MALMOE

Nein zur Notwehrthese

Rechtes Wahlverhalten als Reaktion auf linken Kosmopolitismus zu deuten, übernimmt das Narrativ der Rechten und enthebt die WählerInnen der Verantwortung für ihr Tun

Eine „Art politische Notwehr“, so hatte der Soziologe Didier Eribon die Parteinahme vieler Arbeiterinnen und Arbeiter für den Front National in Frankreich bezeichnet. Die alten linken Parteien würden durch ihre neoliberale Wende die einfachen Menschen nicht länger repräsentieren. Auch die Demokratische Partei in den USA tat das nicht mehr, Die Philosophin Nancy Fraser konstatierte daher im gleichen Tenor, der „Zorn, der viele Trump-Anhänger erfüllt, ist ja durchaus begründet.“ Da sei ihnen, kurz gesagt, nicht viel anderes übriggeblieben, als diese „Repräsentationslücke“, von der auch die Soziologin Cornelia Koppetsch spricht, mit der Hinwendung zu ultrarechten Parteien zu schließen. Für den Wahlsieg Donald Trumps in den USA, für den Aufstieg der AfD in Deutschland und letztlich überall, wo der Ultranationalismus, der Rechtspopulismus und überhaupt rassistische, antisemitische und – nicht zu vergessen – antifeministische Einstellungsmuster gesellschaftlich einen Bedeutungsgewinn zu verzeichnen hatten und haben, lag und liegt die Notwehrthese offenbar nahe. Es ist aber an der Zeit, sie zu überdenken – und schließlich zu verwerfen. Die Notwehrthese ist aus verschiedenen Gründen problematisch, und zwar sowohl aus empirischen wie auch aus herrschaftsanalytischen. Empirisch ist es zum einen keineswegs ausgemachte Sache, dass wirklich immer materielle oder sonst wie geartete Notlagen vorherrschen, aus denen heraus die Hinwendung zu ultrarechten Parteien geschieht. Und zum anderen ist nicht einmal die gefühlte Notlage, also einfach der individuelle Eindruck, abgehängt, verstoßen oder in die Ecke gedrängt zu sein (ganz unabhängig von der realen Lage) dafür entscheidend. Herrschaftsanalytisch ist die Notwehrthese deshalb problematisch, weil sie tendenziell Dispositionen und Motive ausblendet. Notwehr ist eine affektive Handlung, ein spontanes Verhalten. Dass aber für die Wahl ultrarechter Parteien auch lang gehegte Einstellungsmuster (Dispositionen) und mehr oder weniger konkrete Überlegungen, etwa für den Erhalt der eigenen Privilegien, stehen (Motive), wird kaum mehr berücksichtigt.

Neoliberale Wende der Sozialdemokratie

Ganz von der Hand zu weisen ist die Notwehrthese zunächst sicherlich nicht. Zumal dann nicht, wenn man sie – wie Eribon, Fraser und Koppetsch das in prominenter, aber auch sehr unterschiedlicher Weise tun – als eine kollektive Reaktion auf verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen begreift. Dazu gehören unter anderem die Veränderung der Arbeitswelt durch Deregulierungen und Digitalisierung, die wachsende soziale Ungleichheit und eine Ausrichtung des kulturellen Lebens an globalisierten Standards. Begleitet werden diese Entwicklungen vom internationalen politischen Niedergang der Sozialdemokratie. Weil sich viele Menschen durch die sozialdemokratischen Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen, istdie Repräsentationslücke entstanden: Für diesen Kurswechsel steht etwa das sogenannte Schröder-Blair-Papier, das die beiden Regierungschefs anlässlich der Europawahl 1999 veröffentlichten, und in dem die Abkehr vom Modell des klassischen Wohlfahrtsstaates begründet wird. Dem folgten Deregulierungen des Arbeitsmarktes, Privatisierungen staatlicher Betriebe und Handelsliberalisierungen, also wirtschaftspolitische Maßnahmen, die charakteristisch für neoliberale Regime sind.

