MALMOE

Bratislava-Wien

Eine Migrationsgeschichte

Ich lebe seit 18 Jahren in Österreich. Ich habe keinen österreichischen Pass. In der Hauptschule musste ich zur Strafe hundert Mal „Ich gehe in eine österreichische Schule und muss Deutsch sprechen“ schreiben. Oft werde ich nach der richtigen Aussprache meines Namens gefragt. Inzwischen werde ich nicht mehr so oft für mein gutes Deutsch gelobt. Ich habe einen EU-Pass.

Geboren bin ich in Bratislava, rund 70 Kilometer von Wien entfernt, in einer Stadt, aus der zwischen 1914 und 1938 eine Straßenbahn bis nach Wien fuhr; in der 1741 Maria Theresia gekrönt wurde; in Bratislava, Wiens Twin City an der Donau – einer Stadt in Osteuropa.

Dabei wären Slowak_innen so gerne einfach Zentraleuropäer_innen. Der Osten, das sind die Anderen: die Ukrainer_innen, die Rumän_innen, die Serb_innen, die die Slowakei zu einem „Einwanderungsland“ machen (obwohl sie das schon ziemlich lange ist). Der europäische Vorhang hat sich doch verschoben, ostwärts. „Wir“ entsprechend westwärts. Das wollen „wir“ glauben. Denn da wollten „wir“ immer hin. Doch als im Frühling 2020 Österreich die allgemeine Maskenpflicht einführte, war es laut Kanzler Kurz „das erste Land in Westeuropa“, das diese Maßnahme setzte. Die Menschen in der Slowakei trugen ihren Mund-Nasen-Schutz zwar schon längst, sogar im Freien. Aber halt nicht im „richtigen“ Westen, sondern im östlichen „Zentraleuropa“, abgetrennt durch eine durchscheinende Grenze, die bei Bedarf aktiviert werden kann – und wird, von beiden Seiten.

Eine Grenze ist eine Grenze ist eine Grenze

Die Grenze war zwar schon real da, deswegen mussten wir ja auch an ihr stehenbleiben und manchmal stundenlang warten, wenn wir mit dem Auto „in den Westen“ fuhren. Bemerkbar war sie aber vor allem, weil dahinter alles anders war: irgendwie zwar auch ähnlich, aber doch anders riechend, geordneter, aufgeräumter, regulierter. Mitunter dachte ich: Sogar die wilde Natur sieht in Österreich so gekünstelt aus, als wüchsen die Wurzeln der Bäume dorthin, wohin man es ihnen befohlen hatte. Im Westen hatte alles eine andere Ausstrahlung, schien reibungsloser zu funktionieren und war schöner anzusehen: die Schulbänke, die Gehsteige, das Supermarktsortiment.

„Die Grenze“ war für mich immer mehr Metapher als Realität. Sie war es bis 1989, als sie noch nicht einfach überschreitbar war und ich sie vor allem noch nie gesehen hatte. Sie blieb es auch später, als mein Gesicht bei jedem Grenzübertritt mit dem Foto in meinem Pass abgeglichen wurde. Oder als wir – die „Pendelkinder“ der 1990er, denen das slowakische Schulsystem erspart bleiben sollte – noch Stempelabdrücke in unseren Reisepässen sammelten, sie zählten und datierten. Am Anfang hatte uns die Sammelleidenschaft erfasst, später hofften wir auf kulante Beamte, die sich das Stempeln sparten, damit wir nicht so bald wieder einen neuen, „leeren“ Pass brauchten.

Diese schwer greifbare und doch unverkennbare „Ausstrahlung“ zieht Slowak_innen seit 30 Jahren „in den Westen“ – wo vieles so zu sein scheint, wie es „eigentlich“ sein sollte. Zumindest im Vergleich, materialisiert als „die bessere Lebensqualität“.

