MALMOE

„Ich habe gehört, Behinderte dürfen keinen Sex haben“

Gedankenauszüge aus sexualpädagogischen Beratungen mit Frauen mit Mehrfachbehinderung und Frauen mit Lernschwierigkeiten

Isabell Naronnig leitet die Beratungsstelle „Zeitlupe – Peer-Beratung für Frauen mit Behinderung“ in Wien. Zeitlupe berät zu allen Fragestellungen und Themen, die im Leben von Frauen mit Behinderungen auftauchen – von „Leben mit persönlicher Assistenz“ über „Wohnen und Arbeiten mit Unterstützung“ bis hin zu „Kinderwunsch“ oder „Sexualität“.

Was die Frauen sagen

Sex, wie geht das?

Na da unten macht man Sex, zwischen den Beinen. Schauen? Nein! Man darf nicht schauen. Augen müssen zu sein. So wie im Film.

Mit dem Mund kann man auch Sex machen? Wä!

Das geht immer so schnell vorbei. Ist das so?

Sex mit mir selbst? Hä?

Nur kuscheln, kein Sex. Nein!

Meine Mama sagt, Sex ist gefährlich. Ich kann krank werden. Ich will aber nicht krank werden. Ich will gesund bleiben. Sex ist nicht gut.

Sex geht nur mit Liebe, sagt meine Betreuerin. Deshalb hat es nicht geklappt. Jetzt muss ich warten. Wann kommt denn einer mit Liebe?

Zuerst Wäsche waschen und dann Zimmer aufräumen. Danach darf mein Freund mich besuchen kommen. Die Betreuerin sagt „Tür offen lassen!“ Dann wieder zwei Wochen warten.

Sex muss man machen, wenn man einen Mann hat. Der F. ist viel lieber zu mir, wenn wir Sex haben. Wenn er nicht mehr lieb ist, haben wir wieder Sex.

Frauen sind so schön. Wie geht Sex mit Frauen? Das ist erlaubt, oder?

Was ist Lust? Meinst du lustig? Nein, lustig ist es nicht.

Ich habe viel Sex mit meinem Freund, es macht Spaß! Wir beide im Bett, aber nur mit Gewand!

Streicheln tut gut. Ich mag streicheln.

Im Park war das. Der Mann hat meine Puppe gesehen und mich gefragt, ob ich eigene Kinder will. Ich habe ja gesagt. Dann hat er gesagt, du musst zuerst Sex haben. Er hat mich gefragt, ob ich Sex mit ihm machen will. Ich habe mich aber nicht getraut. Darf ich das nächste Mal ja sagen?

Ich habe gehört, Behinderte dürfen keinen Sex haben, stimmt das?

Sex ist nur zum Kinder machen. Meine Schwester sagt das. Sie sagt, ich bin für immer ein Kind. Und Kinder haben keinen Sex.

Was Zeitlupe sagt

Wie geht Beratung bei Zeitlupe? Zeitlupe ist eine Peer Beratungsstelle für Frauen mit Behinderungen. „Peer“ kommt aus dem Englischen und bedeutet „gleichartig“. Die Beraterinnen bei Zeitlupe sind selbst Frauen mit Behinderungen. In den Beratungen sprechen wir über das, was die Frauen beschäftigt. Und oft auch darüber, was wir als Frau mit Behinderung erleben und schon erlebt haben. Wir unterstützen die Kundinnen bei allen Fragen und Anliegen, die sie mitbringen. Themen können sein: Wohnen, Weiblichkeit, Behinderung/Erkrankung, Beziehungen, persönliche Assistenz, Behörden, Diskriminierungen, Alleinsein, Sexualität und vieles mehr.

In den sexualpädagogischen Beratungen wird sehr deutlich, dass Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Mehrfachbehinderung beim Thema Sexualität an so viel mehr denken müssen als die meisten nichtbehinderten Menschen. Wie geht Sex und mit wem kann ich darüber sprechen? Wer will mit mir über Sex sprechen? Wird dann im ganzen Team (zum Beispiel in Wohngemeinschaften) darüber gesprochen? Will ich das? Brauche ich Hilfe beim Sex? Gibt es jemanden, der*die mir/uns helfen darf und will? Wer hilft mir, einen Partnerin zu finden? Dürfen mir die Betreuerinnen dabei helfen, einen Sexualbegleiter*in zu finden (Stichwort: Verkuppelungsparagraph)? Sex in der WG, wenn alle da sind?! Warum Verhütung, ich will ja ein Baby!? Ich verstehe nicht, warum ich verhüten muss – was passiert da in meinem Körper?

