MALMOE

Traum, Videospiel und Kapitalismus

Totally Pretentious – Der pseudomarxistische Gaming-Block: „Games are more like dreams than they are like books or movies.“ (Alfie Bown, The PlayStation Dreamworld)

Im Boden gibt es unsichtbare Löcher, durch die Körper in die unendlichen Tiefen des Nichts fallen. Denn der Raum unterhalb des Terrains, auf dem man wandelt, ist in Videospielen meistens leer. Das Durch-den-Boden-Fallen ist ein banales Phänomen, das den meisten Spieler_innen durch die Häufigkeit von Fehlern in der sogenannten Kollisionserkennung wohlvertraut ist. Gleichzeitig kann man es als eine fast übernatürliche Erscheinung betrachten, eine Fehlfunktion, die den Hyperrealismus des Spiels zerbrechen lässt und den Spielenden einen Blick in die Unterwelt des Spiels ermöglicht: eine gruselige und jenseitige Erfahrung.

Dies ähnelt dem archetypischen Albtraum vom Sturz in eine endlose Leere. Die meisten Menschen erleben in ihrer Pubertät eine Variante dieses Traums, und er spiegelt sich fast genau so im Videospielkosmos wider: Man lässt die „normale“ Welt hinter sich und reist in einen schier grenzenlos erscheinenden abstrakten Raum. Die Spielenden fallen, ohne jemals unten anzukommen. Es ist eine Art Albtraum, der zugleich magisch und erschreckend ist. Doch wenn Fehler in Spielen albtraumartig sind, kann es nicht auch umgekehrt so sein, dass das Spielen wiederum das Träumen beeinflusst?

„Often I dream about what I saw in the video game. That’s normal, all players know that“, sagt Cyril, der Protagonist aus Antoine Chapons Film My Own Landscapes (2020) – und wir können ihm auf Basis unserer eigenen Erfahrungen nur zustimmen. Spiele beeinflussen unsere Traummuster und -inhalte. Die Forschungen von Jayne Isabel Gackenbach deuten jedoch darauf hin, dass dieser Einfluss nicht unbedingt negativ sein muss. Vielmehr scheinen Menschen, die regelmäßig Videospiele spielen, seltener Albträume zu haben und es fällt ihnen anscheinend leichter, sich ihren geträumten Ängsten zu stellen und diese zu überwinden – genauso wie in dem oben genannten Film.

Die Traumhaftigkeit der Erfahrung in Games konstruiert sich in Differenz zur Normalität. Videospiele – so ein gängiges Erklärungsmodell – bieten Zuflucht vor der Prekarität und den Ungewissheiten der realen Welt. Die gespielte Traumwelt wäre also als Gegenteil zur „normalen“ Realität zu verstehen, die uns von den Tatsachen ablenken und einen sicheren Rückzugsort bieten kann. Genauso gut könnte es aber auch umgekehrt sein: Was wir im wachen Zustand verdrängen, kehrt zu uns in geträumter (oder gespielter?) Form zurück. Angesichts prokrastinierter Ängste, andauernder Krisen und einer Weltwahrnehmung, in der der naturalisierte Kapitalismus die Wurzel vieler dieser Probleme unsichtbar macht (nämlich sich selbst), in so einer Wirklichkeit stellt sich die Frage, ob nicht der Traum der Realität näher sein kann als der Wachzustand.

Handlungsmächtig träumen

Ähnlich wie bei luziden Träumen, bei denen die träumende Person sich des Träumens bewusst ist und aktiv in das Traumgeschehen eingreifen kann, steuern Spieler_innen ihre Figur durch die virtuelle Spielwelt. Tatsächlich beschreiben Spielende, dass nach exzessivem Spielen Realität, Traumwelt und Videospiel ineinander übergehen, und dass es ihnen überall möglich war, Handlungsmacht auszuüben.

