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MALMOE

Utopien postkolonial – postkoloniale Utopien

Wohin weist Spivaks Denken? Eröffnet sie neue Fluchtlinien des politischen Denkens und Handelns? Oder ist das postkoloniale Denken erledigt, jetzt wo der Mainstream das Postkoloniale für sich reklamiert?

Nachdem wir im ersten Teil (MALMOE 90) eine allgemeinen Hinführung zu Spivaks Denken geleistet und im zweiten Teil (MALMOE 91) dieses in einer „postkolonialen Kondition“ eingebettet haben, wurden im dritten Teil (MALMOE 92) Spivaks pädagogische Zugänge dargestellt. Besonders Spivaks pädagogische Praxis mit subalternen Menschen im ländlichen Indien auf der einen Seite und ihre Tätigkeit als Universitätsprofessorin und Institutsleiterin an der Columbia Universität in New York auf der anderen Seite wurden genauer betrachtet.

Zunächst muss es paradox erscheinen „Spivak und die Utopie“ darzustellen, waren es doch insbesondere poststrukturalistische Denker*innen wie sie, die gewissermaßen der Utopie den Rücken gekehrt haben. Und es stimmt: Utopien, werden sie falsch und simplistisch als eine „neue perfekte Welt“ verstanden, sind problematisch, weil sie schnell nicht nur ins Totalitäre umschlagen können, sondern ebenso koloniale Fantasien der „Entdeckung neuer Welten“ mit sich führen. Und auch antikoloniale Bewegungen sind nicht selten an ihnen und mit ihnen gescheitert. An der Utopie lassen sich postkoloniale Ambivalenz nachzeichnen, hat die Geschichte doch zeigen können, dass die Utopien der einen, die Dystopien der anderen sind.

Es ist der Roman Utopia von Thomas Morus (in London geboren 1478 und 1535 hingerichtet), der die westliche Ideengeschichte um das Genre des utopischen Romans erweitert. Er erscheint 1516 und beschreibt eine Insel, auf der eine scheinbar egalitäre Gesellschaft herrscht. So kennt die Gemeinschaft kein Privateigentum und alle Menschen sind am Wohl aller durch Arbeit gleichermaßen beteiligt. Allerdings sind es die Männer, die mit der Organisation der Gesellschaft betraut sind. Kein Zufall, dass gerade zu Beginn des europäischen Kolonialismus und den Großmachtbestrebungen Englands eine imaginäre Insel, die die bessere Welt symbolisiert, die Geister anregt. Trotz der klaren kolonialen Implikationen von Utopia haben politische Bewegungen sich zu jeder Zeit die Frage gestellt, wie eine bessere Gesellschaft aussehen könnte. Doch gerade weil es keine Einigkeit über die zu errichtende Utopie geben kann und die Wege dorthin mit Konflikten gepflastert sind, braucht es das kontinuierliche Herausarbeiten von Widersprüchlichkeiten. Dies verlangt nach voraussetzungsvoller Arbeit, welche sich über eine persistente (Selbst-)Kritik immer wieder den Herausforderungen der eigenen Komplizenschaft in imperiale Verhältnisse stellt. Spivaks Denken könnte salopp als ein Manövrieren durch Widersprüchlichkeiten und ein Umgehen von Dogmen beschreiben. So wird über das beharrliche Herausstreichen einer nicht-linearen Historizität der Deutungsanspruch eurozentristischer Perspektiven herausgefordert. Gleichzeitig werden etablierte Denkrahmen erweitert – manches Mal auch gesprengt – und mit anderen Perspektiven konfrontiert. Ein dekonstruktivistischer Zugang bewahrt Spivak vor der immer lauernden Gefahr, einem bequemen und selbstgefälligen Denken zu verfallen. Ihr Denken bleibt im Kommen; die Ziele verschieben sich und sind damit im besten Sinne utopisch: ein Denken und Schaffen ohne Garantie – wie sie selber es einmal formulierte. Das Derrida’sche Konzept der „Hauntology“ beschreibt perfekt jenes nostalgische Gefühl für eine Zukunft, die nie kommt. Dieses Scheitern der Zukunft ist keineswegs zynisch zu verstehen, sondern vielmehr als eine sich ständig verschiebende Sehnsucht. Hoffnung und Zweifel in Einheit. Ergebnis ist eine optimistische Melancholie, die im klaren Gegensatz zur Happiness der Möchtegern-Radikalen steht. In Anbetracht der gescheiterten Dekolonisierung muss eine nicht-dominante Zukunft visioniert werden. Doch wie kann diese aussehen? Und woher den Mut nehmen?

Postkoloniale Kämpfe als utopische Momente

Zweifelsohne sind die Schriften Frantz Fanons (1925–1961) eine wichtige Inspiration postkolonialen Denkens. Die Verdammten dieser Erde schrieb er in zehn Wochen, kurz bevor mit nur 36 Jahren an Leukämie starb. Der Sohn einer wohlhabenden Familie aus Martinique unterstützte in Algerien die Befreiungskämpfe gegen die Kolonialmacht Frankreichs. Spivak betont die Tatsache, dass Fanon sich aktivistisch außerhalb seines nationalen Gefüges engagiert und damit Inspiration für einen nicht nationalen, „planetarischen Aktivismus“ abgibt.

