MALMOE

„Wait a momemt before kill …“

Über die Beschränktheit digitaler Welterfahrung

Nach oben hin wölbt sich eine Skybox oder ein Skydome in dynamischen Schichten über die Spielenden. Zu den Seiten hin sind Tapeten mit aufgemalten Skylines, Bergen oder Ozeanen montiert. Die faszinierende Open World, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken scheint, ist der unsrigen in verblüffender Weise nachempfunden und übersteigert diese sogar – ein Pastiche der Erde, also eine Nachahmung, die ihre Vorlage imitiert und verfremdet. Und dennoch sind die Welten vieler Videospiele in Wirklichkeit flach wie eine Pizza und erinnern eher an frühantike als an spätkapitalistische Welterzählungen. Aus der Enge dieser scheinbar grenzenlosen Welt gibt es kein Entkommen, denn jenseits der begehbaren Spielkarte gibt es nichts als einen unendlichen, digitalen Abgrund: Hinter den blauen Bergen liegt ein leerer, seelenloser Kosmos, der nicht für die Augen der Spielenden bestimmt ist.

Selbst wenn man sich in einen Vogel verwandelt oder in einem fliegenden Objekt sitzt, so gibt es meist eine gläserne Decke, die dafür sorgt, dass die mit Himmelszyklen bemalte Weltengrenze nicht durchstoßen werden kann. Gefangen im Wirtskörper des Avatars und in der Käseglocke einer vermeintlichen Open World gibt es kein innererzählerisches Entkommen aus dieser Welt. Denn Spielweise und Regeln, die den Handlungsraum subtil kanalisieren, werden streng vom Algorithmus überwacht. Zumeist unbemerkt leitet dieser die gefühlte Freiheit der Spielenden und wirkt dabei immanent politisch, etwa wenn auf Verbündete oder Kinder nicht geschossen werden kann oder wenn das lautlose Sedieren eines Feindes belohnt wird, nicht aber der brutale Mord. Sind Ideologien prinzipiell innerhalb einer westlichen liberal-konsensuellen Postmoderne gläsern geworden, so sind Medien wie Videospiele deren sich unideologisch gebende Wertefabriken. Und da diese Werte hier meist innerhalb eines Kriegssettings ausverhandelt werden, bleibt als Ausweg aus dem digitalen Glaskasten meistens nur die Fahnenflucht.

Desertieren als gesellschaftliche Produktivkraft

Das Desertieren ist in den meisten Kriegsspielen nicht vorgesehen, denn ihr Algorithmus kennt nur Freund und Feind als unveränderliche Kategorien. Als rote oder blaue Punkte auf der Minimap gekennzeichnet, erübrigt sich nicht nur jede Form der Verständigung zwischen den Kriegsparteien, auch die Grauen des Kriegsgeschehens werden selten ausgemalt. Eine ambivalente Figur wie der_die Deserteur_in, die für die Verweigerung der vorgesehenen Kriegshandlung steht, hat in dieser Erzählung keinen Platz.

Und das, obwohl das Desertieren so alt ist wie das Kriegsführen selbst – und der innermilitärische Widerstand stets die Art und Weise beeinflusste, wie Kriege geführt und gedacht werden konnten. Die Fahnenflucht sorgte dafür, dass ein immer umfassenderer militärischer Überwachungs-, Straf- und Motivationsapparat entstand, der für das „Funktionieren“ der Soldat_innen im Krieg sorgen sollte und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hatte. Die Ideologie des Nationalismus etwa verbreitete sich mitunter deswegen so schnell, weil sich Europas Eliten davon eine Abhilfe für das grassierende Desertionsproblem ihrer Zeit versprachen.

Die Sozialgeschichte des Krieges lässt sich also genauso gut anhand der am Schlachtfeld kämpfenden Soldat_innen erzählen wie anhand der davongelaufenen Fahnenflüchtigen. Und dennoch steht die normative, hegemoniale Lesart vom Krieg immer noch auf der Seite der Gehorsamen und kaum jemals auf der ihrer sogenannten Kameradenschweine. „Normal“ erscheint nicht das Zögern und Flüchten, sondern die akkurat ausgeführte militärische Tat.

Zeitgenössische Kriegsspiele, wie etwa Battlefield V (2018), erzählen Krieg nach einem ähnlichen Muster. Sie machen Krieg konsumierbar und unterhaltsam und sparen moralische Ambiguitäten in der Regel aus. Dabei stößt man an die Grenzen der digitalen Möglichkeiten, sobald man sich nicht an das vorgesehene Gameplay hält. Wer etwa das Schlachtfeld verlassen will, erhält zuerst eine Warnung: „Soldier, return to the combat area immediately!“ Wer dennoch weiterläuft, wird durch die Software exekutiert und es erscheint die Einblendung „Deserting“. Ein Entkommen aus dem digitalen Schlachtfeld ist nicht einprogrammiert.

