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MALMOE

Kein Plan

Das Coronavirus SARS-CoV-2, die Krise und der Kapitalismus

Die nun im zweiten Jahr schwelende Corona-Krise hat außer der zufälligen Übertragung des Virus von Tier auf Mensch auch mehrere gesellschaftliche Ursachen. Eine davon ist die ideologische Vorherrschaft des Positivismus im akademischen System. Wie schon beim Insektensterben wurde suggeriert, keine Daten und kein Vorwissen zu haben und daher weitere Handlungsempfehlungen nur im Tausch gegen Drittmittel und Forschungsgelder „entwickeln“ zu können. So hatte der zum Chefberater Deutschlands aufgestiegene Virologe Christian Drosten zu Beginn der Pandemie tatsächlich die Wirksamkeit des Mundschutzes in Frage gestellt, gegen Schulschließungen und Lockdowns votiert und Hoffnungen auf eine Mutation des Virus in eine harmlosere Variante genährt. Die Verantwortung für politische Empfehlungen wurde seriell abgegeben mit dem Verweis auf Einzelwissenschaftlichkeit: Man sei Virologe und kein Epidemiologe. Die Flickschusterei des Positivismus, voneinander isolierte Fakten ohne interdisziplinäres Allgemeinwissen und ohne jede ethische Kompetenz zu bewerten, schlug in der Krise voll durch. Forschungsbedarf existierte in einem relevanten Feld: der Spezifik des Virus und damit der Entwicklung von Tests und Impfstoffen. Dahingehend haben die Virolog*innen ihren Auftrag übererfüllt: In Rekordzeit wurden mehrere Impfungen und Testvarianten entwickelt. Aus diesem respektablen Erfolg entsteht trotz aller globaler und nationaler Probleme bei den Impfkampagnen ein gewachsenes Vertrauen in das System und das epidemiologische Totalversagen konnte so kaschiert werden.

„You are to sit alone and walk alone“

Epidemiologie beruht auf zwei sehr einfachen Prinzipien: Geschwindigkeit und Konsequenz. Die Infizierten müssen rasch und konsequent isoliert werden. So konnte während der Pestepidemie in den Jahren 1483/84 der Arzt Konrad Schwestermüller ohne jede Kenntnis in Bakteriologie wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pest empfehlen. Noch bevor ein Mensch je das Plasmodium falciparium unter einem Mikroskop zu Gesicht bekommen hatte, wurden Sümpfe trockengelegt und so die Malaria regional ausgerottet. In Nigeria wiederum hatte die Ethnologin Laura Bohannan eine der letzten Pockenepidemien bezeugt: Angesichts der ersten eindeutigen Fälle ruft der Chief einen Lockdown aus: „You are to sit alone and walk alone. You shall visit none and speak to none.”

Und dass Masken vor Atemwegserkrankungen schützen, ist in Asien längst etabliertes Alltagswissen – das zu Beginn der Pandemie offenbar nur instrumentell „angezweifelt“ wurde, um den durch Kürzungen und Inkompetenz erzeugten Versorgungsnotstand mit medizinischem Mundschutz in den Krankenhäusern zu kaschieren. Später musste die Maskenpflicht dann umso mühsamer wieder etabliert werden.

Prävention wurde in der Anfangsphase durch Verzögerungsstrategien unterlaufen. Als das Virus in Europa ankam, stand fest, dass die Sterblichkeitsrate von Covid-19 allermindestens ein bis zwei Prozent beträgt – das wurde als Argument gegen „Panikmache“ verwendet, als wären ein bis zwei Prozent irrelevant. Dann wiederum wurde die Hypothese diskutiert, das Virus könnte längst in der Fläche verbreitet sein, unentdeckt und asymptomatisch. Dabei konnte man mit Laienwissen ausschließen, dass eine erst Ende 2020 erreichte, flächenhafte Durchseuchung mit dem isolierten Hotspot-Geschehen zu Beginn der Pandemie einhergeht.

Absolutismus des Wachstums

Wenn längst etablierte Institutionen wie die Quarantäne oder Atemschutzmasken in der Coronakrise immer wieder in schweren Geburten neu erfunden werden mussten, hatte das seine Ursache in dem Konflikt von Vernunft und Ökonomie, aus dem Ideologie entsteht, oder anders gesagt: harte Naturgesetze prallten auf irrationale, ökonomische Gesetze. Der Grund, warum keine Prävention betrieben wurde, war nicht mangelndes Wissen, sondern der Absolutismus des Wachstums unter der abstrakten Herrschaft der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Bürgerliche Ideologie hat primär eine Strategie: Verzögerungen von Einschränkungen, seien es Streiks, Lohnerhöhungen oder Quarantänemaßnahmen. Diese Strategie hatte Erfolg: Selbst nach dem ohne Notwendigkeit auf zwei Jahre hinaus prolongierten Geschehen geht es „der Wirtschaft“ als Querschnitt von Einzelkapitalien ganz gut.

