MALMOE

Kanakisierung 
aller Verhältnisse

Postmigrantische Perspektiven auf die deutsche Vereinigung, neue Formen der Solidarität und Konzepte der Erinnerung gibt es jetzt in einem Buch versammelt

Pünktlich zum 30-jährigen Jubiläum der deutschen Vereinigung, das eigentlich niemand feiern wollte, kam im Oktober vergangenen Jahres der Sammelband Erinnern Stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive heraus und wird seither „über den grünen Klee gelobt“, wie Mitherausgeber Massimo Perinelli unbescheiden sagt. Zurecht, finden auch wir von MALMOE und haben mit ihm und Lydia Lierke, ebenfalls Herausgeberin, über ihr Projekt, zukünftige Praktiken der Solidarität und postmigrantische Formen des Erinnerns gesprochen.

MALMOE: Das Buch ist nun seit fünf Monaten im Umlauf. Welche Reaktionen habt ihr darauf bisher bekommen?

Lydia & Massimo: Das Buch ist zu einem Zeitpunkt herausgekommen, an dem eine Vielzahl von Initiativen in Deutschland – unabhängig von uns – damit angefangen hatten, sich mit „unserem“ Thema zu beschäftigen. Es laufen viele Stränge zusammen, aus unserer Wahrnehmung heraus insbesondere aus einer migrantischen ostdeutschen Perspektive. Es wird hier also aus ganz verschiedenen Positionen heraus gesprochen. Am Ende formt sich daraus ein übergreifendes Narrativ – eine Wahrheit, haben wir auch dazu gesagt. Und genau diese Art, sich aus den unterschiedlichen Perspektiven zueinander in Bezug zu setzen, wie es in den Beiträgen passiert, ermöglicht, einen Raum der Solidarität zu schaffen. Wir glauben, das ist genau das, was viele Leute grade versuchen. Daher kommt auch die Beschäftigung mit den Theorien von Michael Rothberg und seines Begriffs der „multidirektionalen Erinnerung“, mit dem wir ebenfalls arbeiten.

Neben dem Buch gibt es auch ein Webarchiv zum Projekt. Inwiefern spielen hierbei Form und Inhalt einander zu?

Mit unserem Buchprojekt fangen wir ja nicht bei Null an. Den Ausgangspunkt gab es schon vor einigen Jahren, als wir Leute, die zum Thema arbeiteten, zu einem runden Tisch in Berlin einluden. Die machten Filme, Ausstellungen, alles Mögliche. Wir haben damals gemerkt, dass diese Geschichten sich bereits Gehör verschafften – sie müssen nur noch versammelt, kontextuell aufbereitet und miteinander ins Gespräch gebracht werden. Wir wollten daher einen Ort schaffen, an dem die unterschiedlichen Projekte sichtbar werden – ein Archiv des migrantischen bzw. jüdischen Wissens zum Mauerfall als historische Zäsur. Das Webprojekt wächst stetig und ist sehr flexibel, während das Buch noch in zehn Jahren in die Hand genommen werden kann. Im Buch werden die Beiträge durch uns und die Autor*innen in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt. Die Reihenfolge ist dabei nicht zufällig. Wir haben auch mit zwei Illustratorinnen zusammengearbeitet, deren visuelles Narrativ sich als roter Faden durchzieht. Das Webprojekt dagegen ist eher ein Nebeneinander. Aber das ist genauso wichtig. Zur selben Zeit, als das Buch entstanden ist, ist in Ostdeutschland noch etwas passiert: Ganz ähnlich wie damals bei Kanak Attack und den erwachsen gewordenen Kindern der sogenannten Gastarbeiter*innen Anfang der 2000er-Jahre hat jetzt eine jüngere Nachwendegeneration selbstbewusst die Bühne gestürmt. Diese jungen Menschen haben den Diskurs zum Tanzen gebracht. Auf einmal haben sie Sprechpositionen eingenommen, die sie vorher nicht hatten, haben Geschichten ihrer Eltern erzählt, die sie selbst noch gar nicht kannten. Und auch das öffentliche Interesse war auf einmal da. Es passiert nochmal etwas Ähnliches wie vor etwa 20 Jahren und das macht es so produktiv, dass wir als Herausgeber*innen auch biografisch für diese beiden Generationen stehen.