Der Philosoph Jean-Paul Sartre, ein enger Freund Fanons, verfasste das einflussreiche Vorwort zu Die Verdammten dieser Erde. Bedauerlicherweise reduzierte er Fanons Argument auf die Befürwortung von blanker Gewalt. Spivak dagegen betont, dass den Ärmsten der Armen, wenn sie keine Möglichkeit des Handelns haben, sie nicht gehört werden und vonseiten der „kolonialen Herren“ mit staatlich legitimierter Gewalt konfrontiert sind, nichts anderes übrigbleibt, als auf diese Gewalt selbst mit Gewalt zu antworten. Darüber hinaus macht Spivak aber mit Fanon stark, dass das zentrale Desaster der kolonisierenden Gewalt in der Zerstörung des Geistes (mind) der Kolonisierten liegt. Wenn das Ziel ein epistemischer Wandel ist, dann muss der epistemischen Gewalt ein ethisches Denken entgegengesetzt werden, das eine Praxis von Freiheit (practice of freedom) darstellt. Spivak meint, ohne dies ist eine Dekolonisierung niemals erfolgreich. Der Versuch des Wiedererlernens einer Praxis, das Schulen der Vorstellungskraft und das Verlernen imperialistischen Denkens sind darum, etwas vereinfacht gesprochen, die Ziele, die Spivak sowohl im ländlichen Indien als auch an der Columbia Universität in New York verfolgt und als supplementierende Pädagogik bezeichnet.

Anti-Patriarchale Postkolonialität

Als Literaturwissenschaftlerin betont Spivak immer wieder die Kraft nicht nur der Geisteswissenschaften, sondern auch der Literatur. Literatur kann uns überraschen. Romane etwa können Gedankenexperimente sein, die unsere Imaginationsfähigkeiten schulen und uns überraschen können. Spivak hat deshalb einige der Bücher der bengalischen Schriftstellerin und Aktivistin Mahasweta Devi (1926–2016) aus dem Bengalischen ins Englische übersetzt. Devis Geschichten stellen heraus, wie nationale Befreiungen oft auf brutalste Weise in die Körper subalterner Frauen eingeschrieben blieb. Spivak fragt deswegen, ob subalterne Frauen überhaupt Handlungsmacht im dekolonisierten Nationalstaat haben. Wer hat von der Befreiung profitiert? Spivak macht deutlich, wie die ausgebeuteten Körper, die in Devis Erzählungen oft Protagonisten sind, die schmerzliche Erinnerung an die nicht eingelösten Versprechen der herrschenden politischen Elite im Namen der Dekolonisation und Demokratie sind. Da die postkoloniale Gewalt in die Körper der Subalternen selbst eingeschrieben ist, ist zu fragen, wie das Leiden als eine politische Dimension sichtbar werden und wie dies angeklagt werden kann. Durch das Einbringen von unsichtbar gemachten Leid und Gewalt werden (auch im postkolonialen Diskurs) die Lücken der Kritik angeprangert. So kommt verschüttetes und ignoriertes Wissen zum Vorschein, Konfliktfelder werden artikulierbar. Ohne dieses Sichtbarmachen wäre es unmöglich, das demokratische Versprechen um Teilhabe und Gerechtigkeit einzulösen. Gegenspieler, wie bei vieler Kämpfe, ist die gewaltige und gewalttätige Hegemonie der post-/neokolonialen Weltmachung – diese ist nicht nur eurozentrisch, sondern muss, Spivak folgend, auch mit Blick auf die postkolonialen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den ehemalig kolonisierten Ländern untersucht und skandalisiert werden.

