MALMOE

„Im Roten Wien herrscht eine gewisse Arroganz“

Die ARGE Räume erklärt, warum es in Wien so schwer ist, subkulturelle Räume zu halten, geschweige denn zu erkämpfen. Und: Was sie dagegen tun wollen

Im April 2018 hat die Interessenvertretung der freien und autonomen Kulturszene in Wien (IG Kultur Wien) einen Nerv getroffen: Bei einem Treffen der von ihr mitinitiierten Vernetzungsplattform „Arge Räume – Kulturraumvernetzung von unten“ drängten sich zahlreiche Initiativen, Kunst- und Kulturschaffende, Politgruppen und Einzelpersonen (siehe auch MALMOE 83). Viele von ihnen waren auf der Suche nach Räumen. Aus diesem ersten Treffen hat sich die ARGE Räume entwickelt: eine Vernetzungsplattform, die an der aktuellen Raumnot etwas ändern möchte. Dass die ARGE Räume im Oktober den Preis der freien Szene Wiens gewonnen haben, ist Grund genug, mit Walter Gössinger vom Tüwi und Claudia Totschnig vom Amerlinghaus Bilanz zu ziehen.

MALMOE: Die Zeit der großen Besetzungen war in den 1970er-Jahren, heute passiert wenig. Konzepte wie Zwischennutzung und Multi-Funktions-Räume sind en vogue. Schwimmt ihr da mit?

Claudia Totschnig: Offene, vielfältig nutzbare Räume sind rar, und für autonome Freiräume ist dieser starke Fokus auf Zwischennutzung schwierig: Alles muss temporär, mobil, flexibel sein. Das kann für eine Gruppe oder ein Projekt schon einmal passen. Gleichzeitig braucht es aber auch Räume, die eine kontinuierliche Ressource für freie und autonome Kulturarbeit sind, und das passt dann nicht unbedingt in diesen neoliberalen Zeitgeist. Auch beim Mo.ë hat die Stadt von einer Zwischennutzung gesprochen, obwohl es nie darauf ausgerichtet war.

Das Amerlinghaus kommt ja aus einer anderen Generation.

Totschnig: Also eine der Forderungen bei der Besetzung war: Jedem Grätzl sein Zentrum. Diese Forderung ist nach wie vor aktuell.

Walter Gössinger: Der Druck auf Raum ist heute viel größer. Der Kapitalismus durchdringt uns alle viel mehr als vor 40 Jahren. Wer hat denn bei steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten noch Zeit, sich für ein Kulturzentrum im Grätzl zu engagieren? Die meisten Besetzungen in Wien werden innerhalb von 24 Stunden geräumt. Nur weil es keine langfristigen Besetzungen mehr gibt, heißt das nicht, dass der Bedarf nicht da ist.

Wer begehrt heute in Wien nach Räumen?

Totschnig: Im Amerlinghaus arbeiten momentan circa 70 Initiativen, und wir bekommen täglich an die fünf Anfragen für Raum. Da ist das ganze Spektrum dabei: freie Theatergruppen, Migrant*innen-Organisationen, Künstler*innen, Initiativen, die an der Schnittstelle zwischen Kulturarbeit, Sozialer Arbeit und außerschulischer Bildung arbeiten und Einzelpersonen. Früher war das Amerlinghaus ein Sprungbrett für Initiativen, um sich später mit einer eigenen Förderung (räumlich) selbstständig zu machen. Die Leute sind oft verzweifelt auf der Suche nach Räumen, die erschwinglich sind. Aber es werden ja auch die Förderungen weniger, zumindest steigt das Kulturbudget nicht. Fixkosten wie Mieten aber schon, und zwar massiv.

Mehr Geld, wäre damit das Problem in Wien gelöst?

