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MALMOE

Long Covid, 
der Kapitalismus und ich

Dass ich als Betroffene jetzt hier einen Artikel über Long Covid schreiben kann, ist nicht selbstverständlich, großes Glück und Privileg.

Ich war mild bis moderat betroffen. Für mich hat Long Covid bedeutet, nach meiner zweiten Corona-Erkrankung im April 2022 noch drei Wochen lang zu versuchen, zu funktionieren und dann auf einmal nicht mehr zu können. Ich bin 32 Jahre alt, geimpft, ein sehr aktiver Mensch, in vielen sozialen und politischen Zusammenhängen und gerne unterwegs. Die wenigen Studien zu Betroffenenzahlen zeigen, dass diese Krankheit eine massive gesamtgesellschaftliche Relevanz hat und noch lange haben wird. Insbesondere moderat bis schwer betroffene Personen mit Fatigue fallen häufig aus dem gesellschaftlichen Leben heraus.


Ich hatte viereinhalb Monate starke Fatigue. In dieser Zeit musste ich oft Glas oder Handy mit zwei Händen halten, da es sonst zu schwer war. Manchmal fingen meine Hände bei kleinster Belastung unkontrolliert an zu zittern. Ich konnte mitunter gar nicht laufen oder nur wie ein sehr alter Mensch. Obwohl ich es unbedingt wollte, schaffte ich es oft über Stunden nicht aufzustehen. Mein Tagesenergiepensum war mit einem Mal Nudelkochen erschöpft. Es kribbelte ständig in meinen Beinen. Manchmal raste mein Herz im Liegen. Ich fühlte mich meistens, als hätte ich eine beginnende Grippe, und hatte dauernd Sodbrennen. Nach einer längeren Zugfahrt musste ich zwei Tage liegen. Ein Buch zu lesen war unmöglich. Für mich hat sich Long Covid angefühlt wie diese bleierne Müdigkeit, die ich noch aus meiner Kindheit kenne.


Mir hat nie jemand Long Covid diagnostiziert. Das liegt auch daran, dass meine Fatigue nach viereinhalb Monaten wieder weg war, aber vor allem daran, dass mich in den drei unterschiedlichen Ordinationen, in denen ich in dieser Zeit war, niemand ernst genommen hat. Die Pandemie war zu diesem Zeitpunkt schon älter als zwei Jahre und postvirale Fatigue, ME/CFS und POTS, deren Symptome Long Covid ähneln, waren bereits vor Covid-19 bekannte Krankheiten.


Pacing vs. Leistungsethos


Ärztinnen-Diagnose Nummer eins: „Ja, wenn Sie nur herumliegen, werden Sie natürlich nicht fit. Sie müssen einfach jeden Tag ein bisschen mehr Sport machen, dann sind Sie in vier Tagen wieder fit.“

Ich traf diesen Arzt, nachdem ich eine Woche lang kaum stehen konnte. Den Kilometer zu der Praxis musste ich Bahnfahren. Zwischen Bahnfahrt und Arztpraxis musste ich 20 Minuten Energie für das Gespräch zu sammeln. Ich hatte zwar keine Kraft, dem Arzt zu widersprechen, aber zum Glück hatte ich davor bereits von Long Covid gehört. Hatte bereits von der Selbsthilfegruppe Long Covid Deutschland (LCD) gelesen und dass es kontraproduktiv sein kann, über die eigenen Belastungsgrenzen hinauszugehen. Pacing bedeutet ein sehr konsequentes Leben entlang der eigenen Ressourcen. Es geht darum, auf den eigenen Körper zu hören und sich die eigenen Kräfte entsprechend einzuteilen. Das Ziel ist, am Ende des Tages nicht alle Energiereserven aufgebraucht zu haben. Dies kann langfristig zur Stabilisierung und sogar Besserung der Symptome führen. Eigene Grenzen ständig zu übergehen hingegen kann zu einer Verschlechterung bis zur dauerhaften Bettlägerigkeit führen.

Ich hatte also in zweierlei Hinsicht Glück: Ich war informiert genug, um die Empfehlungen des Arztes anzuzweifeln (obwohl ich Ärztinnen grundsätzlich vertraue). Außerdem war ich in dieser Zeit Arbeitslosengeld-Empfängerin. Und weil ich weiß und Akademikerin bin, hatte ich auch wenig Stress mit dem Amt. Ich hatte mir meinen Sommer zwar anders vorgestellt, da ich aber kinderlos und relativ frei von Leistungs- und Verwertungslogik bin, wollten verhältnismäßig wenige Menschen akut was von mir.


Ich habe ein sehr reflektiertes, solidarisches Umfeld, das mir keinen Druck gemacht hat, irgendetwas zu müssen. Natürlich bin aber weder ich selbst noch jedes noch so linke Umfeld frei von neoliberaler Subjektivierung, Leistungsethos und Performancedruck. Mir zu erlauben, mich vollständig meiner Gesundheit zu widmen, war also überhaupt nicht einfach.


