MALMOE

Impfstoffe als globales öffentliches Gut?

Interview mit Anne Jung von Medico international

Die EU blockiert weiterhin den sogenannten TRIPS-Waiver, einen Antrag, die Patente auf Impfstoffe und andere Medizinprodukte zumindest während der Pandemie auszusetzen. Gleichzeitig fehlt es in vielen Ländern des Globalen Südens an lebensrettenden Impfstoffen, sie bleiben von Spenden abhängig. MALMOE hat mit Anne Jung, Referentin für globale Gesundheit und Leiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit von Medico international, über den großen Widerspruch, Gesundheit einer Marktlogik unterzuordnen, gesprochen.

MALMOE: Es ist jetzt über ein Jahr her, dass Südafrika und Indien im Oktober 2020 in der WTO den Antrag zum TRIPS-Waiver eingebracht haben. Im Mai kam die Zustimmung der USA, auch Australien und Neuseeland haben in der Folge eingelenkt. Der Vorschlag wird aber immer noch von der EU – und hier insbesondere von Deutschland – blockiert. Gerade wurde das WTO-Treffen wegen Covid-19 abgesagt, dennoch gehen die Gespräche weiter. Sind Sie optimistisch, dass die EU ihre Blockadehaltung aufgibt?

Anne Jung: Nach anfänglichem Optimismus muss ich sagen, dass ich inzwischen sehr ernüchtert bin. Die Europäische Union argumentiert, wir müssen die Lizensierung unter Zustimmung der Pharmaindustrie mehr vorantreiben. Es gibt viele Versuche, dieser Kernfrage auszuweichen. Ich würde mich natürlich gerne positiv überraschen lassen, aber im Moment deutet gar nichts darauf hin, dass der Waiver durchgeht, obwohl immer mehr Stimmen global sich dafür aussprechen. Selbst das Europäische Parlament hat die eigene Kommission aufgefordert, endlich diese Blockadehaltung aufzugeben.

Warum bleibt Deutschland, das in der Entscheidung eine Schlüsselrolle hat, in seiner Position hart?

Da muss man zwei Sachen in den Blick nehmen: Das eine ist, dass natürlich Deutschland ein wahnsinniges Interesse daran hat, eine Firma wie Biontech, die Steuereinnahmen in ungeahnter Höhe mit in die Staatskasse spült, hier zu halten. Die deutsche Regierung ist auch in den Verträgen, die sie mit Biontech und anderen Firmen geschlossen hat, der Pharmaindustrie maximal entgegengekommen. Obwohl öffentliche Mittel geflossen sind, haben sie den Abgabepreis nicht gedeckelt, sie haben sogar zugelassen, dass in den Verträgen der Export von überschüssigen Impfdosen untersagt ist, worauf sich jetzt auch Biontech unter anderem bezieht, wenn es um die Spenden für den Globalen Süden geht.
Aber ich glaube, darüber steht noch was anderes. Das Prinzip, Gesundheit unter einer Marktlogik zu betrachten, ist ja unter anderem in dem TRIPS-Abkommen festgeschrieben, das eben jetzt mit dem Waiver zumindest temporär außer Kraft gesetzt werden soll. Das Abkommen war schon umstritten, als es in den 1990er Jahren verhandelt wurde. Damals haben Expert_innen und politische Initiativen aus aller Welt vor der Gefahr gewarnt, dass die strenge Regelung zu Rechten des geistigen Eigentums zu hohen Medikamentenpreisen führen wird. Die Zustimmung zu dem Waiver würde dazu führen, dass die ganze Welt sieht, dass es ohne die Logik des Marktes in diesem Bereich besser funktioniert. Für die Bundesregierung ist es wichtig, den Kapitalismus gegen das Prinzip zu verteidigen, die Gesundheit als ein globales öffentliches Gut zu betrachten.

Man verschließt sich dem TRIPS-Waiver als Präzedenzfall?

