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Mehr als nur ein Plan B

Aufgrund von Covid-19 fand die Degrowth-Konferenz 2020 online statt. Mehr als 4000 Teilnehmer*innen tauschten sich über Strategien für eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft aus

Degrowth oder Postwachstum stellt als soziale Bewegung und aufkeimendes akademisches Forschungsfeld das Wachstumsparadigma des kapitalistischen Systems grundlegend infrage. Gesucht werden politische und wirtschaftliche Alternativen für den Globalen Norden, die allen ein gutes Leben ermöglichen, ohne negative soziale oder ökologische Konsequenzen auszulagern. Dabei dürfen die Ungleichheiten, die im aktuellen System bestehen, keinesfalls außer Acht gelassen werden, sondern müssen von Anfang an mitgedacht, Betroffene aktiv miteinbezogen werden. Konkrete Ideen sind etwa die drastische Reduktion von Extraktivismus, das sozial gerechte Schrumpfen emissions- und finanzkapitalintensiver Sektoren und die Priorisierung von Pflege- und Sorgearbeit als Anker des Wirtschafts- und Sozialsystems.

Als politische Bewegung ist Degrowth Anfang der 2000er Jahre in Südfrankreich entstanden, auch wenn die zugrunde liegenden Einsichten deutlich älter sind. Seit 2008 finden regelmäßig Konferenzen statt, die Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen Raum für Austausch, Reflexion und (Weiter-)Entwicklung der Idee bieten, die Gesellschaft radikal anders, innerhalb biophysischer Grenzen und global solidarisch zu denken.

Vom 29. Mai bis 1. Juni fand die „Degrowth Vienna 2020“ aufgrund von Covid-19 als erste Degrowth-Konferenz online statt. Den Fokus der Konferenz richteten die Veranstalter*innen auf die Erarbeitung konkreter Strategien für eine sozial-ökologische Transformation: ein zentraler Schritt für die Bewegung, wie im Eröffnungspodium betont wurde. Denn auf vergangenen Konferenzen stand vor allem theoretisch-konzeptioneller Austausch im Zentrum.

Herausforderung Online-Konferenz

Degrowth-Konferenzen setzen anders als viele akademische Konferenzen auf aktivistische Mitgestaltung. Sie fördern den Dialog zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen, die ihr praktisches, künstlerisches, aktivistisches oder akademisches Wissen einbringen, um gemeinsam Ideen für eine sozial-ökologische Transformation weiterzuspinnen. Um einen solchen Austausch zu ermöglichen, war die Durchführung der Degrowth Vienna 2020 ursprünglich an der Universität Wien geplant. Doch die Covid-19-Krise veranlasste eine Neuorientierung: Innerhalb von zwei Monaten wurde das gesamte Konzept für eine Online-Konferenz neu erarbeitet.

Mit Covid-19 waren auch die Instabilität eines wachstumsbasierten Wirtschaftsystems, strukturelle Ungleichheiten mit Homeoffice-Optionen und stabilem Einkommen einerseits sowie Arbeitsplatzverlusten und systematischer Geringschätzung systemrelevanter Berufe andererseits sichtbar geworden. Gleichzeitig wurden politische Hebel betätigt und soziale Auffangsysteme geschaffen, die außerhalb von Krisenzeiten als realpolitisch undenkbar galten. Systemfragen wurden damit eher stellbar und wissenschaftliche Diskurse zu Postwachstums-Strömungen gewannen an Aufmerksamkeit.

In den Diskussionen rund um die Covid-19-Krise zeigte sich, dass viele die wirtschaftliche Rezession – eine Krise, die in wachstumsbasierten Wirtschaftssystemen vorangelegt ist – mit Postwachstum gleichsetzen. Degrowth als demokratische, geplante und sozial sowie ökologisch gerechte Systemtransformation unterscheidet sich jedoch deutlich von plötzlichen, disruptiven Krisenveränderungen, welche im kapitalistischen Wirtschaftssystem vorherrschend Ungleichverhältnisse fortschreiben und verstärken. Degrowth steht für eine reale Auseinandersetzung mit den planetaren Grenzen, eine Kritik an vorherrschenden Wirtschaftsweisen und eine konkrete Utopie, die vom Wachstumszwang befreien soll.

Umso relevanter schien es dem Organisationsteam der Konferenz, Degrowth-Ideen in Neuorientierungsdebatten rund um Covid-19 einzubringen. Die Konferenz in ein kostenloses und global zugängliches Online-Format umzuwandeln, machte sie nicht nur inklusiver, sondern zeigte außerdem, wie eine internationale Konferenz ohne Flugreisen auskommen könnte. Ein Schritt, der von Flugreduktionsbewegungen, etwa dem Stay-Grounded-Netzwerk, schon lange gefordert wird.

Skizzierung der „Degrowth Vienna 2020“

Durch das Online-Format konnte die Konferenz weitaus mehr Teilnehmer*innen willkommen heißen, als in einem analogen Format möglich gewesen wäre. Es registrierten sich mehr als 4000 Teilnehmer*innen aus aller Welt, die in vier Tagen an über 100 Sessions und einem kulturellen Abendprogramm bestehend aus Live-Konzerten, Filmscreenings und Theaterworkshops teilnahmen.