Gössinger: Nein. Ein Problem in Wien ist, dass sich die Wichtigkeit von Freiräumen für eine Stadt nicht in der Stadtentwicklung widerspiegelt, dass kulturelle Zentren in Entwicklungsgebieten nicht mitgedacht werden. Bei neuen Projekten könnten Bauträger verpflichtet werden, auch einen kulturellen Mehrwert für die Allgemeinheit zu schaffen, zum Beispiel durch leistbare Probe- und Veranstaltungsräume. Zusätzlich könnte die Stadt eigene Immobilien für kulturelle Nutzungen öffnen oder Auflagen zumindest für kleine und unkommerzielle Räume lockern.

Auch die Nordbahnhalle wurde nicht verlängert. Jetzt ist sie abgebrannt, ein trauriges Ende …

Totschnig: Das Projekt Nordbahnhalle zeigt, wie Initiativen in einem Stadtentwicklungsgebiet von sich aus tätig werden und viel Arbeit in den Erhalt eines Raums stecken – Arbeit, die sich die Stadt spart. So leistet die freie und autonome Kulturszene bottom up einen wichtigen Beitrag zur Stadtentwicklung, der leider oft viel zu wenig wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Und in dem Fall hat sich das jetzt erübrigt.

Gössinger: Das ist auch Teil einer neoliberalen Logik: Die Kultur bereitet ein Grätzl für Investoren auf, soll sich dann aber bitte wieder schleichen. Außerdem sind in Wien die Entscheidungsträger*innen primär skeptisch, wenn es sich um lose organisierte Gruppen handelt. Dabei geht es auch um Verantwortung. Gössinger: Im Vergleich zu anderen Städten herrscht in Wien eine große Skepsis gegenüber allem, was man nicht zu 100 Prozent kontrollieren kann. Autonomer Kulturarbeit wäre schon genug geholfen, wenn man ein paar Dinge einfach zulässt. Wenn jeder kleine Kulturbetrieb die gleichen bürokratischen Prozesse durchlaufen muss wie ein großer Veranstalter, kann das nicht gut gehen. Wir hoffen auf erste Verbesserungen durch das neue Veranstaltungsgesetz.

Totschnig: Im Roten Wien herrscht eine gewisse Arroganz. Gespräche zwischen Stadt und Initiativen auf Augenhöhe sind selten, und es zeigt sich, dass manche Politiker*innen beleidigt reagieren, wenn man von Gentrifizierung in Wien spricht. Obwohl zum Beispiel der Spittelberg ein Musterbeispiel für diese Entwicklungen ist.

Im Vergleich zu anderen Städten fördert Wien Kunst und Kultur noch immer gut.

Gössinger: Das mag sein, aber dafür gibt es in anderen Städten mehr Raum, den man sich einfach nehmen konnte, man denke an Berlin nach der Wende. Hier in Wien sind sich die Politiker*innen ihrer Sache so sicher und sehen nicht, dass sie ihre Basis systematisch im Stich lassen und vergraulen.

Wie wollt ihr als ARGE Räume daran etwas ändern?

Gössinger: Wir machen einerseits politische Arbeit, indem wir Raumbedarf sichtbar und Rahmenbedingungen für Räume verbessern wollen. Andererseits wollen wir auch Hilfe bieten: Als gefährdetes Raumprojekt steht man meistens übermächtigen Gegnern gegenüber, sei es die Stadt oder eine Immobilienfirma. Das sind sehr zeit- und energieintensive Prozesse, ein unbedachter Schritt und du bist weg. Zusammen sind wir stärker, wir lernen voneinander und unterstützen uns gegenseitig.

Totschnig: Und das, was wir machen, soll niederschwellig zugänglich sein. Es gibt die Koordinationstreffen mit den Mitgliedern der ARGE Räume und es gibt die offenen Stammtische, die einmal im Monat stattfinden. Unser Ziel ist es, langfristig nicht immer nur zu reagieren, also um den Erhalt von bedrohten Räumen zu zittern, sondern auch aktiv zu sein und neue Räume zu erkämpfen.