MALMOE

Diesseits des Plexiglases

Aus der Reihe: ku. & ko. Das phantastische Geschäft

Neben dem kleinen Park in der Seitenstraße liegt das wohl berühmteste Geschäft der Stadt. „Haben wir nicht, gibt’s nicht“, steht am Schild auf der Tür. Eben ertönt der Durchgangsmelder mit seinem wohlklingenden Glockenspiel. Die nächste Kundschaft ist da.

Etwas gehetzt wirkt der gedrungene Mann, als er stets zwei Stufen auf einmal nimmt. Doch dann stockt er: Der gesamte Boden des Verkaufsraums ist mit Strichen überzogen, die sich bei näherem Betrachten als solides Gaffatape entpuppen. Die erste Freifläche des Kuriositätenkabinetts ist noch schön geometrisch in Vierecke unterteilt, doch dann führen Regale, Globen und Wühltische zu einem geschwungenen Wirrwarr an Linien. Er lässt seinen Blick durch den Geschäftsraum schweifen und wird noch fünf weiteren Personen mit Maske gewahr, die sich im vorderen Drittel vor dem Verkaufstresen befinden. Regungslos stehen sie genau auf den Kreuzungspunkten der Linien, die auf die massive Theke zusteuern. Zögerlich tritt der Mann näher, die letzte konvexe Kurve leitet ihn an einem bauchigen Samowar vorbei und auf den verbleibenden Platz in der ersten Reihe, der wie für ihn reserviert wirkt. Er blickt um sich und erkennt neben sich eine Frau, die angespannt mit Notizblock und Kugelschreiber Richtung Tresen stiert. Der Mann räuspert sich kurz, worauf die Frau beschwichtigend durch den knallroten Maskenstoff flüstert: „Sie dürften jeden Augenblick kommen. Sie haben noch nichts verpasst!“

Nun erobert wieder die Stille das kurz verlorene Terrain, einzig das schwere Atmen von ganz rechts lässt einen weiteren Mann in der Phalanx der Wartenden vermuten. Ein verlegenes Räuspern, eine knarrende Diele und das monotone Ticken der Standuhr dienen nur zur Untermalung der Ruhe, die jede Sekunde durch die Ankunft der Ladenden zerrissen werden kann.

Und da bewegt sich der Knauf der Tapetentür hinter dem Tresen, die Tür schwingt leicht knarzend auf, und Konrad und Kuna treten hinter die Theke. Kuna, mit strahlend weißer Operationsmaske, lässt ihren Blick über die Wartenden schweifen, nickt ihnen zu und hofft, dass trotz Maske ihr Lächeln aus den Augen strahlt. Konrad, heute ausnahmsweise in einem schicken blauen Hemd und einer selbstgemachten Geschirrtuchmaske, begutachtet nochmals die Schraubzwinge, bewegt deren Knauf, wundert sich, dass er sich so leichtgängig drehen lässt und beginnt, sie mit beiden Händen festzuziehen.

„Konrad, ich mach’ schon, in den letzten Wochen hab’ ich meine Liebe zum Handwerken entdeckt. Alles hängt vom richtigen Dreh, also dem Spin ab“, versetzt Kuna jovial und wechselt nach jeder Rotation die Hände. Konrad betrachtet fasziniert den Ablauf, die Kunden, dann wieder das Geschehen auf dem Tresen, wo Kuna immer schneller die Schraubzwinge festzurrt. Plötzlich fällt die Zwinge zu Boden, die Scheibe droht zu kippen, doch im letzten Moment wirft sich Konrad auf den Verkaufstisch und ergreift die Oberkante des Plexiglases. Kuna lächelt verlegen hinter der Maske hervor und wendet sich an die Umstehenden: „Liebe Österreicherinnen, liebe Österreicher. Bei der Zwinge dreht man ja bekanntermaßen nach links, also im Uhrzeigersinn. Da sehen Sie mal, wie sehr ich mich bereits in sie reinversetzt habe, unser kleines Missverständnis besteht wohl darin, dass ich ihre Sicht übernommen, ja fast internalisiert habe. Hieran sehen Sie, wie sehr bei mir die Mitmenschen …“ Im Publikum verhaltene Heiterkeit, Konrad brummt in seiner misslichen Lage, was Kuna dazu veranlasst, vor den Tresen zu treten, die Schraubzwinge aufzuheben, damit sie sie mit vereinten Kräften festzurren.

„So, wo bin ich stehengeblieben?“, fragt Kuna.

Und Konrad antwortet: „Beim Uhrzeigersinn …“

„Konrad, das war rhetorisch, von dort, wo ich stehe, kann ich überall hin weitergehen, der Sinn ist, meine Damen und Herren, dass Sie hierhergekommen sind und wir gemeinsam …“, und in dieser gekonnt gesetzten Pause, in der es vor Dramatik im ganzen Raum förmlich zu knistern beginnt, wirft Konrad ein etwas zu plump geratenes „Also, ein herzliches Dankeschön auch von meiner Seite“ ein, was ihm einen schmerzhaften Tritt Kunas – für das Publikum nicht sichtbar, denn er erfolgt unter der Theke – kostet.