Digitale Spiele machen sich die Ängste und Unsicherheiten der Spielenden zunutze, indem sie diese in spielbare Spannung verwandeln. Albträume erreichen ihre erschreckende Qualität, sobald das Verborgene und Verdrängte die Kontrolle übernimmt und eine Konfrontation erzwingt. Spiele und Träume können sich in der Verarbeitung aktueller Probleme also recht ähnlich sein – allerdings können Spiele diese Konfrontationen oft auch ganz bewusst inszenieren, während die Spielenden zur selben Zeit die Kontrolle behalten.

Und doch ist die in Videospielen erlebte Handlungsfähigkeit nur eine Illusion, deren Zerbrechlichkeit aus Design-Entscheidungen sowie technischen und erzählerischen Einschränkungen resultiert. Diese versucht einerseits durch ein visuelles Spektakel, Immersion zu erzeugen (hierin werden Spiel und Film vergleichbar), was allerdings die Handlungsfreiheit einschränkt. Andererseits bietet sie nur eine gewisse Anzahl an Erzählsträngen und keine unbegrenzte Entscheidungsfreiheit.

Wenn die Illusion der Handlungsfreiheit versagt, werden die Spielenden in die Position von Zuseher_innen zurückversetzt und die Identifikation mit dem Avatar unterbrochen. In Träumen hingegen wird die Identifikation mit dem Selbst – außer in luziden Träumen – selbst dann nicht unterbrochen, wenn das Szenario bei Lichte betrachtet äußerst unglaubwürdig ist.

Träumende, Zombies, NPCs

In seinem Buch Wir Untoten des Kapitals: Über politische Monster und einen grünen Sozialismus verwendet Raul Zelik die Metapher des Zombie, um zu argumentieren, dass die Subjekte im Spätkapitalismus in einem System leben, in dem sie weit willensschwächer und ferngesteuerter funktionieren, als sie sich dessen bewusst sind: „Immer häufiger fühlen wir uns als seelenlose Avatare“, schreibt er, denen zwar dauernd gesagt werde, dass wir die einzigartigen Hauptdarsteller_innen seien, die aber keinen Einfluss auf die Regeln des Spiels haben.

Zelik erinnert daran, dass der Zombie als Figur zuerst in der haitianischen Kultur auftauchte. Lange war der Ursprung in der Voodoo-Religion vermutet worden: Zombies als die Opfer haitianischer Hexer, die Menschen mittels Drogen in einen todesähnlichen Zustand versetzen und somit kontrollieren können. Tatsächlich waren es aber keine Voodoo-Priester, die die Menschen auf Haiti ihres Willens beraubten, sondern weiße Unternehmer, die mit dem Anbau von Zucker und der Ausbeutung von Menschen Rendite erwirtschafteten. Von der Arbeiter_innenschaft über die Mitglieder der sogenannten Laptop-Klasse bis hin zu den CEOs sind wir heute in gewisser Weise alle zu Zombies geworden, die – weniger brutal als zu Zeiten der Sklaverei, aber systemisch um nichts weniger effektiv – nach einem neoliberalen Algorithmus schuften. Ganz ähnlich den NPCs (Non-Player Characters) in Computerspielen, die in endlosen Schleifen vorcodierter Routinen vor sich hin arbeiten, ohne es in Betracht zu ziehen, Widerstand zu leisten.

Um Ungehorsam zu unterdrücken, propagiert die liberale Ideologie den Mythos der Freiheit und der Handlungsmacht über die eigene Existenz. Hier wiederum gibt es eine Ähnlichkeit zu Open-World-Videospielen, die es vermögen, in uns ein Freiheitsgefühl zu evozieren, während wir tatsächlich nur den Regeln des Spiels und den Absichten der Entwickler_innen folgen. Unser Handlungsspielraum ist stark eingeengt und doch fühlen wir das genaue Gegenteil.