In den Beratungen dürfen all diese Fragen – und noch viele mehr – Platz haben. Ziel ist, dass die Kundinnen spüren, dass sie gehört werden. Mit all ihren Ängsten, ihrer Wut, mit ihrer Neugierde und ihrer Entdeckungslust! Darum findet Beratung oft kreativ und haptisch statt. Es werden Vulven und Körperbilder angeschaut oder selber gemalt und gebastelt. Genitalmodelle kommen ebenso zum Einsatz wie (Bilder-)Bücher oder Puppen. Wir stellen die Materialien und Ideen zur Verfügung, die Kundinnen wählen aus.

Was andere (nicht) tun

Nicht sagen zu können, was im eigenen Körper passiert, das Unwissen über die eigene Lust – das ist häufig Thema. Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Mehrfachbehinderung werden viel zu selten sexualpädagogisch aufgeklärt. Sie sind davon abhängig, wie aufmerksam und aktiv ihr Umfeld agiert, in dem sie aufwachsen und leben, und ob ihnen Zugang zu Wissen verschafft wird.

Apropos Umfeld. Das kann ganz schön überfordert sein, wenn Kundinnen sich durch den Beratungsprozess empowern. Wenn sie plötzlich Namen für Körperteile und Gefühle haben. Wenn sie ihre ganz persönlichen Grenzen kennenlernen. Und diese dann aussprechen – laut, lustvoll, fordernd. Wenn sie einfach immer weiter und weiter in das Thema Sexualität eintauchen können – ganz ohne „Zielvereinbarung“, die es im Betreuungskontext oft gibt. Wenn sie sich größere Betten kaufen wollen, zum ersten Mal einen Sexshop besuchen möchten, hörbaren Spaß mit einem Dildo haben, einfordern, ihre Zimmertüre zusperren zu können, mit dem Partner oder der Partnerin zusammenziehen wollen und vieles mehr.

Beratungsprozesse dauern unterschiedlich lange. Zeit, sich Zeit lassen und Zeit geben – das ist am wichtigsten. Das Tempo der Kundin anerkennen. Es dauert eben so lange, wie es die Kundin braucht – und will! Nicht selten höre ich aus dem Umfeld: „Sie kommt schon so lange in die Beratung und es ist immer noch schwierig mit ihr.“ Die Ansprüche und Anforderungen an die Entwicklung der Kundinnen und an die Beratung sind dann etwas überzogen. Wer bestimmt darüber, wie schnell etwas gelernt oder verlernt wird? Und um wen geht es dann eigentlich wieder?

Was getan werden muss

Grenzen setzen, Grenzen sprengen – am besten gemeinsam und nachhaltig. Was heißt das? Menschen mit Behinderungen, die ihr Recht auf sexuelle Gesundheit leben wollen, brauchen in erster Linie eines: Verbündete. Unterstützer*innen, die sie und ihre Wünsche ernst nehmen. Die mit ihnen gemeinsam Möglichkeiten erforschen. Die sie in ihren Forderungen unterstützen. Die Bildungsarbeit leisten. Tabus aufbrechen – mit ihnen gemeinsam. Die sie dabei unterstützen, als Aktivistinnen tätig zu sein – sich mit anderen zu vernetzen.

Ich höre es schon: Viel zu kompliziert. Nicht machbar. Geht nicht. Ja, wenn vieles so bleibt, wie es jetzt ist, dann geht es nicht. Aber es könnte anders sein: Macht Bildung barrierefrei! Macht Zugänge barrierefrei! Macht Gedanken barrierefrei – schaut hin und informiert euch!

Sexualaufklärung ist für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen kaum zugänglich. Es braucht Menschen an ihrer Seite, die genau das ermöglichen und respektieren. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Prävention von Gewalt. Vor allem Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind um ein Vielfaches öfter von sexueller und sexualisierter Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen. Letztes Jahr wurde vom Sozialministerium die Studie „Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen“ veröffentlicht. Die Aussagen und Ergebnisse sind eindeutig. Es braucht unter anderem viel mehr Selbstbestimmung sowie bedarfsgerechte persönliche Assistenz für alle. Eigentlich braucht es ja „nur“ eines: die vollständige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die Österreich 2008 ratifiziert hat.

Zum Abschluss: Es gibt inzwischen viele professionell ausgebildete Sexualpädagog*innen, die mit der Zielgruppe „Menschen mit Behinderungen“ arbeiten. Es sollte selbstverständlich sein, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten und Mehrfachbehinderungen diese Beratungen in Anspruch nehmen können. Und das Geld dafür haben. Zum Beispiel über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Und nicht Taschengeld. Das bekommen nämlich Kinder. Aber hier geht es um Erwachsene.

Anmerkung zum Begriff „Lernschwierigkeiten: In Anlehnung an die Entscheidung der „People First“-Bewegung wird dieser Empowerment-Begriff verwendet statt „geistige Behinderung“.