Wissen vs. Pathologisierung


Ärztinnen-Diagnose Nummer zwei: „Ihre Symptome sind ja sehr schwer von einer Depression zu unterscheiden. Und die Pandemie ist für uns alle belastend. Ich mache jetzt mal ein EKG, aber na ja …“ So wichtig ich es finde, ganzheitlich auf Krankheiten zu schauen, so unglaublich belastend habe ich es erlebt, dass von so vielen Seiten getan wurde, als würde ich mir meine Krankheit einbilden. Psychologinnen werden jetzt sagen: Psychosomatik heißt nicht, dass du dir etwas einbildest, die Symptome sind dann auch real. Ja. Aber die Behandlung ist eine andere. Aktivierung hilft in den allermeisten Fällen psychischer Krankheit. Bei meiner Form von Long Covid bezweckt Aktivierung das Gegenteil.


Heute würde ich sagen, ich wurde massiv gegaslightet. Ich wusste, dass ich krank bin, und das wurde mir einfach von den Menschen, auf die ich am meisten angewiesen war, abgesprochen.


Menschen, die das nicht selbst erlebt haben, können vielleicht nicht verstehen, in welche abgrundtiefe Verzweiflung es einen stürzt, auf einmal nicht mehr das gewohnte Leben leben zu können. Keine Aussicht darauf zu haben, ob und wann es besser wird. Und dann auch noch abgesprochen zu bekommen, dass man eine somatische Krankheit hat, ist wiederum extrem psychisch belastend. Aber es hilft nicht, wenn die Krankheit bagatellisiert wird. Von Ärztinnen ernst genommen zu werden und entsprechende Tipps und Diagnosen zu bekommen, ist essenziell. Für die eigene körperliche und mentale Gesundheit. Für Formalia wie Krankschreibungen, die richtige Reha, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Sozialhilfe und so weiter.

Chronische Krankheiten sind ein extremer Risikofaktor für Armut. Abstiegsängste sind eine Belastung und werden immer konkreter, je länger Long Covid anhält. Wer kaum Kraft hat, fünf Meter zu laufen, hat keine Kraft für Ämter und deutsche Bürokratie, sich gegen die ständigen Leistungserwartungen zu wehren, kann sich keine entsprechende Behandlung organisieren oder für die eigenen Rechte kämpfen.

Dass eine Krankheit, die insbesondere Frauen trifft, besonders bagatellisiert und/oder als psychisch kategorisiert wird, ist keine Überraschung, sondern Tradition.

Wäre es allen leichter gefallen, mich und diese Krankheit ernst zu nehmen, wenn ich noch angestellt gewesen wäre und monatelang krankgeschrieben? Wäre es leichter gewesen, wenn diese Krankheit sich mehr in meinem Aussehen gespiegelt hätte? Was, wenn ich davor Leistungssportlerin oder superschlank gewesen wäre?

Selbstorganisierung vs. Ableismus

Ärztinnen-Diagnose Nummer drei: „Ja, das kann schon einmal passieren. Das kann mal drei Monate dauern. Einfach mal abwarten. Davor können wir sowieso gar nichts für Sie machen.“
Viele, die an Long Covid leiden, beschreiben ein „Unsichtbar-Werden“. Ich bin auch plötzlich sehr unsichtbar geworden. War mit einem Schlag raus aus meinem Kollektiv und meinen politischen Zusammenhängen. Ich konnte nicht allen erklären, was los war. Da ich von Pacing gelesen hatte und meine Ärztinnen auch nur schlechtere Tipps hatten, verharrte ich zwei Monate lang quasi tatenlos. Ich machte so wenig wie möglich: spazieren gehen mit Freundinnen, Filme schauen mit meinen Geschwistern, knutschen. Es verbesserte sich praktisch nichts und ich fing an zu überlegen, ob ich ein solches Leben mit Anfang 30 eigentlich langfristig lebenswert finde. Ein zutiefst ableistischer Gedanke. Lebensunwertes Leben, nur weil ich im kapitalistischen Normalbetrieb nicht mehr mitmachen kann?


Ich begann mir Gedanken darüber zu machen, wie ich mit der Krankheit langfristig leben könnte, da die Perspektive auf Besserung immer weiter schwand. Dabei half mir vor allem die Facebook-Gruppe der Selbsthilfeorganisierung LCD. Vor allem wegen Mia Diekows sehr lehrreichem und sympathischem Auftritt in dem Podcast „Feuer & Brot“ habe ich mich ermutigt gefühlt, dieser Gruppe beizutreten. Ich fand dort neben vielen geteilten Leidensgeschichten (Shoutout an die sogenannten „Jammerposts“ und die endlose Solidarität darunter) unglaublich viel Mut und Stärke. Menschen, die trotz allem zahlreiche hilfreiche Tipps und Analysen teilen, teilweise mit größter Mühe und Detailverliebtheit Konzepte, Rezepte, Ideen und sonstige Überlegungen aufbereiten. Dort habe ich wieder Mut gefasst, mir ein, wenn auch anderes, aber trotzdem lebenswertes Leben zu bauen. Und dort bin ich auf histaminarme Ernährung, Osteopathie und Atemübungen als mögliche Hilfen gestoßen. Und dann begann die stetige Verbesserung meiner Symptome.