Aufwachen in Night City

Ein Mitglied von Total Refusal erfuhr eine regelrechte Post-Game-Depression, als er nach der Beendigung des Spiels Cyberpunk 2077 in die reale Welt zurückkehrte. Das ist insofern bemerkenswert, als dass dieses Spiel eine ordoliberale Dystopie entwirft, eine hyperreale und hoch-ästhetisierte Zukunftsvision unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Wie auch andere Unterhaltungsmedien haben Videospiele das Potenzial, unsere Probleme zu ästhetisieren und konsumierbar zu machen. Im Spiel dienen die gewalttätige Polizei und die privaten Wachdienste sowie deren Antagonisten als willkommene Hindernisse. Wenn wir Zeugen brutaler oder ungerechter Folgen von Polizeigewalt und Überwachungspolitik werden, können wir diese Erfahrungen in Spielen wie Cyberpunk 2077 verarbeiten, indem wir uns einfach zur Wehr setzen. So begeben wir uns in eine künstliche Konfliktsituation, um die Perspektivlosigkeit in der Auseinandersetzung mit dem physisch Realen auszublenden.

In Night City, der Stadt in Cyberpunk 2077, kann man „Braindances“ (BDs) konsumieren, die im Grunde das sind, wovon die VR-Technologie heute nur träumen kann. Menschen sitzen in Bars oder Clubs und mieten die virtuelle Wiedergabe einer realen Lebenserfahrung einer anderen Person, die sie komplett immersiert nacherleben. Es gibt „legale“ BDs mit Schauspieler_innen und Serien; auf dem Schwarzmarkt sind aber auch „XBDs“ erhältlich, die einen etwa miterleben lassen, wie jemand gefoltert oder getötet wird.

In Night City haben es die Märkte geschafft, für das ultimative Stimulationserlebnis in die Gehirne der Menschen einzutauchen und selbst die hinterste Gehirnregion kapitalistisch verwertbar zu machen. Wenn man sieht, wie Elon Musk heute stolz einen Neuralink-Chip vorstellt, der nicht nur die neuronalen Aktivitäten in den Gehirnen von Schweinen ausliest, sondern in Zukunft auch umgekehrt Informationen an ihre Gehirne übermitteln soll, klingt die schon in den 1980ern erdachte Cyberpunk-Welt geradezu prophetisch.

Während Videospiele einerseits kapitalistische Welterzeugungsmaschinen sind, die uns Marketing-gesteuerte Traumexile liefern, bieten sie uns gleich den Träumen virtuelle Orte, in denen wir einen begrenzten Raum für die Erfahrung von Handlungsmacht haben. Dabei gibt es stets ein Spannungsfeld zwischen dieser vermeintlichen Souveränität und dem vorgegebenen Handlungsrahmen, der uns, wenn wir uns dessen nicht gewahr sind, einer Illusion erliegen lässt, die uns wie Zombies in der Maschinerie des Kapitalismus oder NPCs in der Welt der Videospiele erscheinen lässt. Anstatt wie ein Zombie-NPC zu sein, welcher der Handlung des eigenen Traums willenlos ausgesetzt ist, kann der/die träumende Gamer_in die Souveränität seines/ihres Traum-Avatars genießen. Dieser fantastische Traum der maximalen Selbstbestimmung erscheint fast schon poetisch, vor allem angesichts der Tatsache, dass wir jeden Tag in einer Welt aufwachen, in der Kapitalismus auf unser Unbewusstes abzielt, ja die Traum- und Wunschproduktion sogar ein Herzstück der spätkapitalistischen Wirtschaftsweise bildet.

Im Grunde geht es also um dasselbe: Sowohl Videospiele als auch Träume müssen aus der kapitalistischen Durchdringung zurückgewonnen werden.

Ausgangspunkt für diesen Text ist ein Interview von Matteo Bittanti mit Total Refusal, in dem es um unseren Film Featherfall geht. Bittanti verdanken wir neben vielen Anmerkungen, auch das einleitende Zitat.