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MALMOE

Scheitern ohne Chancen

Der Straßenverkehr als Sinnbild des Kapitalismus

Es ist diese Frage, die sich mir aufdrängt: Wieso sind diese Menschen hier heute überhaupt vor Gericht? Klar, da werden Straftaten verhandelt: Körperverletzung, Sachbeschädigung. Doch ich habe bei den Darlegungen des Richters, bei den Erklärungen und Ausflüchten der Angeklagten und ihrer Anwält:innen vor allem ein Gefühl: Es geht um das Scheitern, um Kränkungen und die Unfähigkeit, mit der eigenen Überforderung zurechtzukommen. Der Tag vor Gericht beginnt mit Autos und der Erkenntnis: Die gefährlichsten Situationen passieren im Straßenverkehr. Besonders, wenn Männer involviert sind. Der Tathergang wird uns ungefähr so geschildert: Herr A. und Herr I. stehen beim Rückstau an der Ampel in der linken Spur, gleich zweimal lässt A. den Motor absaufen, beim zweiten Mal gelingt es I. nicht rechtzeitig zu bremsen. Beide Männer sind aufgebracht, schimpfen, gehen aufeinander los. Wieso es den beiden dann als adäquate Lösungsstrategie erscheint, ihre Wägen in einer Seitenstraße abzustellen, um mit Tritten und Faustschlägen die Sache auszutragen, bleibt unklar. Auch wieso eine Polizeistreife den Streit nicht schlichtet, sondern unbeteiligt weiterfährt und die beiden Männer sich selbst überlässt. Klar ist dagegen, wer den Kampf gewinnt: In einer kurzen und heftigen Schlägerei entscheidet der „kampfsporterprobte“ I. die Auseinandersetzung für sich. A. blutet, hat zahlreiche Prellungen und Schürfungen und kann die nächsten zwei Wochen wegen der Verletzungen nicht zur Arbeit. Beide aber halten sich für unschuldig, sie plädieren auf Notwehr und Freispruch.

Dabei gibt Herr I. zu, dass er Schuld an dem Auffahrunfall trage und das auch schon am Tag des Vorfalls selbst zugegeben habe. Überhaupt gibt er sich wenig Mühe, vor Gericht noch etwas zu retten. Der Richter macht deutlich, dass die Sache für ihn bereits entschieden ist. Die Unterbrechungen durch I. stören ihn. I. realisiert – ein wenig zu spät –, dass er in diesem Prozess schuldig gesprochen werden wird. Erst jetzt erfahren wir, dass der arbeitslose Mann mit 900 Euro im Monat auskommen muss. Nach der Trennung von seiner Partnerin und seinen beiden Kindern lebt er nun bei einer Freundin auf dem Sofa. Das Scheitern vor Gericht wirkt wie ein Scheitern mit sich selbst. Die angebotene Diversion schlägt er aus. Trotzig. Der Urteilsspruch folgt. Er wird 1.500 Euro Schmerzensgeld an A. zahlen müssen und 240 Euro Strafe (40 Tagessätze).

Autofahren, Oida!?

Ich selbst habe auch ein Auto. Einen behäbigen Ford Tourneo, der aussieht wie ein Lego-Auto, langsam ist und ein wenig überdimensioniert wirkt. Das Einparken ist kompliziert. Andauernd werde ich angehupt und angeschrien. Ich bin im Weg, blockiere die Straße oder störe irgendwie anders. Dafür passt ein Bett ins Auto. Ein unschlagbarer Vorteil.

Die Menschen, mit denen ich mich umgebe, halte ich – genau wie mich – für friedlich, sanft und lieb. So auch meinen guten Freund Jakob. Er ist ein sehr ruhiger Typ. Aber er fährt gern und viel Auto, und zeigt dann eine ganz andere Seite: Stets schneller als erlaubt, grundsätzlich risikobereit und fast immer auf Stoßstange. Die Hupe setzt er oft und gerne ein, sie hat unterschiedliche Bedeutungen für ihn: Mal tönt sie „Weg da“ oder „Vorsicht“, sie kann aber auch ein aufmunterndes „Mach nur“ oder ein freundliches „Hallo“ verkünden. So bekommt die Hupe je nach Stimmung, Situation und Intonation komplett gegensätzliche Bedeutungen. „Das ist so was wie Oida“, sagt Jakob und „das verstehst du nicht“.

Angehupt wurde auch Herr B. Ich muss beinahe lachen, als es an diesem Prozesstag noch ein zweites Mal um einen Streit beim Autofahren geht. Den KFZ-Techniker schneidet ein anderes Auto, das aus der Tiefgarage kommt. B. muss eine Vollbremsung hinlegen. Er fährt dem Provokateur bis in eine Seitenstraße nach und stellt ihn dort zur Rede. Es eskaliert. Vor Gericht erklärt B.: „Wie er ans Auto getreten hat, da hab ich mich selbst verteidigt.“ Der Angriff gegen sein Auto wurde zum Angriff gegen ihn selbst. Die weiteren Umstände der Auseinandersetzung bleiben unklar. B.s Anwalt möchte weitere Zeugen hören. Der Prozess wird vertagt.

Wer spricht?

Ich treffe Jakob abends in der Kneipe. Ich erzähle ihm von dem Prozess und meinen Beobachtungen. Er nickt eifrig: „Der Straßenverkehr ist wie ein Wettkampf in einer großen Arena“. Es gehe darum, sich durchzusetzen. Ein Spiel zu spielen, Aggressionen und Männlichkeitsgehabe. Dazu kommt, dass fast jeder Mann sich selbst für den besten Autofahrer hält. „Für manche ist es wie im Fight-Club, bei dem man sich gegenseitig eins auf die Fresse gibt.“

Wir diskutieren und machen diesen Wettkampf im Straßenverkehr zu einer Allegorie auf das Leben – oder vielmehr auf das zwangsläufige Scheitern im Leben. Der Kampf im Straßenverkehr ist wie ein Spiegelbild der Ellenbogengesellschaft. Wenn man ein Überhol-Manöver gewinnt, ist das ein kleiner Erfolg, weil man sich durchgesetzt hat. Steht man im Stau, ist das eine Anspielung auf das ewige Warten am Arbeitsamt oder auf die ehrliche Chance, die niemals kommt. Und findet wiederum eine andere schneller die Parklücke, fühlt sich das an wie der Job, den die andere gekriegt hat. Das Scheitern in einer Gesellschaft, in der die große Mehrheit zu den Verlierer:innen zählt, ist natürlich die Binsenweisheit der funktionalen Effekte des kapitalistischen Systems. Die Spielregeln sind hart und unfair, und für viele ist vorprogrammiert, dass sie nur verlieren können.

Ich überlege, welche Wendung dieser Text noch bekommen soll. Soll es jetzt im Fazit um toxische Männlichkeit und patriarchale Strukturen gehen, mit denen wir alle – irgendwie – zurechtkommen müssen? Oder soll ich lieber den Gedanken zum Konkurrenzdruck im liberalisierten kapitalistischen System ausbauen, der die Menschheit zum Opfer seiner gewaltvollen Funktionsweisen macht? Während ich noch darüber grübele, muss ich erkennen, dass ich mit diesem Text und meinem Anspruch an mich selbst gescheitert bin. Das fühlt sich nicht richtig an: Ich maße mir an zu beschreiben und zu deuten, obwohl ich die Leute gar nicht kenne und von ihren Leben nicht mehr weiß, als was vor Gericht gesprochen wurde. Das alles sind vor allem meine eigenen Bilder, meine Assoziationen, meine Interpretationen, meine Projektionen – die natürlich zum Scheitern verurteilt sind.