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MALMOE

Proteste gegen die größte ­Mülldeponie Europas

Auch abseits der Proteste in Moskau regt sich Widerstand in Russland. Weit oben im Norden widersetzen sich die Menschen einer ökologischen Katastrophe

Der russische Norden könnte im Müll versinken: Die Behörden wollen die Region Archangelsk in eine Deponie für den Moskauer Müll umwandeln. Die mangelnde Bereitschaft der Moskauer Regierung ein modernes Abfallentsorgungssystem zu schaffen, führte zur Entscheidung, Müll in anderen Regionen zu entsorgen. Zu Beginn sprachen die Behörden vom Bau einer Abfallrecyclinganlage. Später stellte sich heraus, dass es eine 3.000 Hektar große Deponie werden soll. Gebaut soll sie in einem sensiblen Feuchtgebiet werden, demnach riskiert man eine Boden- und Wasservergiftung. Seit Monaten versuchen die Bewohner_innen und Bewohner ihre Umwelt zu schützen. Seitdem werden sie durch Behörden und private Sicherheitsfirmen unter Druck gesetzt. Dutzende Aktivistinnen und Aktivisten wurden verhaftet, laufend werden Geldstrafen verhängt.

Die Moskauer „Müllmafia“

Der russische Staat kontrolliert seine Bürgerinnen und Bürger, Bedürfnisse werden manipuliert, vereinfacht, echte Probleme sind aus dem alltäglichen Diskurs verdrängt. Die Entfremdung der russischen Bürgerinnen und Bürger von der Politik ist extrem fortgeschritten, das gesellschaftliche Leben zu beeinflussen ist kaum mehr möglich. Politik macht der Kreml, die Menschen haben keine Chance mehr auf Partizipation. Gerade in dieser geknebelten Gesellschaft, die zivilgesellschaftliches Aufbegehren beinahe unmöglich gemacht hat, ist der Widerstand am Bahnhof Shiyes, in der Region Archangelsk, ein besonders merkwürdiger. Denn Shiyes ist in Russland einer der wichtigsten strategischen Punkte, aber auch einer der schmerzhaftesten. Seit mehr als einem Jahr kämpfen die Menschen des russischen Nordens gegen die Pläne der „Müllmafia“, am Bahnhof Shiyes die größte Mülldeponie Europas zu errichten. Dort sollen in den nächsten 20 Jahren 46 Millionen Tonnen unsortierter Moskauer Restmüll entsorgt werden. Das Projekt Ecotechnopark Shiyes wird, so sind sich Expertinnen und Aktivisten einig, unweigerlich zu einer Umweltkatastrophe führen. Dieser ökologische Wahnsinn könnte die gesamte euro-arktische Region nachhaltig zerstören.

Offiziellen Dokumenten zufolge wurde der Bau der Deponie aktuell gestoppt, jedoch haben die Bauarbeiter den Arbeitsbetrieb nicht eingestellt. Erst kürzlich kam es zu Zusammenstößen zwischen Aktivist_innen und Polizei beziehungsweise privaten Sicherheitsfirmen. Prügel, Inhaftierungen und unangemessene Gerichtsentscheidungen halten an, erfundene Strafverfahren werden nicht abgeschlossen, der Kreml schweigt. Der Widerstand geht über die Region hinaus: Zwei Piloten der Archangelsker Luftwaffe weigerten sich, Treibstoff nach Shiyes zu transportieren. Ihr Job ist nun akut bedroht.

Akute Umweltbedrohung bringt neue Dynamik

Zum ersten Mal seit langer Zeit erfahren die Menschen trotz des zynischen und brutalen Angriffs der Oligarchen und Beamten Solidarität und das Gefühl einer aktiven politischen Existenz. Es war die akute Bedrohung der Umwelt, die zum politischen Aufbegehren führte. Vergiftetes Wasser, verpestete Luft und toxischer Boden – das sind konkrete, sichtbare Bedrohungen. Doch der Ansporn zum Widerstand hat auch eine symbolische Dimension. Als Mülldeponie für Moskau zu dienen, wird als fundamentale Demütigung und Entwürdigung der Region empfunden. Die Kolonialpolitik Moskaus gegenüber anderen Regionen hat dazu geführt, dass der Protest eskalierte. Die Menschen im Norden wollen nicht im Moskauer Müll untergehen. Mit der offensichtlichen Bedrohung vor der Haustür blicken die Bürgerinnen und Bürger auch über die konkrete Gefahr hinaus.