Die Repräsentationslücke ist insofern auch nicht nur gefühlt oder imaginiert, sondern real. Die Frage ist allerdings, wie die Beobachtung interpretiert wird und was daraus folgt. Die Linke, hier in Form eines weit gefassten Verständnisses der Sozialdemokratie, trägt damit, so die These, eine Mitschuld am Aufstieg der Rechten. Explizit formulieren sie auch die drei eingangs genannten TheoretikerInnen, wobei sie sich in einem wichtigen Punkt unterscheiden: Eribon kritisiert vor allem die „Mutation des politischen Diskurses“ und meint damit beispielsweise, dass die linken Parteien, aber auch die Sozialwissenschaften viel über individuelle Lebensstile und Konsummuster reden, aber wenig über die Schwere der Arbeit und Arbeitsverhältnisse überhaupt. Die neoliberale Wende steht bei ihm im Vordergrund. Fraser und Koppetsch adressieren nicht nur Parteien und Wissenschaft, sondern ganze Milieus. Koppetsch nennt sie die „kosmopolitischen Eliten“ und will zwar nicht von Schuld reden, schreibt ihnen aber dennoch eine Verantwortung für den Aufstieg der Rechten zu. Die „kulturell hegemoniale Gruppe der Kosmopoliten“, schreibt sie, sei „blind für die soziokulturelle Standortgebundenheit und die Machtdimension ihrer gefühlt selbstverständlichen Ansichten“. Gegen diese vermeintliche oder tatsächliche Hegemonie formieren sich dann die Ultrarechten. Sie schmieden laut Koppetsch ein „vertikales Bündnis zwischen den konservativen Fraktionen in Ober-, Mittel-, und Unterschicht gegen die Dominanz der kosmopolitischen Milieus“. So treffend die Beschreibung der ultrarechten Bündnispolitik sein mag, so problematisch sind doch die dafür angegebenen Gründe: Denn rechtsextrem zu wählen erscheint vor allem als eine Art Trotzreaktion auf die „gefühlt selbstverständlichen Ansichten“, die die liberalen „kosmopolitischen Eliten“ allen anderen aufdrücken. Ganz ähnlich argumentiert Nancy Fraser, wenn sie behauptet, dem Niedergang der Industrie in den USA sei vom liberalen Establishment „ein dröhnender Diskurs über ‚Vielfalt‘, ‚Frauen-Empowerment‘ und den ‚Kampf gegen Diskriminierung‘“ zur Seite gestellt worden. Dieser habe dann infolge zu einer geradezu logischen Gegenreaktion geführt, nämlich Trump zum Wahlerfolg zu verhelfen. Am Wahlsieg Trumps seien demnach nicht mehr in erster Linie die neoliberalen Umstrukturierungen oder konservative Einstellungen schuld, sondern Fraser gibt die „Mitschuld an Trumps Sieg“ den liberalen Eliten – allerdings noch ergänzt durch die „tonangebenden Strömungen der neuen sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und den Verfechtern von LGBTQ-Rechten)“.

Mit ihren identitätspolitischen Forderungen hätten Frauen und ethnische Minderheiten „die Sache der sozialen Sicherheit, des Wohlstands und der Würde der Arbeiterklasse zugunsten falsch verstandener Emanzipationsvorstellungen in Sachen Meritokratie, Vielfalt und Empowerment geopfert“.

Falscher Gegensatz: Klassenkampf vs. Identitätspolitiken

Sozialdemokratie, kosmopolitische Eliten, soziale Bewegungen: Das sind sicherlich sehr verschiedene Teile dessen, was man die Linke nennen kann. Ihnen allen wird gleichermaßen vorgeworfen, Linkssein nicht mehr als Kampf gegen soziale Ungleichheit zu verstehen. Allerdings wird dieser Vorwurf verknüpft mit der Behauptung, das Einfordern von Rechten für Frauen, sexuelle und ethnische Minderheiten betreffe viele Menschen nicht nur nicht, sondern überfordere sie sogar.

Zu hinterfragen ist allerdings, ob beide Entwicklungen – Abkehr von sozialer Ungleichheit und Abbau des Sozialstaates einerseits und Forderung nach rechtlicher Gleichstellung Marginalisierter andererseits – überhaupt irgendwie logisch oder empirisch miteinander verbunden sind. Die Sozialdemokratie hat schließlich den Wohlfahrtsstaat nicht aufgegeben, um sich dann besser um die Anliegen von People of Color oder der Abschaffung geschlechtlicher Dichotomien kümmern zu können. Zwar mag das ein oder andere Diversity-Programm der neoliberalen Ausdifferenzierung von Konsummustern zugutekommen. Deshalb sind die sozialen Bewegungen, die Kämpfe um Minderheitenrechte führen, aber noch lange nicht die Trägergruppen neoliberaler Wirtschaftspolitiken.

Die Entgegensetzung von Identitäts- und Klassenpolitiken, die Fraser und Koppetsch betreiben, wiederholt fast wortgleich die Vorwürfe, die schon seit zwei Jahrzehnten von vielen Linken vorgebracht werden. Aber sie ist nicht nur logisch und empirisch fragwürdig. Auch historisch ist sie kaum haltbar. Darauf macht auch Eribon aufmerksam, der sich in dieser Hinsicht radikal von den Positionen Frasers und Koppetschs unterscheidet. Er sieht linke Identitätspolitiken als wichtige Erweiterung des Klassenkampfes. Die identitätspolitischen Kämpfe von Frauen, Schwulen, ethnisierten Minderheiten beruhten darauf, so Eribon, dass der Bezug auf bestehende Klassifikationen, wie eben Klasse, nicht ausreichen, um spezifische Formen von Ausbeutung, Unrecht und Diskriminierung fassen zu können. Es waren Erweiterungen, nicht Ausblendungen der Klassenfrage. Dass ausgerechnet sie der Nährboden für die Ultrarechte sein sollen, ist wenig plausibel.