Für die physische Konferenz wären Quotenregelungen für Teilnehmende aus gesellschaftlich marginalisierten und in der Degrowth-Bewegung unterrepräsentierten Gruppen vorgesehen gewesen. In der potenziell 5.000 Teilnehmer*innen offenstehenden Online-Konferenz konnte die Quotenregelung leider nicht beibehalten werden. Trotzdem war das Organisationsteam bemüht, Akteur*innen unterschiedlicher Hintergründe bereits im Vorfeld der Konferenz miteinzubinden.

Ebenso wurden Organisationen außerhalb der Forschungscommunity, die sich nicht zwangsläufig mit Degrowth beschäftigen, aber wichtige Verbündete für eine gesellschaftliche und ökologische Transformation darstellen (wie etwa die Bundesarbeiterkammer, die Armutskonferenz oder die Antirassismus-NGO ZARA), vorab eingeladen, gemeinsame Sessions zu erarbeiten und sich so aktiv in die Konferenz einzubringen.

„Degrowth Vienna 2020“ eröffnete mit der Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses von gesellschaftlichen Transformationen und der Rolle von Strategien zur Herbeiführung tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Nach einem historischen Abriss und der Diskussion von Theorien des Wandels wurden Wege, Potenziale, aber auch Hindernisse einer sozial-ökologischen Transformation ergründet. In themenspezifischen und teilweise interaktiven Sessions teilten Akteur*innen ihr Erfahrungswissen in den Bereichen Mobilität, Stadtplanung und Wohnen, Ernährungs- und Agrarsysteme, Arbeit, Dekolonialisierung, Feminismus und Intersektionalität. Ebenfalls ging es um die Bedeutung von Währung und Geldsystemen in einer Gesellschaft, die nicht auf Wirtschaftswachstum, sondern solidarisches Leben und Wirtschaften innerhalb der planetaren Grenzen ausgerichtet ist.

Das Spektrum konkreter Strategien für einen sozial-ökologischen Wandel reichte von der Vernetzung sozial-ökologischer Gerechtigkeitsbewegungen über zivilen Ungehorsam bis hin zu Prozessen des kulturellen Wertewandels und der Umstrukturierung ökonomischer Institutionen. Außerdem wurde darüber diskutiert, wie Degrowth angesichts des vorherrschend positiven Verständnisses von Wirtschaftswachstum kommuniziert werden kann.

Strategien für eine Degrowth-Gesellschaft wurden zudem mit aktuellen sozialen und politischen Entwicklungen in Verbindung gebracht. Die „Degrowth Vienna 2020“ sah sich kontextuell in die während der Covid-19-Pandemie aufkeimenden Bewegungen und neuen Formen von (globaler) Solidarität eingebettet. Degrowth ist ein Vorschlag aus dem Globalen Norden für den Globalen Norden. Perspektiven aus dem Globalen Süden sind jedoch unerlässlich. In diesem Zusammenhang stehen Forderungen nach Post-Wachstum mit Post-Development, also einer Absage an ein universal notwendiges, wachstumsbasiertes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nach westlichem Vorbild im Globalen Süden, in Verbindung.

Mit dem Blick zurück ein Blick nach vorne

Die Ergebnisse der Konferenz sind aktuell noch Gegenstand ausführlicher Reflexions- und Analysearbeit. Was sich aber jetzt schon sagen lässt: Die Degrowth-Bewegung hat die Aufgabe, Allianzen zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen, besonders auch mit nicht-akademischen Bewegungen zu stärken. Ein besonderer Fokus gilt der Arbeiter*innenbewegung. Gemeinsam mit strukturell benachteiligten, aber systemrelevanten Akteur*innen können Überlegungen angestellt werden, wie lokal und bedarfsorientiert mit bereits verfügbaren Mitteln produziert werden kann.

Die Postwachstums-Bewegung muss außerdem durch eine stärkere Miteinbeziehung der Repräsentant*innen gesellschaftlich marginalisierter Gruppen heterogener werden. Gerade vor dem Hintergrund struktureller Rassismen müssen die Verknüpfungen zwischen den Auswirkungen der Klimakrise und jeglicher Form von Diskriminierung, und damit Intersektionalität, in den Fokus rücken. Ebenso sollte die Degrowth-Bewegung ihre Inklusions- und Exklusionsmechanismen laufend reflektieren.

Die „Degrowth Vienna 2020“-Online-Konferenz war – mit den Worten einer Sprecherin* am Schlusspodium – ein sowohl notwendiges als auch erfolgreiches Experiment. Ein Experiment, das nicht nur den Dialog zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen gestärkt, sondern auch den Weg für engere Zusammenarbeit zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen geebnet hat. Gerade die Zusammenarbeit mit Degrowth-Bewegungen und anderen Verbündeten auf globaler Ebene muss zukünftig besser koordiniert und ausgedehnt werden, um kollektiv Schritte in Richtung Transformation zu setzen.

Ein Bild davon, wie eine wirtschaftliche Neuorientierung nach Covid-19 aussehen sollte, hat die Degrowth-Bewegung in einem offenen Brief, der von über 1000 Akademiker*innen, Aktivist*innen und Organisationen unterschrieben worden ist, gezeichnet.