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MALMOE

Die Hoffnung neu gestalten: 
Für einen offenen und dekolonialen Marxismus

Interview mit Ana Cecilia Dinerstein

Ana Cecilia Dinerstein unterrichtet Politische Soziologie am Department of Social and Policy Sciences der Universität Bath, Vereinigtes Königreich. Bevor sie sich der Wissenschaft gewidmet hat, war Ana Schauspielerin und Gewerkschaftsaktivistin. Bekannt ist sie für ihre Arbeit zum Offenen Marxismus, und ihre Veröffentlichungen über argentinische und lateinamerikanische Politik, Subjektivität der Arbeit, Arbeitslosigkeit, soziale, populäre und indigene Bewegungen, Kämpfe der Emanzipation, kollektive Autonomie, Sozialpolitiken und Politiken der öffentlichen Ordnung, Staatlichkeit, die Philosophie von Ernst Bloch und neue Formen der Utopie und Hoffnung.

Du gehörst zu den Hauptvertreter_innen der Strömung „Offener Marxismus”. Was zeichnet diese Leseart des Marxismus aus?

Der Begriff Offener Marxismus (OM) wurde dem Titel eines Buches von Ernst Mandel und Johannes Agnoli entnommen. Sie fragten sich, ob die Idee der marxistischen Ökonomie ein Widerspruch in sich selbst ist oder nicht. Während es für Mandel keinen Widerspruch gab, sah Agnoli einen, denn nach ihm glaubte Marx nicht an eine andere (kritische) Ökonomie, sondern entwickelte eine Kritik der Politischen Ökonomie.
Der OM argumentiert, dass Marx das Kapital negiert, indem er dessen menschliches Gehalt aufzeigte. Der OM ist daher nicht eine andere Schule des Marxismus oder eine andere Theorie, sondern eine andere Haltung, wie Richard Gunn sagt, es ist eine offene und permanente Kritik des Kapitals und der Strukturen, die es stützen. Der OM lehnt die dogmatische Schließung von Denkkategorien ab. Er bietet die Möglichkeit, die inneren Widersprüchlichkeiten der Herrschaft selbst zu konzeptualisieren, was die gesamte Wechselseitigkeit zwischen Theorie und Praxis am Leben hält. Es handelt sich um eine Theorie des Kampfes. Für mich ist der OM eine Offenbarung gewesen, sowohl im Hinblick auf die Werkzeuge der Kritik als auch, um die Formen der Bildung von rebellischer Subjektivität zu verstehen, innerhalb, (ent)gegen und jenseits des Kapitals.

Welche sind die wichtigsten Beträge des Offenen Marxismus zur kritischen Theorie der Gegenwart?

Die Beiträge sind zahlreich. Meine Idee ist, dass, auch wenn es anders scheint, Arbeitslosigkeit nicht einen Mangel an kapitalistischer Arbeit bedeutet, sondern eine Form kapitalistischer Arbeit ist, mit der eine Intensivierung der reellen Subsumtion von Arbeit und Gesellschaft unter das Kapital einhergeht. Das zentrale Merkmal des Kapitalismus ist nicht die Eingliederung der Arbeiter_innen in die Produktionsprozesse und damit ihre Ausbeutung, sondern die Unterordnung des menschlichen Lebens und dessen Reproduktion durch das Geld. Wichtig für das Kapital ist die Entmaterialisierung der konkreten Arbeit in abstrakte Arbeit (Geld), das heißt, die sozial notwendige Arbeitszeit, die in einer bestimmten historischen Periode die Substanz des Wertes darstellt. Diese Substanz wird unabhängig von den konkreten Formen der konkret eingesetzten Arbeitskraft, der Ausbeutung oder der Arbeitslosigkeit erzeugt. Das Problem für die Sozialwissenschaften liegt in der Schwierigkeit, zu erkennen, dass die Arbeitslosigkeit zwar als Mangel an Arbeit und daher auch an reeller Subsumtion erscheint, aber eine nicht-empirische Realität verbirgt, in der sich Räume für die Neuerfindung menschlicher und sozialer Existenz- und Widerstandsformen, Räume der Subjektivierung und des Aufbaus sozialer Beziehungen öffnen und entwickeln. Arbeitslose stellen eine problematische Subjektivität dar, ein Produkt neuer Formen der Durchsetzung (anstatt des Mangels) der kapitalistischen Arbeit und ihrer immer stärkeren Expansion (Globalisierung). Arbeitslosigkeit als „Form von“ und nicht als „Mangel an“ Arbeit, bedeutet nicht Ausschluss und Mangel von Subsumtion, sondern die grausamste Subsumtion des Lebens unter die Formel Wert-Geld: Arbeitslose sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und sich durch Geld zu reproduzieren, weil sie aber ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, bekommen sie kein Geld. Hier, während dieser Erfahrung der Abstraktion, die sich als ein Verlassensein zeigt, können andere Subjektivitäten der Arbeit innerhalb der Formel W-W‘1 entstehen, die auf dem Gebiet der sozialen Reproduktion von der utopischen Funktion der Hoffnung angetrieben sind. Die Herausforderung besteht darin, diese Räume der Subjektivierung erkennen zu können und neue soziale (Ver-)Bindungen innerhalb der Beziehung des Kapitals aufzubauen.