Geld vs. Long Covid


An welchem dieser Tipps es am Ende lag oder ob der dritte Arzt dann irgendwie doch recht hatte, kann ich nicht sagen. Aber ich kann sagen, dass es eigentlich nicht die Aufgabe von Betroffenen sein sollte, sich selbst und gegenseitig zu informieren. Dass es Ärztinnen sein sollten, die von Tag eins nach der Infektion Patientinnen ernst nehmen und Tipps parat haben sollten und diese in der Suche nach möglichen Ursachen und Diagnosen immer begleiten.


Ich möchte aber nicht den Ärztinnen die Schuld geben. Meine Long-Covid-Erkrankung hat mir nochmal sehr deutlich gemacht: Das deutsche Gesundheitssystem ist am Limit und weit darüber hinaus. Als Ärztin oder Krankenhaus wirtschaftlich handeln zu müssen, ist Bullshit, das Zwei-Klassen-Gesundheitssystem macht krank. Es gibt zu wenig Geld für Forschung und Ausbildung. Gerade Pflegerinnen und Medizinische Fachangestellte verdienen viel zu wenig, die Arbeitsbedingungen sind schlecht. Personalmangel ist entsprechend real. Die Aufklärung über Long Covid war gerade unter der alten Bundesregierung mangelhaft. Es bräuchte flächendeckend finanzierte, spezialisierte Strukturen, an die sich Betroffene wenden können. An denen Forschung, Diagnostik und Therapie zusammenlaufen.

Der neue Umgang mit der Pandemie ist kein Umgang. Mehr infizierte Personen bedeuten mehr Menschen mit Long Covid. Chronisch kranke Menschen und Risikogruppen werden alleine gelassen. Ein langfristiger Umgang mit dem Virus muss einen Umgang mit Long Covid beinhalten. Es wurden jetzt zehn Millionen Euro für Forschung lockergemacht. Das ist lächerlich wenig und muss dringend aufgestockt werden. Es braucht unbürokratische Zugänge zur finanziellen Absicherung.

Mein Weg zurück in ein Leben mit neuem Job, neuer Stadt, vielen Besuchen, weiterhin wenig Party und viel Ruhe war abhängig von finanziellen Mitteln. Ich konnte es mir leisten, teure Nahrungsergänzungsmittel zu kaufen, privat Osteopathie zu finanzieren. Irgendwann wäre ich wahrscheinlich zu einer Long-Covid-Sprechstunde in eine Privatpraxis gegangen und hätte mir Geld dafür geliehen. Auch dort hätte ich sicherlich Monate auf einen Termin warten müssen. Heute bin ich circa zwei Monate Fatigue-frei. Einige Symptome und eine kleine Unsicherheit bleiben, denn es gibt auch Menschen, die nach Monaten auf einmal wieder Rückfälle bekommen. Ich hatte Glück. Hunderttausende sind langfristig arbeitsunfähig, warten immer noch auf einen Arzttermin und ein zugelassenes Medikament.

Solidarität vs. LongCovid

Solidarität ist politisch. Ich finde es wichtig, hier sichtbar zu machen, was mich gerettet hat. Zum einen, um Privilegien sichtbar zu machen, die nicht alle Menschen haben. Zum anderen, weil Beziehungen und Care-Work unsichtbar bleiben, obwohl ohne sie gar nichts funktionieren würde. Deswegen ein fettes Shoutout an meine Geschwister und Mitbewohnerinnen, die komplett den Haushalt geschmissen haben, an meine Freundinnen, die mir schöne Urlaubs-Wochenenden ermöglicht haben, an denen ich fast nur liegen konnte und nie kochen musste. An alle Menschen, die sich in der Zeit liebevoll um mich gesorgt haben, mit mir Spaziergänge im Kriechmodus gemacht haben und sich tagelang in mein Bett gelegt haben und mich durch alle Tränen hindurch festgehalten haben. Shoutout an alle Menschen, die schon vorher chronisch krank waren, und Behinderten-Aktivistinnen, auf deren Wissen und Organisierung viel zurückgegriffen wird und die in der Pandemie weiterhin vergessen werden. Und besonders fettes Shoutout an alle Menschen, die auch lang oder kurz an Long Covid leiden und einfach nur durchhalten oder sich organisieren, die Wissen teilen, laut werden für Veränderung oder ihre Reichweite nutzen und dafür unendlich viel Hate einstecken. Shoutout also auch an das Internet und Social Media dafür, dass Menschen, die auf der Straße so unsichtbar werden, doch irgendwo eine Plattform haben. Durch diesen Aktivismus wurden schon erste Erfolge erzielt und ganz langsam wird Long Covid bekannter. Es besteht also leise Hoffnung, es werden zum Beispiel erste Medikamente klinisch getestet.


Ich bin jetzt anders dankbar für mein Leben und meine Gesundheit. Ich wünsche mir, dass mehr fitte Menschen auf Long Covid aufmerksam machen, die Forderungen von LCD unterstützen und ein Ende des Kapitalismus, damit krank und/oder behindert zu sein nicht mehr ganz so angsterregend ist. Davon werde ich immer müde bleiben.

Lillemor Kuht