Genau. Man muss sich ja klarmachen, eine temporäre Aussetzung eines in seiner Logik schon völlig verkehrten Abkommens bei der Welthandelsorganisation, das kann ja nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Das ist ja nicht mehr und nicht weniger als eine radikal reformistische Haltung, die weit entfernt ist von dem, was eigentlich unbedingt getan werden müsste: nämlich die Patente auf alle essentiellen Arzneimittel abzuschaffen – und zwar über die Pandemie hinaus.

Sie haben vorhin schon erwähnt, dass Biontech den Export überschüssiger Impfdosen blockiert. Die deutsche Regierung, die gegen den TRIPS-Waiver argumentiert, es brauche den Schutz von Rechten des geistigen Eigentums als Voraussetzung für wissenschaftliche Innovation, hat immer wieder dazu aufgerufen, man solle statt der Aussetzung der Patente die Covax-Initiative unterstützen, die Spenden an ärmere Länder für die Beschaffung von Impfstoffen bündelt. Ein weiterer Widerspruch?

Ja und nein. Das Problem ist, dass mit Covax eine Idee von Menschenrechten durch eine Idee von Hilfe ersetzt wird. Die armen Länder, die nicht genug Impfstoffe haben, sitzen da und müssen warten, bis man ihnen etwas schenkt. Sie können keine eigenen Produktionsanlagen aufbauen, sie haben keine Möglichkeit, eigenständig und autonom zu handeln, im Interesse des Schutzes ihrer eigenen Bevölkerung. Das wird ihnen versagt. Covax ist so eine Art moderner Ablasshandel, um diese strukturellen Fehler und dieses ganz objektiv falsche politische Handeln wenigstens noch mit so einem Mäntelchen der Gnade zuzudecken. Ich finde das im Moment wahnsinnig deprimierend zu sehen, dass die Politik der künstlichen Verknappung – und nichts anderes ist ja die Weigerung der Aussetzung der Patente und eines dringend benötigten Technologietransfers – jetzt dazu führt, dass man das gegeneinanderstellt. Die Bild-Zeitung beispielweise titelte: „Biontech knapp: Zu wenig bestellt, zu viel gespendet“. Sozusagen: Man nimmt uns durch die Spenden den Impfstoff weg. Das ist das Ja in meiner Antwort. Natürlich muss man nun spenden, um den Zugang zu Impfstoffen zu erhöhen – was bleibt uns übrig?

Sie haben mit Medico die #MakeThemSign-Kampagne initiiert und mit anderen Organisationen ein breites Bündnis aufgebaut. Wie arbeitet diese Kampagne und an wen ist sie adressiert?

Es ist völlig klar, dass die deutsche Bundesregierung innerhalb Europas das Zünglein an der Waage ist. Deswegen ist das Ziel, den Waiver durchzusetzen, eigentlich zum Greifen nahe. Es müssen nicht noch hunderte von Regierungen überzeugt werden, sondern es gibt schon über 120 Regierungen, die bereit wären, das zu machen. Selbst Australien, das ja nun auch nicht gerade dafür bekannt ist, wenn man sich die Flucht- und Migrationspolitiken anschaut, besonders progressiv zu sein, hat zugestimmt. Die USA sind dabei. Das Europaparlament ist dafür; sogar gegen die Kommission. Deswegen ist klar, wenn Deutschland einlenkt, wird Europa den Antrag unterstützen. Die Europäische Union tritt bei der WTO als Block auf, nicht die Einzelstaaten. Deswegen ist es gerade jetzt wichtig, auch gegenüber der sich neu konstituierenden Bundesregierung nochmal den Druck zu erhöhen. Erst wenn eine gesellschaftliche Stimmung entsteht, wo der Druck auch gerade auf die neue Regierung stärker wird, zu sagen: „schwenkt da endlich um und zieht das durch“, kann sich etwas verändern. Im Moment habe ich eher den Eindruck, dass das Thema auch bei den Koalitionsverhandlungen ausgespart wird, weil die Grünen und die SPD natürlich genau wissen, dass das ein Thema ist, das mit einer absolut marktorientierten, privatisierungsfreundlichen FDP nicht zu machen ist.