„… Sie gemeinsam, von mir mein neues Angebot erfahren werden!“, setzt Kuna ihre Arme hebend fort und ruft vereinzelten Applaus hervor. „Wir von ku. & ko. sind nicht nur ein Geschäft, sondern wir sind uns der Verantwortung bewusst, was es heißt, für seine Kunden da zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Deshalb wollen wir in dieser schwierigen Zeit, wo alle sich vor dem furchtbaren Virus fürchten, euch die Angst nehmen und Zuversicht geben.“

Nach kurzem Nicken, beginnt Konrad enthusiastisch zu klatschen und reißt prompt die ganze erste Reihe mit. Es entsteht ein durchaus ansprechender Applaus. Kuna fügt hinzu: „Nehmen wir deshalb die Masken ab, schauen wir einander ins Gesicht! In jedem Gesicht steckt so viel Zuversicht und Vertrauen – und deshalb, gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung und reicht euch die Hände, ohne sie zu berühren, mit herzlicher Social Distance sozusagen.“

In dem Moment meldet sich der Durchgangsmelder und zwei Kinder betreten das Geschäft. „Ah, meine Kinder … Lasst die Kinder zu mir kommen“, ruft Kuna, die entzückt hinter der Plexiglasscheibe hervorwinkt, „Lasst sie zu mir!“ Während sich die beiden schüchtern, mit leicht speckigen und verschmutzen Einwegmasken bekleidet, nach vorn zur Verkaufstheke bewegen, geht Kuna ihnen mit weit aufgerissenen Armen entgegen: „Meine Kinder, ich will euch von den lästigen Maskenmaßnahmen in unserem Geschäft befreien. Hier müsst ihr sie nicht mehr tragen. Die Zeit der Zuversicht hat begonnen.“ Sie reißt ihnen die Stoffmasken vom Gesicht und ruft: „Atmen wir frei, meine Damen und Herren!“ Die Frau mit der knallroten Maske hält diese bereits im spielerischen Pinzettengriff, eigentlich von Kindheit an leicht asthmatisch, füllt sie ihre Lungen mit Luft – der Atemzug kommt jedoch sogleich ins Straucheln und geht in einen wilden Reizhusten über. Auch der ältere Herr im vorderen Halbschatten stimmt in einen röchelnden Raucherhusten ein und im Nu keucht und hustet das ganze Geschäft, als wäre eine Gruppe von Kettenrauchern eben im Dachgeschoss angekommen. In leichter Panik springt Kuna wieder zurück hinter die Plexiglasscheibe und schiebt Konrad an die Front.

Konrad hebt die Stimme: „Meine Damen und Herren, kein Grund zur Unruhe! Wir haben uns etwas für solche Fälle überlegt, damit keine Missverständnisse entstehen, wir haben uns überlegt, dass Sie ohne Masken in solchen Fällen bitte die Hand vor den Mund halten und durch die Nase einatmen, denn dort ist unsere körpereigene Filteranlage. Und dann ziehen Sie die Hand wieder weg und atmen durch den Mund aus und dabei halten sie die Nase zu und dann wieder Mund zu halten und durch die Nase ein. Aber das Wichtigste ist: Bleiben sie zuversichtlich!“

Bei diesem Stichwort setzt Kuna wieder ein: „Denn wir haben noch etwas für Sie! Für all unsere Kunden, die heute hier sind, gibt es einen Treuebon zum Anstecken. Wenn Sie mit diesem Anstecker in unser Geschäft kommen, bekommen sie fünf Prozent Ermäßigung auf alle Produkte. Außer der Aktionsware, versteht sich. Und was wir gerade in Aktion haben, wird Ihnen unsere hochverehrte Geschäftsführerin nun mitteilen.“

Während Kuna die Angebote, die von Gummiringerln bis zu gebrauchten Winterreifen reichen, von einem Zettel liest, verteilt Konrad die Treuebon-Anstecker. Auch wenn die erwartete Euphorie sich unter den Kunden nicht direkt einstellt, ist die Stimmung dennoch zufriedenstellend und Konrad spürt, wie sich ein neues Gefühl einstellt. Kuna beugt sich über das Plexiglas, legt ihm sanft die Hand auf die Schulter und vermerkt keck: „Dürft’ ich bitten, lieber Konrad?“ Nun drehen sie wieder gemeinsam an dem Knauf der Schraubzwinge, bis sie sich löst. Als sie die Plexiglasscheibe Richtung Boden absenken, werfen sie noch einen Blick auf die Szenerie, in der widerhallend einige Nasenpolypen und Bronchien pfeifen und rasseln. „Das ist es“, haucht Kuna in Konrads Ohr, „the next level – von der Zuversicht zum Zuvertrauen!“