Du hast neue Überlegungen zum Offenen Marxismus aus einer dekolonialen Perspektive entwickelt. Wie würdest du dieses Projekt zusammenfassen?

Ich denke schon seit langem über die Notwendigkeit nach, den (offenen) Marxismus zu dekolonisieren. Die Tatsache, Lateinamerikanerin zu sein, hat das vielleicht beeinflusst. Ich glaube, dass es notwendig ist, einen epistemologischen Bruch im OM zu erzeugen, hin zu dem, was ich „dekolonialen Marxismus“ nenne. Ich schlage vor, dass die Möglichkeit des Marxismus als Theorie des Kampfes von seiner Dekolonisierung abhängt.
In den letzten zwei Jahrzehnten sind die indigenen Bewegungen im Rahmen des globalen Widerstands stärker geworden, insbesondere durch ihre Kämpfe gegen den Neo-Extraktivismus, gegen die Aneignung von Land und die Privatisierung von Gemeindeland (Ejidos), die diesen Moment der neoliberalen Globalisierung kennzeichnen. Dieser Wandel im indigenen Aktivismus hat das Interesse, die Solidarität und die Sympathie von anarchistischen und autonom-marxistischen, aktivistischen Forscher_innen geweckt, die zwar die indigene Politik als Teil des antikapitalistischen Kampfes verstehen, aber ihre Besonderheit außer Acht lassen. Somit reproduzieren sie die Kolonialität, gegen die sich diese Bewegungen wehren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das radikale westliche Denken die Unterschiede zwischen indigenen und nicht-indigenen Widerständen nicht anerkennt und damit eine Idee des universellen Widerstands gegen die neoliberale Globalisierung aufzwingt. Allerdings sind diese Unterschiede, die ich meine, nicht ‚kulturell‘, sondern beziehen sich auf die historisch differenzierte Positionierung der indigenen Völker gegenüber dem Staat, dem Recht und dem Kapital im Rahmen der Weltwirtschaft. Es handelt sich um eine alternative Form der Politik, die sich aus der historisch differenzierten Positionierung der indigenen Völker ergibt.
Die eurozentrische kritische Theorie distanziert sich von der erfahrungspraktischen Kritik der subalternen sozialen Subjekte, die sich für Fragen der sozialen Reproduktion und für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Der Eurozentrismus der euro-/nord-zentrischen Kritik wird seit Jahrzehnten von postkolonialen, dekolonialen und marxistischen Denker_innen untersucht. Heute kann man die „epistemologische Frage“, wie Martin Alcoff es nennt, nicht mehr umgehen. Der Aufstand der Zapatistas in Chiapas im Jahr 1994 hat ein wachsendes Bewusstsein für die „Kolonialität der Macht“, wie Aníbal Quijano es ausdrückte, geweckt, die in der postkolonialen Welt fortbesteht. Ohne fundamentalistisch zu sein, zeigten die Zapatistas die Schwierigkeiten der eurozentrischen Theorie auf, neue Formen des subalternen Widerstands (Frauen, Indigene, Geflüchtete, Immigrant_innen) gegen neo-extraktivistische Wirtschaftspolitik, Finanzialisierung, Gewalt und Krieg zu begreifen. Mein Ziel ist es nicht, die im Norden produzierte kritische Theorie zu verwerfen, sondern ihre Universalisierung abzulehnen, um hin zu einer neuen Geopolitik und einer neuen Ökologie des Wissens und der Widerstände zu gelangen.

In deiner Arbeit über popular movements hast du das Konzept „Bewegungen der Hoffnung“ geprägt. Wie definierst du solche Bewegungen und wie entstehen sie?