Im Spiel sind die Möglichkeiten pazifistischen Handelns überhaupt stark beschränkt. Wer etwa auf die Idee kommen sollte, mit den gegnerischen Soldat_innen Frieden schließen zu wollen, wird schnell bemerken, dass gar keine Kommunikationswege für ein solches Unterfangen zur Verfügung stehen.

Einem derartigen Anliegen liegt ein absurdes Moment inne, schließlich würde sich mit einem Waffenstillstand gleichsam das Ziel des Spiels in Luft auflösen. Ein Friedensschluss in Battlefield V wäre also genauso abwegig wie ein Friedensschluss in Schach. Die soziale Relevanz dieser Beobachtung ist vielmehr in dem Umstand zu suchen, dass Videospiele sehr gut darin sind, die Beschränktheit ihrer Welterzählung unsichtbar zu machen. Die vor Effekten strotzende „ultimate experience“ des Gameplays vertuscht die Enge des Handlungsraums. Die Spielenden können sich frei und unabhängig fühlen, obwohl ihre Umgebung maximal determiniert ist. Das liberale Paradoxon, verdichtet im digitalen Schlachtfeld.

Hegemoniale Erzählungen: Krieg und Kapitalismus

Die Norm, welche die spielerische Welt begrenzt, wird erst dann sichtbar, wenn sie gebrochen wird. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt die vermittelte Realität unhinterfragt, normalisiert sich dadurch und erscheint hyperreal. Die Mechanismen der Normalisierung reichen dabei nicht lediglich ins Medium Videospiel hinein; das Spiel ist vielmehr eines ihrer primären Medien, in dem sich die Funktionsweise hegemonialer Erzählungen beobachten lässt.

Als hegemonial wird ein Leitsystem dann verstanden, wenn seine Werte nicht offen ausartikuliert, sondern vorausgesetzt werden und sich autopoetisch – wie biologische Zellen aus sich selbst heraus – entwickeln. Genau hierin begründet sich die Stabilität solcher Systeme. Der Kapitalismus etwa konnte nur deshalb zu einem hegemonialen System werden, weil er sich kritische Diskurse aneignet und einverleibt, (im politischen Mainstream unverhandelte) gemeinsame Werte voraussetzt und so die Vereinbarkeit zwischen System und Systemkritik wahrt. Wenn es heißt, der Kapitalismus kenne keinen Außenraum, dann meint dieser Außenraum zum einen also eine ihn umgrenzende Sphäre, in der seine grundlegenden Werte zur Verhandlung stehen. Zum anderen bedeutet das aber auch, dass es nicht nur keinen Raum, sondern auch keine Form gibt, in der diese Kritik noch effektiv erfolgen kann.

Denn erstens geht der Erfolg des Spätkapitalismus Hand in Hand mit der Blüte postmoderner Kommunikation, deren primäre Funktion in der Erzeugung symbolischer Schwingungen denn in ihren konkreten Inhalten liegt. Dementsprechend ist die politische Form des Kapitalismus die Symbolpolitik – eine Politik also, die sich in erster Linie damit befasst, welcher ästhetische Wert dem Vertreten bestimmter Positionen inneliegt. Zweitens unterliegen selbst die medialen Formen der Systemkritik den Parametern kapitalistischer Konsumlogik, es lässt sich nämlich nur schwer sagen, wie weit das radikale Potenzial eines Fernsehabends mit Michael-Moore-Dokus und veganer Pizza reicht.

Analog zum hegemonialen Apparat ist das Spiel als Regelsystem dann am effektivsten, wenn es Ungehorsam nicht bekämpft, sondern die Voraussetzungen schafft, die Entscheidung für das Einhalten der Spielregeln vermeintlich an die Spielenden auszulagern.

Wenn die Fahnenflüchtigen in Battlefield V beim Verlassen der Schlachtfeldgrenzen erschossen und zurück in den Kampf geworfen werden, bekräftigt das Spiel zwar seine eigenen Grenzen und wahrt somit den ungestörten Ablauf des Gameplays, legt diese Grenzen aber auch offen. Selbstverständlich bedarf das Gameplay – wie vermutlich alle Regelsysteme – eines Einverständnisses hinsichtlich grundlegender Werte und Normen: Die ästhetische Würdigung des Krieges auf der inhaltlichen und den gesellschaftlichen Wert des Wettkampfs auf der strukturellen Seite – und diese Werte sollen nicht Produkt einer Reflexion, sondern Selbstverständlichkeit sein. Farbige Markierungen im User Interface kanalisieren die Spielenden ab der ersten Spielsekunde in den Kampf – es bedarf hier also keiner Erklärung, dass, wo, gegen wen und wofür ein Kampf ausgefochten wird. Punktebewertungen jeder Spielhandlung quantifizieren den Wert jedes Teammitglieds und verdeutlichen den Modus des Wettkampfs. Der Hyperrealismus wird hier als Medientechnik verstanden, die es vermag, das vereinfachte Narrativ des Spiels als Realität zu vermitteln und Krieg als ästhetischen Genuss zu inszenieren.