Das Buch ist eine Gratwanderung zwischen Theorie und Praxis. Persönliche Erfahrungen sind genauso eingeflochten wie theoretische und analytische Konzepte. In vielen Beiträgen fällt auf, dass ein Aspekt des Postmigrantischen betont wird, nämlich, dass Konfliktlinien „entmigrantisiert“ werden müssen. Es werden also verschiedene (linke) Kämpfe nicht mehr durch die Brille der Migration gesehen, sondern als das, was sie sind: strukturell bedingt. Bedeutet postmigrantisch zu agieren also auch immer, antikapitalistisch zu agieren?

Über Migration wird ganz viel verhandelt, was eigentlich nichts mit Migration zu tun hat, eben auch alle möglichen Exklusions-, Unterdrückungs- und Ausbeutungslinien. Wenn man den postmigrantischen Zugang ernst nimmt, sehen wir einerseits, dass Migration als Chiffre funktioniert, über das gesellschaftliche Konfliktlinien externalisiert werden sollen. Andererseits eröffnet uns der Begriff des Postmigrantischen aber auch die Möglichkeit zu verstehen, dass aus der Migration all diese Linien auf eine progressive Weise herausgefordert wurden. Daher sagen wir Entmigrantisierung der Migration und Migrantisierung bzw. Kanakisierung aller Verhältnisse. Es ist ein offenes Konzept, das Solidarität erzeugt, und das gilt natürlich für alle Bereiche. Das heißt, es geht hier um eine Haltung gegenüber der Gesellschaft, die nicht identitär ist, weil sie alle mitdenkt, auch wenn sie ihren Ausgang von den Kämpfen der Migration nimmt. Und natürlich waren die migrantischen Kämpfe immer Klassenkämpfe. Die überflüssig gewordenen Arbeiter*innen aus dem europäischen Süden wurden aus den Fabriken rausgeschmissen, sollten weg. Dann blieben sie aber, bauten sich langsam ihre eigene Ökonomie auf, schafften es – wie in der Keupstraße in Köln – Geschäftsstraßen und Kieze zu errichten. Diese Entwicklung wird vom Rassismus abgeschwächt und behindert, im Falle der Keupstraße mit einer Bombe. Der strukturelle Rassismus dient der permanenten Destabilisierung dieser Communities und kann darin als ein Aspekt des Klassenkampfes von oben verstanden werden. I

In eurem Buch wird der viel diskutierte und kritisierte Begriff der Migrantisierung der Ostdeutschen von Naika Foroutan angesprochen. Welches emanzipatorische Potenzial seht ihr denn darin, Ostdeutschen diese Kategorie anzubieten?

Ja, über den Begriff stolpert man zunächst. Im Grunde ist er ein Angebot und ein Geschenk an diejenigen, die seit 30 Jahren abgewickelt und gedemütigt werden. Wenn sie sagen: „Wir sind doch auch Deutsche, deswegen haben wir ein Anrecht auf den gesellschaftlichen Reichtum!“, dann sagen wir: „Nein! Begreift die Entrechtung von Menschen im Neoliberalismus als Kanakisierungserfahrung und wehrt euch von dieser Position aus!“ Klar regen sich manche Leute auf und sagen: „Die Deutschen schlagen uns tot, jetzt können wir die ja nicht auch noch als Migranten ‚veredeln‘.“ Aber wir sehen das wie Naika Foroutan als ein Angebot, den Raum der Solidarität zu erweitern, statt weiter auf gesellschaftliche Spaltung zu setzen. Es ist eine Chance, aus den machtvollen Kämpfen der Migration zu lernen und sich ihnen anzuschließen.