Arbeiten mit Überqualifikation und Unsicherheit

Zuvor war es „die Freiheit“ gewesen, die dem Osten abging – ganz ohne steigerndes Adjektiv. Zwischen 1945 und 1989 starben über 1.000 Menschen beim Versuch, die slowakisch-österreichische Grenze zu überqueren, um in den Westen zu flüchten. Als erstes Land im Westen gewährte Österreich zehntausenden Tschechoslowak_innen Asyl nach der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968; 50.000 weitere Menschen, die ihren Sommerurlaub 1968 in Jugoslawien verbracht hatten, konnten nach der Invasion nicht mehr zurück. Sie verbrachten den Herbst als „Tourist_innen-Flüchtlinge“ in Österreich, bevor ein Teil von ihnen heimkehrte. Andere blieben und suchten um Asyl an. Über 200.000 tschechoslowakische Staatsbürger_innen kamen bis zum Herbst 1969 nach Österreich; 4.176 Asylanträge von ihnen verzeichnete Österreich 1968, 6.529 im Folgejahr.1Maximilian Graf und Sarah Knoll (2017): In Transit or Asylum Seekers? Austria and the Cold War Refugees from the Communist Bloc, in: Bischof, Günter / Rupnow, Dirk (Hg.): Migration in Austria. UNO Press / Innsbruck University Press, Innsbruck / New Orleans Zunächst konnte die Grenze noch legal überquert werden – Teil der Kreml-gesteuerten „Normalisierungspolitik“ war es am Anfang, Menschen nicht mit Gewalt davon abzuhalten, das Land zu verlassen. Endgültig geschlossen wurde die Grenze dann im Oktober 1969 und blieb die folgenden zwanzig Jahre (beinahe) dicht.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war der Hauptgrund für Slowak_innen, die Slowakei zu verlassen, vergleichsweise prosaisch: „die Arbeit“. Gemeint sind damit höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl die meisten Migrant_innen für ihre Jobs überqualifiziert und oft auch in unsicheren Arbeitsverhältnissen tätig waren (und sind). In Umfragen über Motivationsgründe für Emigration tauchen in den letzten Jahren neue Antworten auf: Zwei Drittel aller ausgewanderten Slowak_innen geben an erster Stelle „bessere Lebensbedingungen“ an; „Familie“ und „Arbeit“ folgen auf Platz zwei und drei. Die Verschiebung suggeriert: Es geht nicht (mehr) nur darum, anderswo mehr Geld zu verdienen, sondern auch ganz explizit (wieder) darum, nicht in der Slowakei zu leben.

Brain Drain

Die Auswanderung wird medial immer wieder problematisiert. Eine gewisse Erleichterung darüber, nicht mehr in der Slowakei leben zu müssen, zeichnet sich als Leitmotiv in den Wortmeldungen von Ausgewanderten ab: weg von Korruption, Klientelismus und Vetternwirtschaft, hin zu besseren sozialen Dienstleistungen, Ausbildungen, zu Work-Life-Balance, Gesundheit, Sicherheit. Viele der Befragten halten ihre Beziehungen zur Slowakei aufrecht, verfolgen slowakische Nachrichten, besuchen im Urlaub ihre Herkunftsfamilien. Sie haben Heimweh, das aber spätestens dann wieder in Fernweh umschwenkt, wenn sie auf einem Amt etwas zu erledigen haben – und sich über die „slowakische Mentalität“ ärgern. Berichte und Studien über Zurückgekehrte sind kaum optimistischer: Viele bereuen ihre Rückkehr. Die (anderen) Slowak_innen seien apathisch, pessimistisch und aggressiv. Für Rückkehrer_innen ein umgekehrter Kulturschock. Die Kausa des 2018 ermordeten Journalisten Ján Kuciak, die (wenig überraschende) Überlappungen zwischen Mafia und Politik zum Vorschein brachte, bewog außerdem viele, die zuvor eine Rückkehr in Betracht gezogen hatten, dazu, ihre Absichten zu überdenken oder zu verschieben.

Vor diesem ernüchternden Hintergrund will die 2012 gegründete Organisation LEAF dazu beitragen, die Slowakei zu einem „Ort des qualitativ hochwertigen und zufriedenen Lebens“ zu machen. Sie bietet dafür u. a. Weiterbildungsprogramme für „junge, motivierte“ Slowak_innen an – und veröffentlicht auch regelmäßig selbst Umfragen mit „Auslandsslowak_innen“. Denn zu ihren Zielen gehört, Menschen zur Rückkehr zu bewegen. Im Jahr 2018 gab mehr als die Hälfte von 4.000 Befragten an, dass erst eine „Veränderung der politischen Kultur“ sie zur Rückkehr motivieren könnte, 45 Prozent warteten auf eine „Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen“. Im Kampf gegen den Brain Drain, also die „übermäßige“ Abwanderung qualifizierter Personen aus dem Land, vermittelt die Organisation auch Arbeitsplätze an Rückkehrer_innen. Auf der Homepage des Programms Slovak Professionals Abroad finden sich Artikel mit Informationen für Interessierte. Die Rhetorik ihrer Motivationsbemühungen ist ambivalent: die Slowakei hätte seit der Jahrtausendwende einen „Zivilisationssprung“ durchgemacht, die Lebenshaltungskosten seien verhältnismäßig niedrig; die Einkommen zugegebenermaßen allerdings auch.