Die öffentliche Debatte ist in Österreich und Deutschland stark von Impfgegner_innen dominiert. Das Thema der Impfgerechtigkeit in einer globalen Perspektive findet da kaum Gehör. Dabei ist das Misstrauen gegenüber Big Pharma auch ein wichtiges Motiv von Impfgegner_innen. Wäre das nicht auch ein Ansatzpunkt, das Vertrauen in Politik zu stärken, wenn hier Macht und Profite der Pharmafirmen eingeschränkt würden?

Absolut. Ich würde schon sagen, diese seltsame Situation, dass die Bundesregierung – und ich glaube auch die österreichische Regierung – noch bevor es überhaupt einen Impfstoff gab, immer gesagt haben, es wird hier niemals eine Impfpflicht geben, das war doch maximal ungeschickt! Wieso ist dieses Thema überhaupt aufgekommen? Ich glaube, dieses kategorische Ausschließen einer Impfpflicht hat das Misstrauen in den Impfstoff sehr gefördert. Gut gemachte Aufklärungskampagnen hat es nicht gegeben. Auch die intransparenten Verhandlungen mit der Pharmaindustrie zu machen und überhaupt die Intransparenz in Bezug auf die Verträge sind ganz schlecht, wenn es darum geht, Verschwörungserzählungen zurückzudrängen. Das ist aus meiner Sicht ein ganz großes politisches Versagen gewesen, das mit Sicherheit auch einen Beitrag dazu geleistet hat, warum die Debatte so polarisiert.

Der TRIPS-Waiver ist eigentlich die Minimalforderung für einen globalen, gerechten Zugang zu Impfstoffen. Auch Unterstützer_innen sagen, es braucht zusätzlich auch Technologietransfer. Sollte der TRIPS-Waiver beschlossen werden, welche weiteren Forderungen müsste man anschließen?

Die Weltgesundheitsorganisation, wo das Thema der Gesundheit ja eigentlich verhandelt werden sollte, hat wenige Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie einen wirklich guten Vorschlag gemacht und schon im Mai 2020 mit dem Technologiepool C-TAP ein Konzept für einen solchen Technologietransfer vorgelegt. Dass das Thema jetzt aber nicht dort, sondern in der Welthandelsorganisation verhandelt wird, ist schon mal Teil des Problems. Alle Industrienationen blockieren den Vorschlag, alle armen Länder sind dafür. Daran muss man wieder anknüpfen und die WHO darin stärken, diesen Technologiepool endlich in die Realität umzusetzen.
Das ist der zweite wichtige Punkt, den man bräuchte, um eine gerechte, kostengünstige und sichere Distribution des Impfstoffs für alle umzusetzen. Darüber hinaus geht es natürlich auch in der Pandemie um mehr als nur um Impfstoffe. Wir sehen, dass es längst eine Polypandemie ist, die Massenarmut hervorruft, weil die Menschen im Lockdown ohne soziale Absicherung völlig verelenden. Die medizinisch notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sind in sich selber tödlich. Da müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden, um diese globale Ungleichheit ebenso einzudämmen, wie das Virus selbst. Da geht es z. B. um Lieferkettengesetze. Damit es nicht mehr passieren kann, dass hier aufgrund eines Lockdowns H&M schließt und einen Wimpernschlag später Millionen Arbeiter_innen in Pakistan, Bangladesch und anderswo ihre prekären Jobs verlieren, sofort vor dem Nichts stehen und drohen, an Hunger zu sterben. Auch der Aufbau von Gesundheitssystemen als wichtigen Ort von Prävention und Aufklärung von Impfskeptiker_innen ist da noch zu nennen. All das sind Maßnahmen, die jetzt Hand in Hand greifen müssten. Leider wird im neuen Koalitionsvertrag das Thema Globale Gesundheit, und dass man eben Gesundheit nicht nur in nationalen Grenzen sehen kann, nicht einmal erwähnt. Es gibt keine Idee von Welt. Und solange sich das nicht ändert, gibt es leider auch aus meiner Sicht keinen Anlass, optimistisch zu sein.