Werden damit nicht einfach nur Konfliktlinien verschoben? Nicht mehr die Migrant*innen gegen die Einheitsdeutschen, sondern jetzt die Migrant*innen und die migrantisierten Ostdeutschen gegen den bundesdeutschen Rest?

Oder gegen den Neoliberalismus. Ostdeutsche haben eine austeritätspolitische Demütigung erfahren, die 20 Jahre später in der sogenannten Bankenkrise etwa auch die Griechen erleiden mussten. In Ostdeutschland ist diese Form der neoliberalen Austeritätspolitik das erste Mal in dieser Dimension in Europa ausprobiert worden. Ein „Laboratorium Ost“, wie es der Verfassungsschutz damals bezeichnete beim Aufbau der neonazistischen Terrornetzwerke in den neuen Bundesländern. Es geht aber nicht um einen bösen Westen. Auch dort werden ohne Ende Strukturen der Existenzweisen abgewickelt und mit einer rassistischen Politik der Spannung abgesichert. Die Einladung, sich als Teil einer (p)ostmigrantischen Gesellschaft der Vielen zu begreifen, ist eine Einladung zur gesellschaftlichen Transformation, die sich auch gegen den Kapitalismus richtet. Eine Einladung, aufgrund von Erfahrungen der Abwertung solidarisch miteinander zu sein und nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu denken. Etwas, das wir in dem ganzen Buchprojekt gelernt haben, ist, dass es sinnvoll ist und bestärkend wirkt, sich Geschichten erzählen zu lassen und zuzuhören. In den heterogenen Narrativen steckt häufig schon so viel gesammeltes Wissen, das sich im Alltag, auf der Straße, an den Rändern situiert. Bereits aus den bloßen Erfahrungen kann viel gelernt werden.

Dan Thy Nguyen schreibt im Beitrag über die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR, dass es erst die zweite Generation ist, die Erinnerungen austauschen und besprechbar machen kann, während die erste diesbezüglich noch schamerfüllt ist und deswegen unfähig, das eigene Leben besprechbar zu machen. Vielleicht ist das das größte Potenzial in der Migrantisierung der Ostdeutschen und hilft, über die eigene Geschichte sprechen zu können …

Das meinten wir vorhin, als es um die selbstbewussten jungen Leute ging, die sich nun trauen, Sprechpositionen einzunehmen. Es ist das Gleiche, was vor 20 Jahren in Westdeutschland passiert ist. Die erste Generation spricht nicht, das ist historisch häufig so. Es sind meistens die Kinder, die dann anfangen, die Geschichte der Eltern zu erzählen, sie ihnen aus der Nase zu ziehen und sie kritisch zu hinterfragen. Das ist total wichtig und passiert jetzt mit der Generation der Migrant*innen, die um den Mauerfall herum geboren wurden. Aber es passiert auch mit derselben Generation der Deutsch-Deutschen. Das Kollektiv „Aufbruch Ost“, Kulturformate wie Treuhand Techno oder Panzerkreuzer Rotkäppchen sind Beispiele für eine neue Generation Ostdeutscher, die ganz anders an das Thema gehen und neue Narrative zur Wende entwickeln.

An einer Stelle eurer Einleitung schreibt ihr, dass der Rassismus der innere Motor der Wende gewesen sein soll …

Über diesen Satz stolpern wirklich alle!

Könnt ihr das ausführen?

