MALMOE

Linke Klassenpolitik in West London

Die Angry Workers dokumentieren ihre Versuche, eine Selbstorganisierung der ArbeiterInnenklasse voranzutreiben

Sie wollten sich nicht mehr mit einer um sich selbst kreisenden Linken auseinandersetzen, also zogen sie an den Stadtrand von London und verbanden politische Praxis mit einem theoretischen Vorschlag verbunden, wie wir kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse überwinden können. Einst standen sie am Fließband oder lieferten für den britischen Supermarktriesen Tesco aus. Jetzt nennen sie sich Angry Workers und haben mit Class Power on Zero-Hours ein wichtiges Buch zu linker Klassenpolitik geschrieben.

Demokratischer Sozialismus

Class Power on Zero-Hours unterteilt sich in drei Abschnitte: Die Angry Workers beschreiben nicht nur ihre politische Arbeit in Greenford, einem Industrieviertel in London, sondern dokumentieren in gut lesbaren Fallstudien die Organisation der Produktionsprozesse der dortigen Fabriken und Warenlager. Insbesondere der Abschnitt „Revolutionary strategy“ ist für all jene interessant, die nach konkreten Ideen suchen, wie eine gesellschaftliche Transformation jenseits von Markt- und Profitzwang aussehen kann. Die Angry Workers reflektieren ihre lokal gewonnen Erfahrungen und fragen sich, was sie daraus für eine größere gesellschaftliche Umgestaltung lernen können. Zuerst grenzen sie sich dafür von derzeit populären Ideen eines demokratischen Sozialismus ab. Der durch Bernie Sanders und Jeremy Corby geprägte „democratic socialism“ verkenne zum Beispiel, dass der Staat nicht nur aktiv daran beteiligt ist, dass es ökonomische Ausbeutung gibt, sondern gerade diese Aufrechterhaltung von Klassenverhältnissen den bürgerlichen Staat ausmacht. Außerdem fehle ihm der Bezug zur ArbeiterInnenklasse und er sei blind gegenüber den umfassenden transnationalen Zwängen, die mit Kapitalakkumulation verbunden sind. Anstatt sich auf das Erlangen staatlicher Macht zu fokussieren, sollten Linke Produktionsmacht in den Blick nehmen. Die ArbeiterInnenklasse (re-)produziere diese Welt Tag für Tag aufs Neue und lebe in dem Bewusstsein, dass sie dabei von bürgerlicher Staatlichkeit und Herrschaftsverhältnissen abhängig ist. Es sei deshalb wichtig, die Zusammensetzung der nationalen sowie transnationalen ArbeiterInnenklasse zu analysieren: Wo verlaufen Spaltungen und wo sind Gemeinsamkeiten, die man politisieren kann? Nicht Staatsmacht, sondern die Übernahme und Reorganisierung der Produktion als ein überregionales Projekt sollte im Zentrum einer antikapitalistischen Bewegung stehen.

Klassenpolitik als Beziehungsarbeit

Als Gegenstück zu den „dusty ideas of general strikes and councils“ sehen sich die Angry Workers die Möglichkeit einer revolutionären Transformation am Beispiel Großbritanniens an. Sie stellen fest: Eine Zeit lang werde man vom Weltmarktangebot abgeschnitten sein, zumindest so lange, bis sich solidarische Austauschbeziehungen mit anderen Ländern eingestellt haben. Um eine breite Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung für ein revolutionäres Projekt zu bekommen, müsse die Anhebung des Lebensstandards innerhalb sehr kurzer Zeit erreicht werden. Die Angry Workers gehen nicht davon aus, dass alle Mitglieder der ArbeiterInnenklasse in den jeweiligen Schlüsselindustrien (Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie, Energie, Wasser, Transport, Kommunikation) hinter einer revolutionären Transformation stehen. Sie sehen deshalb den Prozess der Übernahme von Schlüsselbetrieben nicht als einen mehrheitsdemokratischen Prozess. Aber sobald sich Verbesserungen durch die Vergemeinschaftung der Produktionsmittel einstellen, würden sukzessive mehr Menschen in den Betrieben hinter den Maßnahmen stehen. Um aber überhaupt zur Möglichkeit zur kommen, Schlüsselbetriebe zu übernehmen, brauche es gegenwärtig die politische Arbeit der Linken, um zu einem Wissen über die konkreten Produktionsprozesse zu kommen und Beziehungen in relevante Sektoren aufzubauen.

Linke in den Betrieben

Diese politische Arbeit findet wiederum in lokal begrenzten Kontexten statt. Wie das aussehen kann, thematisieren die Angry Workers im ersten Abschnitt des Buches. Sie beschreiben das Viertel, in das sie zogen, um Jobs in Warenlagern und der Lebensmittelindustrie anzunehmen. Greenford liegt im westlichen Teil Londons, unweit des größten Flughafens Europas, Heathrow. Auf den paar Quadratkilometern, die Greenford ausmachen, sind zahlreiche Warenlager und Fabriken der lebensmittelverarbeitenden Industrie: 60 Prozent der Lebensmittel, die London konsumiert, werden dort weiterverarbeitet, verpackt und transportiert. Die Gruppe entschied sich bewusst, dorthin zu ziehen, um Strategien aus dem täglichen Leben der ArbeiterInnenklasse heraus zu entwickeln. Man erfährt, wie sie ein Solidaritätsnetzwerk aufbauen und aufrechterhalten, welche Erfahrungen sie in den Warenlagern machen und wie sie mittels ihrer selbstgemachten Zeitung Kontakte in Betriebe und die NachbarInnenschaft gewinnen. Hier ist der Unterschied zu früheren Versuchen linker betrieblicher Klassenpolitik. Während die 68er den Marsch in die Fabrik einläuteten und maoistische Gruppen dem Industrieproletariat erklärten, was es für die befreite Gesellschaft braucht, gehen die Angry Workers die Sache zuerst einmal fragend an.

Während sich die einen in praxisfernen Strategieanalysen und die anderen in Aktivismus verlieren, gelingt den Angry Workers die Balance aus beidem. Wo die Linke Diskurse beeinflussen will, sind die Angry Workers in den Betrieben und Wohnvierteln. Wo sich Linke in knackigen Social-Media-Auftritten proben, sind die Angry Workers bei der ArbeiterInnenklasse. Das Buch zeigt die blinden Flecken des progressiven Milieus auf, gibt AktivistInnen aber auch Inspiration dafür, wie man diese blinden Flecken überwinden kann. Einziger Wermutstropfen: Es ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es lohnt sich aber jetzt schon, dass Buch zu lesen, nicht nur um mit dem Kauf die Arbeit der Angry Workers zu unterstützen, sondern auch um eine Inspiration zu bekommen, wie linke Klassenpolitik gehen kann.

Angry Workers (2020): Class Power on Zero-Hours. PM Press, London. (Bestellbar per E-Mail an angryworkersworld@gmail.com)