Übernahme des rechten Narrativs

Darüber hinaus ist die Behauptung, die Linke habe es mit Feminismus und Multikulturalismus bzw. Kosmopolitismus dermaßen übertrieben, dass sich die „einfachen Leute“ nur den Rechten zuwenden konnten, vor allem eines: eine Kopie des rechten Narrativs. Sie macht nicht nur die Linke für den Aufstieg der Ultrarechten verantwortlich, sondern tut dies auch noch mit genau den Mitteln, die die Rechten für diesen Aufstieg benutzen. Nämlich mit der Erzählung von den weißen Männern, die die eigentlichen Opfer von feministischen Quoten und ethnischer Diversität, von Sprachregelungen und Willkommenskultur seien.

Das hat das zwei schwerwiegende Folgen: Erstens folgt nämlich politisch daraus, diese vermeintliche Überforderung abzustellen und mit der Formel, die „Sorgen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen“, selbst rigidere Migrations- und weniger geschlechtergerechte Sprachpolitik zu fordern. Analytisch geraten zweitens andere Motivationen für das Rechtswählen aus dem Blick: der Antisemitismus, der den Jüdinnen und Juden die Schuld an der Wirtschaftskrise und allem möglichen zuschreibt; der Antifeminismus, der die Infragestellung der bürgerlichen Kleinfamilie und der heteronormativen Ordnung aggressiv bekämpft; der Rassismus, der MigrantInnen dem Generalverdacht aussetzt, den Einheimischen von den Arbeitsplätzen bis zu den kulturellen Gewohnheiten alles wegnehmen zu wollen. Einerseits brechen sich hier immer wieder bisher im Zaum gehaltene oder bislang anders kanalisierte Ressentiments bahn, die Verantwortung für die eigene Misere bei den nächst Schwächeren zu suchen. Die rechten Parteien haben diesen versteckten „Alltagsrassismus“ bloß ans Licht geholt und, wie Eribon betont, „zum dominierenden Modus der Wahrnehmung der sozialen Welt“ gemacht. Anderseits aber handelt es sich bei antisemitischen, antifeministischen und rassistischen Einstellungen gar nicht so sehr um Gefühle, die als Reaktion auf Abstiegsängste, Degradierungs- und Deklassierungsfurcht nur neu kanalisiert werden. Es geht auch um handfeste Interessen, die, auch wenn ihre Inhalte oft auf Spekulationen und verschwörungstheoretischen Annahmen beruhen, ganz rational geäußert werden. Die Notwehrthese blendet diese tatsächlichen Motive ultrarechter Haltungen einfach aus. Sie spricht Nazis wie auch GelegenheitswählerInnen von FPÖ, Vox oder Lega letztlich jedes abwägende Kalkül ab.

Abstiegsbedroht, deklassiert, prekarisiert, von Zukunftsängsten zerfressen – das sind heute viele, wenn auch auf unterschiedliche Arten und Weisen und in sehr verschiedener Intensität. Dafür, die Not in einen Hass auf Jüdinnen und Juden, auf Feminismus und auf MigrantInnen zu kanalisieren, ist diese Angst in keiner Weise ein hinreichendes Kriterium.

Die Notwehrthese verkennt schließlich also noch etwas: Wer „sich bereits als potentiell überflüssig“ fühlt, wie Theodor W. Adorno schon 1967 eine der Grundlagen für das Rechtswählen benannt hatte, die oder der hat selbst in dieser Notsituation noch Optionen. Die Mischung aus Prekarität, stark formulierten feministischen Anliegen und viel Migration macht schließlich nicht aus allen Menschen AnhängerInnen ultrarechter Parteien. Die meisten KünstlerInnen etwa sind diesen Bedingungen ebenfalls ausgesetzt und wählen in ihrer Mehrheit eher links, Schwarze Frauen in den USA haben 2016 zu 94 Prozent nicht Trump, sondern Clinton gewählt. Auch in Bezug auf diese beiden Gruppen könnte mit Fug und Recht eine „Repräsentationslücke“ (Koppetsch) aufgezeigt werden.

Und schließlich: Mangelnde Repräsentation war neben einem fehlenden Wohlfahrtsstaat, blockierter sozialer Mobilität und starken Migrationsbewegungen immerhin auch einmal der Nährboden für die sozialistischen ArbeiterInnenbewegungen! Sich das zu vergegenwärtigen, ist wohl auch die notwendige Voraussetzung dafür, das Schließen von Repräsentationslücken nicht mehr bloß in der Zuordnung zu Parteien zu denken, sondern in neuen Formen kollektiver und egalitärer Selbstrepräsentation.

Eine längere Version dieses Textes erschien in: graswurzelrevolution, Nr. 445, Januar 2020, S. 9–10.

Zum Weiterlesen:
Didier Eribon (2016): Rückkehr nach Reims, Suhrkamp Verlag, Berlin
Nancy Fraser: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2017, S. 71–76
Cornelia Koppetsch (2019): Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Transcript Verlag, 2. Aufl, Bielefeld