zum Glück vereinzelte) Regenbogenfahnen bei Querdenkerdemos. Doch kann die Pandemie auch Chance sein, oder wie es Arundhati Roy in der Financial Times im April 2020 nennt, ein „Portal, ein Gateway zwischen einer Welt und der nächsten“, das uns ermöglicht, „unsere Vorurteile“, „unseren Hass“ und „unsere Habgier“ hinter uns zu lassen und „uns eine andere Welt vorzustellen und für sie zu kämpfen“. Es ist (wieder) Zeit, an der Verwirklichung ökologisch nachhaltiger queerer* Utopien zu arbeiten, in denen rassistischer und antisemitischer Gewalt, ökonomischen Ungleichheiten, Trans*- und Inter*feindlichkeit sowie der Abwertung nicht-normativer Körper ernsthaft begegnet wird, anstatt weiterhin an Modellen der Konkurrenzorientierung, Individualisierung und isolierenden Zweierbeziehungen und Kleinfamilien im „trauten Heim“ festzuhalten. Der trans*queere Philosoph Paul Preciado schlägt etwa vor, die Pandemie auch im „positiven“ Sinne als eine Art Laboratorium zu begreifen, in dem wir lernen, die unterschiedlichen politischen Kämpfe miteinander zu verbinden und „fürsorglich zu agieren“. Dieses „Portal“ liegt vor uns, wenn wir uns auf das Wissen, die Erfahrungen und Visionen jener vielfältigen politischen Kämpfe beziehen, die in Vergangenheit und Gegenwart für eine „andere Welt“ eintraten. – Wir treffen uns am Gate!