In Deutschland folgte auf einen Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP) von -9,2 Prozent im zweiten Quartal ein Wachstum von +8,2 Prozent im dritten Quartal. In Österreich lautet nach einem Rückgang des BIP um -6,6 Prozent 2020 die Wachstumsprognose für 2021 wieder +2,3 Prozent und +4,3 Prozent für 2022. China hat als einziges Land sogar im Krisenjahr 2020 ein Wachstum von +2,3 Prozent verbuchen können. Der IMF (International Monetary Fund) erwartet für die gesamte Weltwirtschaft eine Erholung: von -4,4 Prozent Rückgang 2020 auf +5,2 Prozent Wachstum 2021. Auch die Milliardäre konnten profitieren: Ihre Zahl nahm konstant auf 2.189 zu, ihr Vermögen wuchs inmitten der schärfsten Krisenepisode zwischen April und Juli um 27,5 Prozent und erreichte 10.200 Milliarden US-Dollar.

Vor allem der Staatskonsum stabilisiert in der Krise die Wirtschaft in den reichen Staaten. Ein Resultat ist die Staatsverschuldung, die Krisen in gewissem Maße kontrollierbar macht – wenn Schwellenwerte nicht überschritten werden, die zu einem Vertrauensverlust führen. Für die EU liegt der Schnitt laut Wirtschaftswoche bei 87,8 Prozent knapp unter dem Schwellenwert von 90 Prozent. Dieser Schwellenwert sagt allerdings wenig über tatsächliche Stabilität und Wirtschaftsstärke aus. So hat Japan den weltweit höchsten Wert mit 266,18 Prozent, während Estland in Europa mit 18,5 Prozent die niedrigsten Staatsschulden aufweist. Jedoch wird auch für Japan 2021 nach moderaten -5,3 Prozent Rückgang ein Wachstum von 2,3 Prozent prognostiziert.

Unsichtbare Hände, sichtbares Chaos

Auch das war erwartbar: jeder Krise folgt ein neuer Schub der Rationalisierung, Zentralisierung und Intensivierung von Produktion. Die Hoffnung der ersten beiden Generationen von Kommunist*innen auf eine Weltrevolution begründete sich daher weniger aus der Naherwartung einer neuen ökonomischen Krise, als aus der wachsenden Organisationsfähigkeit von Arbeitenden. Erst Massenorganisationen konnten den Vertrauensverlust eines in die Krise geratenen Systems produktiv für die Rekrutierung von Unzufriedenen nutzen, indem sie diesen glaubhaft eine bessere Alternative versprachen. Wo sie das in der Krise nicht leisten konnten, wurde das reale Bedürfnis nach Solidarität der Massen dann vom Faschismus durch Surrogate wie „Volksgemeinschaft“ und „Nation“ angesprochen, verzerrt und in Angst und Zwang als Kitt der Gesellschaft verwandelt.

Nur der Akzelerationismus ist so zynisch oder so naiv, sich von Krisen einen Zerfall des Systems und einen durch magische Hand entstehenden anarchischen Neuaufbau einer freien Gesellschaft zu erhoffen. Ohne die Organisation einer größeren Zahl von Menschen wird jede Krise zum Turnierplatz der entfesselten Einzelkapitalist*innen. Wesentlich näher an der Wahrheit sind daher die Prepper, die den bürgerlichen Egoismus ernst nehmen: An einem chaotischen Ende des chaotischen Systems wartet zwangsläufig die Dystopie der unvermittelten Gewalt, aus der dann Feudalismus und letztlich Kapitalismus neu entstehen. Die Überwindung des Kapitalismus erfordert eine bestimmte Aufhebung, also einen bewussten, gesellschaftlichen Akt, oder anders gesagt: einen Plan, der eine bislang unbekannte Produktionsweise herstellt, die auf Vernunft, Freiheit und Gerechtigkeit basiert. Zu denken, dass ein Virus uns die unendlich schwierige Arbeit der Organisation und Massenaufklärung abnehmen würde, ist naiv.

Planlos und vernunftbefreit

Noch naiver sind nur jene bürgerlichen Ideologien, die sich versichern, „nach Corona“ würde man wirklich nachhaltiger wirtschaften und die Klimakatastrophe stoppen, möglichst aus dem Home Office heraus und dann eben mit grünem Wachstum. Das aber hat, genauso wie das nicht-grüne selbst, bei einer für Kapitalisten suboptimalen Wachstumsrate von 2 Prozent eine Verdoppelung der Wirtschaft (Fabriken, Straßen, Handel, Bauwesen, etc.) binnen 35 Jahren zur Folge. Dieses Naturgesetz kann kein bloß ideologischer Umschwung, kein „bewussteres“ Einkaufen ändern. Marktwirtschaft muss wachsen und Wachstum kann nicht „nachhaltig“ werden. Nationalstaaten können daher globale Krisen allenfalls sehr begrenzt (Walfang, FCKW) eindämmen. Für alle komplexeren Probleme – Klimakatastrophe, Genozide, Pandemien – verhält sich der globale Markt nach den egoistischen Vorgaben der stärksten Nationalökonomien. Die Wahrnehmung des Kapitalismus als „System“ ist dort falsch, wo sie einen bewussten Plan und Vernunft unterstellt. Diese Vernunft stellt sich allenfalls mittelbar und partiell her, etwa in der – in sich wiederum unvernünftig und ungerecht organisierten – Produktion von Impfstoffen, nie aber in einem Stopp des Wirtschaftswachstums zur Wahrung der langfristigen Ressourcenstabilität oder in Umverteilung der angehäuften Reichtümer.