Epistemischer Wandel und die Kraft des Ethischen

Utopisches Denken zeichnet sich durch radikale Überschreitungen aus. Aber wie soll das funktionieren, wenn ein globalisiertes Denken und Handeln unser aller Alltag bestimmt und wir als imperiale Subjekte hervorgebracht werden? Anstatt nach unserer Rolle in dem System zu fragen, schlägt Spivak in dem Vortrag Imperative zur Neuerfindung des Planeten kurzerhand vor, das System einer „galoppierenden Globalisierung“ zu verlassen und die Figur des Globus durch die Figur des Planeten zu überschreiben. Als Planet gehören wir zu einem anderen System und als solches stehen wir im Zeichen einer Alterität, die mit der gewohnten Identität bricht, zugleich aber Teil dieser ist. Der Vorschlag erlaubt es Spivak, ihre ethischen Implikationen darzulegen. Wenig überraschend geht sie vom großen Ganzen weg und hin zum eher Ungreifbaren. So wird das imperialistisch-globale Denken in ganz andere Schranken verwiesen. Der Schritt mag erstmal verwundern, ist für Spivak selbst allerdings erprobte Intervention. Die Pointe liegt darin, ein neues und anderes Denken zu erdenken lernen. Weiter geführt schlägt Spivak vor, dass wir – wenn wir uns nicht als globale Akteur_innen imaginieren, sondern als planetarische Lebewesen – dem Drang von Kapitalisierung eventuell widerstehen könnten. Die Grenzenlosigkeit, die für das Kapital gilt, aber kaum für etwas anderes, muss – so Spivaks Forderung – mit bewussten Imperativen wieder zu einer (neuen) Verantwortlichkeit geführt werden. Eine Verantwortlichkeit, die von kapitalistischer sozialer Produktivität unwiederbringlich zerstört worden ist. Die Romantisierung einer zerstörten, aber auch fortlebenden Vergangenheit, eben des Postkolonialen, wäre ein einfacher Schritt. Behauptungen die eine vorkapitalistische Gesellschaft romantisieren, sind ambivalent, weil sie Gefahr laufen, Gewalt innerhalb präkolonialer und postkolonialer Länder, etwa patriarchale oder kastenbasierte, auszublenden oder sogar zu tolerieren. Spivak ist sich der Ambivalenz der Argumentation bewusst und versucht weder vorkapitalistische Gesellschaften zu romantisieren, noch sie zu verteufeln, sondern wählt den Weg eines Dazwischens. Ein Weg, der es ermöglicht, durch widersprüchliche und komplexe Geschichte zu manövrieren und nicht vor dieser zu kapitulieren. Historisch wurde Herrschaftsdenken oft über eine Sakralisierung der eigenen Geschichte und der eigenen Zugehörigkeitsgruppe durchgesetzt. Die Argumentation des Bergens von verschüttgegangenen utopischen Ideen in ehemalig kolonisierten Territorien gestaltet sich ähnlich wie bei der De-Zentralisierung des alleinigen europäischen Aufklärungsanspruchs.

Es ist das Gegen- und Zusammenlesen, was sich in Spivaks Taktiken und Strategien wie „affirmative Sabotage“ und „supplementierende Praxen“ auftut, die auf undogmatische Wege in Richtung einem Mehr an Soziale Gerechtigkeit weisen.

Dabei plädiert Spivak konsequent (für viele ist dies ein Ärgernis) für ein Denken, das sich nicht von der europäischen Aufklärung abwendet, sondern in diese eingreift. Ihre Ausführungen zur Re-Imagination des Planeten beispielsweise machen europäische Schriften produktiv. Das irritiert auf der einen Seite den etablierten Wissenschaftsbetrieb, weil sie als Intellektuelle mit indischer Staatbürgerschaft, die in British India geboren wurde, eine Sprecherinnenposition einfordert, die ihr regelmäßig abgesprochen wird. Auf der anderen Seite, ärgert es jene, die Postkoloniale Theorie gerne als eine Theorie lesen, die alles Schlechte in Europa sehen und alles Gute in den ehemalig kolonisierten Gebieten. Doch wie Spivak zu bedenken gibt: Die erlebte epistemische und physische Gewalt macht jene, die sie erlitten haben, nicht zu „besseren Menschen“. Soziale Gerechtigkeit ist ein Weg, der ohne (Selbst-)Kritik und der Fähigkeit utopisch zu denken nicht zu haben ist.

Und immer wieder (Un-)Learning

Ethik bleibt für Spivak die Erfahrung des Unmöglichen und ist charakterisierbar durch ein radikales Offensein. Recht und Gesetz, Ethik und Politik, Gabe und Verantwortlichkeit werden deswegen von ihr nicht als Gegensatzpaare, sondern als Struktur ohne definierte Strukturen beschrieben. Gleichsam müssen die Bedeutungen von Recht, Ethik und der Gabe ausverhandelbar bleiben. Eine endgültige Definition läuft hingegen Gefahr, in Richtung Ausschluss und Löschung zu weisen.

Die epistemische Gewalt beschreibt die Schuldigkeit von Wissenschaft bei der Produktion von Gewalt. Rassismus beispielsweise wäre ohne eine Philosophie, wie etwa die von Immanuel Kant, die anderen Menschen das Menschsein abspricht, nicht möglich. In diesem Zusammenhang fordert uns Spivak gesetzliche und politische Entscheidungen aus der Perspektive von Recht und Ethik als etwas Nicht-Dekonstruierbares und Erfahrung des Unmöglichen zu betrachten. Spivak verweigert „perfekte“ politische Lösungen und unterläuft theoretische Formeln wie auch pseudoradikale politische Slogans. Anstatt die Anderen zu assimilieren, indem man sie anerkennt, plädiert sie dafür, die subalterne Erfahrung als „unerreichbare Leere“ (inaccessible blankness) zu erhalten, was gleichsam die Grenzen eines westlichen Wissens transparent macht.

Von welcher Seite wir Spivaks Denken auch betrachten, Fragen des Lernens und Verlernens sind zentral. Der epistemischen Gewalt ist nur über ein produktives Nachdenken über Erziehung zu begegnen. Ein Arbeiten und Denken, wie es Spivak versteht und praktiziert, bleibt ein offenes Wagnis, eine politische Praxis ohne Garantien, da alles auch anders kommen könnte.

Dieser Beitrag ist der Abschluss einer vierteiligen Serie zu Gayatri Chakravorty Spivak. Die Artikel funktionieren einzeln und doch bauen sie lose aufeinander auf.