Einmal Wien und zurück

Eine halbe Million Menschen sind seit der Wende aus der Slowakei emigriert, also etwa 10 Prozent der Bevölkerung – ein großer Teil davon universitär ausgebildet und unter 30 Jahre alt. Pfleger_innen und Ärzt_innen etwa verlassen in großer Zahl das Land, während (und weil) das slowakische Gesundheitssystem eine Katastrophe ist. Jede_r zehnte Absolvent_in der medizinischen Fakultäten sucht eine Anstellung außerhalb der Slowakei. Auch in Österreich arbeiten Slowak_innen zu einem großen Teil in Gesundheitsberufen. Fast 40 Prozent aller in Österreich tätigen 24-Stunden-Pfleger_innen kommen aus der Slowakei, also etwa 30.000 Menschen, die alle zwei bis vier Wochen nach Österreich pendeln.2Simona Ďurišová (2017): Die Organisation der Ausbeutung. Soziale und arbeitsrechtliche Benachteiligung der Pflege- und Betreuungskräfte im Rahmen der 24-Stunden-Pflege, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Vermittlungsagenturen. Masterarbeit, Karl-Franzens-Universität Graz Die Prekarität ihrer Arbeitsbedingungen wurde zuletzt durch die Corona-Krise deutlich, in den Medien nur indirekt präsent als „drohender Pflegenotstand Österreichs“.

Pendelmigration entstand als Phänomen in den 1990er Jahren. Menschen bewegten sich aber schon in der Habsburgermonarchie hin und her – war doch die Slowakei ein Teil davon. Heute pendeln etwa 50.000 Slowak_innen über die Grenze. In Österreich programmieren sie, verlegen Leitungen, bauen Häuser, verkaufen Kleidung, bedienen Gäste, pflegen Menschen. Zwei Drittel der Pendelnden sind Männer, ein Drittel Frauen, die meisten jünger als 40. In besser qualifizierten Berufen arbeiten laut Statistik „eher wenige“.

Inzwischen geht Pendeln übrigens auch umgekehrt, wenn auch nicht spiegelverkehrt. Immer mehr Slowak_innen wohnen auf der österreichischen Seite der Grenze und arbeiten „dennoch“ in Bratislava. Das Wachstum einiger österreichischer Orte in Niederösterreich und im Burgenland ist in den letzten Jahren auch auf die Ansiedelung von Slowak_innen zurückzuführen. Wolfsthal zum Beispiel liegt nur zehn Minuten Autofahrt von Bratislava entfernt: Im Jahr 2005 lebten hier 750 Menschen, heute sind es fast 1.400 – ein Drittel davon stammt aus der Slowakei. Nach seiner Amtsübernahme 2005 wollte der damalige Bürgermeister den Ort wieder attraktiver für Österreicher_innen machen. Er kaufte Ackerland auf, widmete es zu Bauland um, parzellierte es in Grundstücke – die dann unerwartet viele Paare und Familien aus der Slowakei kauften. Baugrund und Immobilien im Umfeld Bratislavas sind teuer. Seit dem Schengenbeitritt der Slowakei 2007 weichen Slowak_innen, die es sich leisten können, nach Österreich aus und pendeln ostwärts.

Andere wieder fahren aus der Slowakei nach Österreich zum Einkaufen. Waren internationaler Konzerne sind auf dem slowakischen Markt oft von schlechterer Qualität, regionales Obst und Gemüse sind in der Slowakei manchmal deutlich teurer als in Österreich. Nach der Wende hingen in den Auslagen vieler Geschäfte im österreichischen Grenzgebiet noch Schilder mit der Aufschrift „Slowaken, stehlt nicht!“ – auf Slowakisch natürlich. Auch das ist Teil des Wandels.Manchmal, wenn meine Integrationshemmnis mich umtreibt, spiele ich das masochistische Was-wäre-wenn-Spiel. Was wäre, wenn ich „dort“ geblieben wäre? Wäre ich erfolgreich? Wäre ich angekommen, zumindest mehr als hier? Wenn ich „dort“ geblieben wäre, sehnte ich mich nach „draußen“? Hätte ich einen anderen Blick auf die österreichische Gesellschaft – auf „den Westen“? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Aber „der Osten“ fehlt mir, immer, auch wenn er nur 70 Kilometer entfernt ist – und mir selbst einverleibt.