Desertieren im Spiel als konterhegemoniales Handeln

Um Brüche dieser Unterhaltungs-Frames herzustellen, muss der Regelbruch im Spiel riskiert werden. Im kriegerischen Grundsetting der meisten Spiele bricht die Verweigerung der Kriegshandlung mit der basalen Grundlogik des Spiels und testet den spielerischen Handlungsraum aus. Doch das ist nicht einfach, denn es handelt sich beim Code eines Videospiels zwar um eine gesellschaftlich gebaute Konstruktion und ein menschengemachtes Regelwerk, seine Einhaltung wird aber digital überwacht.

Im Englischen existiert die Unterscheidung zwischen Game and Play, zwischen dem mit strengen Regeln begrenzten Fußballspiel und dem spontanen Hin- und Herwerfen eines Balls. Die digitale Fahnenflucht macht aus dem Game ein Play: Es wird nicht einfach das Spiel gespielt, sondern es ist ein Spiel mit dem Spiel. Die Spieler_innenschaft, genauso wie Künstler_innen, ist fasziniert von den sich daraus ergebenden Möglichkeiten, Risse innerhalb des Scripts oder der Welt zu finden, loopholes auszuspähen, sprich: Logiken zu umgehen oder offenzulegen. Diese Herangehensweise mit dem Medium findet in unzähligen Youtube-Videos Ausdruck und macht sich dabei lustig über den heiligen Ernst des Spiels. Legendär ist etwa der Tauren-Druide Irenic, der in World of Warcraft durch bloßes friedliebendes Kräutersammeln Level 90 erreichte und damit die Logik der Soldat_innenkarriere durchbrach. Andere Spielende verändern den Code, um den Krieg zu untergraben, wie der Mod TheBeautifier von GenghisKhanX, der die genrebildende Waffe von Fallout 4 in ein Gartengerät verwandelt, bei dem anstelle von Bleikugeln Blumen und Bäume aus dem Lauf schießen.

Anschaulich ist auch die Intervention Freedom der Künstler_innen Eva und Franco Mattes (2010), bei der sie in Counter-Strike den Kriegsdienst verweigern. Anstelle der Waffe bedienen sie sich des Chats, wo sie ihre Absicht zu artikulieren versuchen. Doch das klappt oft nicht: „Please wait a moment before kill …“, sieht man sie tippen. Zum Hinweis „This is an art project“ kommt es meist gar nicht. Die Verweigerungshaltung erzeugt eine soziale Dynamik im Spiel: Ein_e Spieler_in versucht die Künstler_innen zu schützen und ruft in den Chat „They making an art performance, don’t shoot!“ Eine andere Person empfindet die Intervention als störend und schreibt: „Ok dude, if you just an artist then go play and paint.“

John DeLappe wiederum, der Posterboy der Game Art, macht es sich zur Hauptaufgabe, den Ernst des Krieges gegen den des Spiels zu stellen und dieses damit zu verderben. Bei der Online-Performance Dead-in-Iraq (2006–2011) stört DeLappe das US-amerikanische Kriegspropagandaspiel America’s Army (2002). Bei jedem Kill läuft er zum erschossenen Avatar und tippt die Namen gefallener GI-Soldaten des zu dieser Zeit tobenden Krieges, in Summe sind es 4484, in den Chat. Manchmal werfen ihn die anderen Mitspielenden mit einem Vote-Kick – einer Abstimmung über das Entfernen eines Mitspielenden – aus dem Spiel. Das ist nicht Fahnenflucht per definitionem, auch wenn er sich somit aus dem Krieg entfernt, sondern Sabotage eines realen Kriegsmittels. Der Künstler wird zum Spielverderber – und in diesem Fall zum Friedensaktivisten am digitalen Schlachtfeld.

Fazit

Es ist in Ordnung, Krieg zu spielen, denn wo sonst gehört er hin, wenn nicht in den Zauberkreis eines Spiels? Und ein Spiel benötigt strenge Regeln, um zu funktionieren. Dass bei der Kriegserzählung im Computerspiel Ambivalenzen meist ausgespart bleiben, um ein möglichst zugängliches Gameplay anzubieten, verkennt jedoch das erzählerische Potenzial des Mediums.

Daher ist es bedauerlich, dass der Ungehorsam, der etwa in Form von Massendesertationen und Streiks am Ende des Ersten Weltkriegs demokratische und soziale Utopien hervorbrachte, nicht nur in den meisten Geschichtsbüchern, sondern auch in den Erzählungen des Mediums ausgespart bleibt. Und es ist umso bedauerlicher, dass zentrale staatliche Institutionen wie der Militärdienst oder das Schulwesen strukturell den Opportunismus belohnen und nicht den kritischen Ungehorsam.

Diesem Artikel liegt die Recherche zu dem Film How to Disappear zugrunde, bei dem wir die Möglichkeiten des militärischen Ungehorsams im Spiel Battlefield V austesten. Bei Interesse senden wir gerne einen Screening-Link (Kontakt: robin@mur.at)