Der Norden ist nicht einverstanden mit der Selbsterniedrigung durch die Selbstkolonisation. Die Behörden akzeptieren die Pläne Moskaus, die Region zu zerstören, sie entmündigen sich selbst zugunsten des Zentrums. Nicht die gesamte Protestbewegung abstrahiert den Protest auf diese Weise und traut sich politische Forderungen zu stellen. Doch die übermäßige Mehrheit der Demonstrantinnen und Demonstranten ist überzeugt, dass der Bau der Deponie ein Akt der Demütigung, Beleidigung und Missachtung der peripheren Kolonie durch das Zentrum darstellt.

Umweltprobleme werden gezielt aus den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger herausgespült, da die Haupteinnahmen des herrschenden Regimes auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruhen und die Einkünfte der Machtbürokratie von umweltschädlichen Unternehmen stammen. Es wäre höchste Zeit, die Entsorgungsmethoden zu ändern. Doch die Behörden haben es nicht eilig. Primitive Lagerung von Abfällen auf Wald und Wiese sowie Verbrennungen sind billiger als moderne Technologien. Über die schädlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung wurde lange Zeit geschwiegen.

Die umweltschädliche Industrie an der Peripherie und das autoritäre politische System, das auf der Verschmelzung von Wirtschaft und politischer Macht beruht, repräsentieren keine Interessen der gesamten Gesellschaft, sondern nur eine kleine Gruppe von Machthabern. Nicht nur in ihrer Ignoranz gegenüber der Gesundheit von Bürgerinnen und Bürgern handeln sie kriminell. Doch durch die Situation in Shiyes entwickelt sich gerade ein Bewusstsein über die anti-ökologische Politik der Behörden. Dies ist ein erster Schritt damit die akuten Umweltprobleme zu einem Faktor des sozialen Protests werden. Und in Shiyes entwickelte sich der soziale Protest bereits zum politischen Kampf.

Kropotkin ist zurück

Am 15. September erklärten Aktivistinnen und Aktivisten aus Shiyes die Gründung einer Kommune. Die Erklärung besagt, dass nur diejenigen die Gemeinde betreten dürfen, die auf Geheiß ihres eigenen Willens und nicht aus offiziellen Gründen hierhergekommen sind. Das Hauptziel ist klar formuliert: die Erhaltung der lokalen Ökologie. Die Grundsätze der Gemeinde sind Konsens-Entscheidung, eine umweltfreundliche Lebensweise und eine horizontale Organisationsstruktur.

Das Leben der Menschen in diesen Regionen war jahrhundertelang aufs Engste mit der Natur verbunden. Die russische Taiga und das Meer waren ihre Lebensadern. Diese Lebensadern sind nun gefährdet. Der Bau der Mülldeponie ist ein gewaltvoller Akt, den die Menschen aus biopolitischer Perspektive als Anschlag auf ihren Körper interpretieren. Und Gewalt gegen die Physiognomie verursacht eine körperliche Reaktion. Dazu zählen die Widerstände in Shiyes und Archangelsk.

Mit diesem Widerstand entwickeln sich bemerkenswerte Dynamiken: eine neue Sinnlichkeit in Bezug auf die Umwelt, ein schärferer Blick auf Brüche und Risse in der Wirklichkeit. Das Denken stößt in Archangelsk, als Reaktion auf die ökologische Brutalität der Mülldeponie, in neue Sphären. Neue Wege werden sichtbar, neue Kollektivität entsteht. Im Geiste und als logische Fortsetzung des anarchistisch-kommunistischen Programms von Peter Kropotkin etablieren sich radikale ökosoziale Initiativen. Waren Kropotkins Ideen in der Industrialisierung des 20. Jahrhunderts weitgehend untergegangen, bilden sie nun die Grundlage für ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur und für die Projekte der Gegnerinnen und Gegner der Mülldeponie. In Shiyes wird die schier unendliche Distanz, die Russland von einem ökologischen Wirtschaften, von einer gerechten Verteilung von Reichtum und der Realisierung fundamentaler Rechte trennt, sichtbar.