The Hammer and the Dance

Auch wenn es länderspezifisch große Unterschiede gab: In der Krise versagte, was Marx den ideellen Gesamtkapitalisten nannte. Der ideelle bürgerliche Staat schränkt im durchschnittlichen Gesamtinteresse der meisten Einzelkapitalien deren partikulare Interessen ein. Dieses Bild ist jedoch selbst Ideologie des Staates, der Spielfeld der stärksten Marktteilnehmenden und ihrer Lobbys bleibt. Die Interessen der Arbeitenden spielen nur insofern eine Rolle, als sie als manipulierbare Konsument*innen oder Wählende in Erscheinung treten. Das individuelle Recht auf Unversehrtheit wurde den kurzfristigen Interessen der am besten organisierten Gesellschaftsteile untergeordnet – trotz der mehrheitlichen Zustimmung zu schärferen Maßnahmen.

So steuerten letztlich fast alle Industriestaaten auf das gleiche Modell zu: Eine Verlangsamung der Durchseuchung bis auf ein wirtschaftlich erträgliches Maß nach dem Modell „The Hammer and the Dance“. Auf einen Lockdown (Hammer) sollte das Abflachen der Infektionskurve erfolgen und diese dann auf einem langfristig niedrigen Niveau gehalten werden, das mit ständiger Feinjustierung stabil gehalten werden soll (Dance). Das Ziel war nicht die Ausrottung des Virus, sondern die Aufrechterhaltung der Funktionalität des Gesundheitssystems, die an der Zahl der Intensivbetten gemessen wird. Warnungen von Expert*innen vor der Einschleppung von britischen, brasilianischen und südafrikanischen Varianten des Virus mit der Mutation N501Y wurden ignoriert, so dass heute die britische Variante 88 Prozent der Infektionen in Deutschland ausmacht. Impferfolge können durchaus von künftigen Mutationen unterlaufen werden, je länger und je mehr Reservoirs das Virus halten kann.

Kostenfreie Auslagerung

Weite Teile der Wirtschaft konnten mit den zielsicher prognostizierten neuen Wellen offenbar besser leben als mit einem effektiven Lockdown. Die deutschen Industrie- und Handelskammern etwa agitierten auf regionaler Ebene im Interesse der jeweils größten Mitglieder gegen Maßnahmen. Auch wenn das eine prolongierte Krise durch ein ständiges Aufflackern immer neuer Wellen bedeutete: die Produktionsstraßen mussten so lange als möglich aufrechterhalten werden.

Hier kommt die Echtzeit des Kapitals ins Spiel: Das Kapital kann kaum länger als einen Tag, mit Mühe noch einige Monate, nur in den seltensten Fällen für einige Jahre oder Jahrzehnte im Voraus planen. In der paranoiden Struktur des Kapitals gelten Gewinne, die eingefahren sind und Eigentum, das von unten nach oben umverteilt wurde, als gesichert; alles in der Zukunft Liegende ist unsicher und vom Untergang bedroht. Daher riskierten die Fabriken und Großraumbüros auch bedenkenlos den endlosen Heimunterricht: Dieser konnte für die Industrie kostenfrei ausgelagert werden an die häusliche Sphäre, die nach wie vor mehrheitlich von Frauen getragen wird. So war die Pandemie Alltag des Kapitals, eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf Kosten der am schlechtesten organisierten Gesellschaftsteile.

Ökonomisch ausbeutbare Krisenangst

Es entbehrt also nicht einer gewissen Logik, aber auch Ironie, dass es ausgerechnet den aufgeklärten Subjekten vorbehalten blieb, nach staatlichen Eingriffen zu rufen. Während die, die den Vertrauensverlust als neu erfuhren, ins Wahnhafte abdrehten. Querdenker*innen waren der beste Beweis gegen den Akzelerationismus: ihre unbestimmte und ökonomisch ausbeutbare Krisenangst wurde künstlich angedreht von esoterischen Selbstvermarkterinnen. Seinen Ursprung hat dieses Verhalten nicht in einem mangelnden Vertrauen in das System, sondern in einem quasi übermächtigen Vertrauen. Das destruktive Chaos der freien Marktwirtschaft wird von den Anhängerinnen der Verschwörungsfantasien vollständig mit einem durchdachten, maliziösen Plan verwechselt. Demgegenüber fordern die Anhängerinnen von ZeroCovid und andere Humanistinnen gerade im Wissen um die chaotische Trägheit eines von zahllosen bürgerlichen Egoist*innen unbewusst hervorgebrachten Systems vor allem eines: Einen vernünftigen Plan.