Eine zentrale Motivation für das Wiederauftauchen der Autonomie als mobilisierende Utopie des 21. Jahrhunderts ist für viele soziale Bewegungen die Ablehnung der neoliberalen Vorstellung vom Ende aller sozialen Träume sowie der neoliberalen Begeisterung für das technokratische Reich des Möglichen gewesen. Autonome Praktiken bieten der Auferlegung der neoliberalen Dystopie Widerstand. Es gibt viele Fälle, in denen Alternativen entwickelt wurden, die über die Mittelmäßigkeit dieser Vorstellung von „Realität“ ohne neuen Horizont hinausreichen und zeigen, dass Autonomie als Katalysator für neue oder wiederauflebende Radikalitäten gegen die Realität der neoliberalen Globalisierung möglich ist.
Definitionsgemäß sind alle sozialen Bewegungen eine wirksame Form der Opposition, denn sie haben stets das Ziel, radikale Veränderungen herbeizuführen und die Macht herauszufordern, indem sie neue politische Dynamiken erzeugen und radikale Veränderungen schaffen.
Eine neue Qualität der aufstrebenden Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung im Globalen Süden besteht darin, dass sie sich nicht mehr durch eine Forderung an den Staat auszeichnen, sondern durch die Affirmation der lebenswichtigen Notwendigkeit, Räume zu öffnen, von denen aus der Horizont der kollektiven Träume wiedererlangt und ihre Formen und Inhalte neu durchdacht werden können. Die kollektive Entschlossenheit, durch konkrete Praxis Alternativen zur kapitalistischen Realität vorzuschlagen und vorwegzunehmen, die von diesen Bewegungen gegen die neoliberale Hegemonie vorangetrieben wird, ist offensichtlich neuartig. Auch deshalb habe ich sie zusammen mit meiner belgischen Kollegin Séverine Deneulin „Bewegungen der Hoffnung“ genannt.
Die Idee der Hoffnung deutet nicht auf einen Wunsch nach Besserung oder bloßen Optimismus hin. Wir nehmen die Idee von Ernst Bloch, der in seinem wunderbaren Buch – Das Prinzip der Hoffnung – einige bedeutende Ideen vorschlägt, um die Prozesse des Aufbaus kollektiver Autonomie in der Gegenwart zu verstehen. Zunächst einmal sagt er uns, dass die Welt unvollendet und offen ist. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte nichts verändert werden. Zweitens haben wir Menschen ein antizipatorisches Bewusstsein, das es uns erlaubt zu träumen, sich das, was noch nicht begonnen hat eine der zukünftigen Möglichkeiten zu sein, bewusst zu machen und es kennenzulernen. Drittens bedeutet Zukunft nicht, dass man in einer linearen Zeit weiter voraus ist. Die Zukunft ist bereits in der Gegenwart enthalten. Die Hoffnung beruht auf dem menschlichen Bedürfnis nach Hunger, der durch den materiellen oder immateriellen Mangel entsteht.
In diesem Sinne ermöglicht uns die Hoffnung, ein besseres Leben zu führen, in dem unsere Bedürfnisse befriedigt werden können, auch wenn wir nicht wissen, wie und wann. Hoffnung macht die Realität zu einem unvollendeten und offenen Prozess. Und schließlich ist es der utopische Impuls oder die Notwendigkeit der Utopie als Vorwegnahme einer besseren Welt in der Gegenwart, dem man sich nicht verweigern kann.
Der Begriff der Hoffnung hat ein enormes Potenzial, die emanzipatorische Dimension der sozialen Bewegungen zu erfassen, ohne sie in alte oder neue zu klassifizieren. Indem wir sie „Bewegungen der Hoffnung“ genannt haben, wollten wir diese unsichtbaren, nicht zum Ausdruck gebrachten Dimensionen des Handelns der Bewegungen beleuchten und zu den epistemologischen Versuchen beitragen, die die Formen erforschen, wie sie Emanzipation neu erfinden.

  1. Ernst Mandel/ Johannes Agnoli (1980): Offener Marxismus. Ein Gespräch über Dogmen, Orthodoxie und die Häresie der Realität, Campus Verlag
  2. Werner Bonefeld/ Richard Gunn/ Kosmos Psychopedis (1992): Open Marxism Volume I: Dialectics and History, Pluto Press
  3. Siehe auch: Das Kapital, Kapitel 3, dort heißt es, dass „die Bewegung W-W, Austausch von Ware gegen Ware, Stoffwechsel der gesellschaftlichen Arbeit, in dessen Resultat der Prozess selbst erlischt.“ Dinerstein interpretiert hier mit der W-W‘-Formel diesen Prozess neu, indem sie einen Austausch ohne die Vermittlung von Geld vorschlägt, was neue Prozesse der Hoffnung und Emanzipation innerhalb derjenigen begründet, die vom Produktionsprozess ausgeschlossen wurden. Siehe Ana Cecilia Dinerstein (2002): Regaining materiality. Unemployment and the Invisible Subjectivity of Labour in The Labour Debate: An Investigation into the Theory and Reality of Capitalist Work, 203-225.
  4. Die Übersetzer_innen haben sich entschieden, den Begriff „movimientos populares“ ins Englische zu übersetzen, da bis dato nach Kenntnis der Übersetzer_innen kein adäquates Äquivalent in deutscher Sprache vorliegt.
  5. Ana Cecilia Dinerstein und Séverine Deneulin (2012): Hope Movements: Naming Mobilization in a Post-development World, in: Development & Change, Nr. 43(2), 585–602

Übersetzt aus dem Spanischen von Britta K. Matthes und technische Überarbeitung von Tilo Hase.

  • Eine Version des Interviews ist 2017 auf Spanisch bei La Siniestra erschienen