Wir meinen damit die Zeit des Mauerfalls und die Jahre danach, die sogenannten Baseballschläger-Jahre. Der Prozess der deutschen Vereinigung unter den Bedingungen der Austerität war überhaupt nur möglich und durchsetzbar durch die Vertiefung rassistischer Spaltungen durch die Mobilisierung bzw. Entfesselung eines sicherlich bereits bestehenden nationalistischen Diskurses. Und der Antrieb des Nationalismus ist der Rassismus. Wir sagen daher, dass der Rassismus der innere Motor der deutsch-deutschen Vereinigung war. Er hat die vielen Fragen zur ökonomischen, politischen und kulturellen Abwicklung überdeckt, die in dieser Zeit durchaus auf dem Tisch lagen. Stattdessen gab es über hundert Tote und rassistische Pogrome. Ohne Rassismus wäre diese Form der Austeritätspolitik nicht durchzuführen gewesen und es hätte eine andere Art der Auseinandersetzung gegeben. Das heißt aber nicht, dass es Rassismus nicht schon die ganze Zeit gegeben hatte oder dass er instrumentell „von oben“ eingesetzt werden kann.

Auch im Hinblick auf die jüdische Perspektive auf die Vereinigung scheinen einige Fragen offen. Wie umgehen mit dem erinnerungspolitischen Erbe eines Staates, in dem es laut Staatsraison keinen Antisemitismus gegeben haben soll?

In dem Buch gibt es den Beitrag von Felix Axster und Mathias Berek, die intensiv mit dem Team der Zeitschrift Jalta rund um Max Czollek und Hannah Peaceman zusammengearbeitet und dazu noch Gespräche mit Dmitrij Kapitelman und David Kowalski geführt haben. Diese jüngere jüdische Generation formuliert eine doppelte Kritik: Die postmigrantische Gesellschaft hat das Jüdische zu wenig im Blick, aber die jüdische Perspektive hat ebenfalls zu selten das Postmigrantische im Blick. Und ohne zu sagen, es wäre dasselbe, muss es hier eine Annäherung und Gespräche geben. Sich in der Unterschiedlichkeit bestärken und annähern, erkennen, dass die jüdische Perspektive ebenfalls eine postmigrantische und die postmigrantische Gesellschaft immer auch eine jüdische ist, das ist eine Stärke. Insofern ist das Buch auch nochmal eine Weiterführung des Ansatzes von Jalta. Das finden wir wichtig, auch wenn wir diesen Weg nur ein kleines Stück gegangen sind.

Im gleichen Beitrag wird die „Desintegration“ als politische und emanzipatorische Praxis angeführt. Als abschließende Frage und Ausblick in die Zukunft: Ist das der Entwurf für eine postmigrantische Gesellschaft? Durch Desintegration neue solidarische Bündnisse schließen und neue solidarische Praktiken entwickeln?

Desintegration, aber unter den Bedingungen der Inklusion bzw. einer inklusiven Disjunktion. Mit Inklusion meinen wir keine Multikulti-Diversität, aber auch keinen hegemonialen Integrationsimperativ. Das Gemeinsame muss in der Differenz ausgemacht werden. Das funktioniert nur über neue solidarische Beziehungen der Menschen zueinander. Desintegration schafft ein neues Gefüge als Gesellschaft und gerade nicht ein Auseinanderfallen des Gemeinwesens, wie es die autoritären und rechten Bewegungen propagieren. Die sagen auch „Desintegriert euch!“, aber in einem neoliberalen, vereinzelnden und entsolidarisierenden Sinn. Wir sagen damit aber: Raus aus dem Integrations-Dispositiv und rein in eine neue Inklusion, die sich solidarisch von unten aufbaut und abseits des Integrationsdiskurses stattfindet!
Dem Begriff des Postmigrantischen geht es darum, ein stabiles gesellschaftliches Verhältnis aufzubauen, das solidarisch ist und nicht von einem Außen und einem Innen ausgeht. Sondern eines, das es schafft, eine Gesellschaft der Vielen zu etablieren. Daher würden wir schon sagen, dass Desintegration aus dem hegemonialen Narrativ und die Hinwendung zu den vielen marginalisierten Stimmen unabdingbar ist.

Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.) (2020): Erinnern Stören! Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Verbrecher Verlag, Berlin