MALMOE

Gegen die Grundannahme, widerständig handelnd zu sein

Passagencollagen (#3)

Die Serie Passagencollagen ist eine Kooperation zwischen MALMOE und dem Kollektiv und Zeitschriftenprojekt Tortuga. Seit 2013 behandelt Tortuga Themen wie GRENZE, LÄRM, KÖRPER und die Vorsilbe VER im Rahmen von Heften, Hörspielen, Performances und Veranstaltungen. Neben der vierteiligen Reihe KÖRPER entstanden zuletzt mehrere Ausgaben zur Vorsilbe VER.
Die scheinbar feste Form und Anordnung des Inhalts der Heftreihen wird in der ­MALMOE nun wieder aufgelockert, Beiträge werden in Kontrast gestellt, zerschnitten, wieder zusammengeklebt – sie verschwimmen miteinander, verkörpern sich gegenseitig. Für Passagencollagen #3 wurden die KÖRPER- und VER-Hefte auf die Wörter und Wortteile „gegen“ und „wider“ durchsucht. Aufbauend auf gefundenen Ausschnitten ist etwas Neues entstanden
.

Egal wie kalt, alles ist wie immer. Niemand geht langsamer, kaum mehr Menschen im Bus. Kinder, könnte man denken, seien wild und scharf auf Schnee. Sie müssten doch lauter schreien, ärger herumkugeln als sonst. Aber wegen der vielen Schichten an Schutzkleidung können sie sich nicht bewegen und immer, wenn sie den Kopf zur Seite drehen wollen, sehen sie nur die Innenseiten ihrer Kapuzen. (Meistens tragen sie mehrere übereinander. Meistens sind daran Halbkreise angenäht, die für Bärenohren stehen.)

Beim Aufwachen war das Dachschrägenfenster schmutzig und man weiß nur, dass dahinter der Himmel oder zumindest Luft liegt, weil es gestern so war. Man steht auf, aber irgendetwas bleibt immer liegen. „das anerlernte stillhalten kann sich der unschärfe nicht widersetzen“.1Verschwimmen – Adina F. Camhy Den Tag in Polster und Decken durchschreiten, nicht links oder rechts schauen, in etwa so wie ein Kapuzenkopf mit Bärenohren.

„Das Verschwimmen von Umrissen und Konturen ist mit dem Konzept der Ordnung assoziiert – als eine Art Gegenkonzept, als Auflösung, Verfransung, Verformlosung fester Konturlinien und Begriffsrahmen“. 2Tauchen in der Unschärfe / Verschwimmen – Tortuga Bei Kälte drohen die Dinge zu verschwinden. Die Kreuzungen, die Straßen, die Ordnung der Stadt könnte abhandenkommen. Aber da der Untergrund immer zu heiß ist, egal wie lange der Sommer vorbei ist, verschwindet die Stadt nicht im Schnee. Was eher zu schwinden beginnt, ist die Gefasstheit, der Stadtplan von sich selbst, das Wissen über den Verlauf der Buslinien, die einen durchkreuzen. Es kann einem der 3A Schottenring oder 14A Reumannplatz übers Herz fahren, solang man Bescheid weiß, wann, und mit welchem Ziel. Wenn man sich ungeordnet fühlt, beginnt man aufzuräumen.

Den gepolsterten Tag aufräumen. Grob und so wie man es kennt: morgens, mittags, abends, nachts. „Um sich solchen Normen zu widersetzen, bedarf es enormes Selbstwertgefühl […].“3Der Zwang zum schlanken Körper – Lotta Trice Aber auch: essen, gern machen, ungern tun, schummeln, durchbeißen, schmunzeln, lieben, treten, schreien. Man kann die Wörter putzen und polieren: reimen, abkürzen, hochstechen. Alles aufbessern, oder besser gesagt: steigern. „Menschen, die dem entsprechen, ernten dagegen Erfolg, Anerkennung und Macht.“4„Everybody is a good body!“ – Girl Gangs Over Graz
Man ordnet eine Kiste mit Zetteln, von denen man genau genommen keinen mehr braucht. Bestünde nicht die Gefahr, etwas zu verlieren, was man irgendwann verzweifelt sucht, wäre das Aufräumen, das Entfernen, das Sortieren einfach. So einfach, es würde nicht als Ablenkung genügen. Gut, dass manche Dinge schwierig sind.

Gut, dass man ausharrt, „fasziniert von der Erforschung seines Gegenstandes, der klein beginnt, dann wächst, größer wird, breiter, sich verzweigt und manchmal endet – ohne vorbei zu sein.“5Glaskörper. Fragmente über Derrida und die Anatomie des absoluten Geistes – Ingo Ebener Ohne zu wissen, was „sein Gegenstand wäre“ und ohne zu glauben, dass es ihn gibt, einen eigenen: Es endet, ohne vorbei zu sein. Die reizende Suche des Aufräumens: geordnet ziellos. Durcheinander ausweglos.

„Weitere Gegenstände werden in eine durchsichtig-einsichtige Tasche gelegt. […] Der Personalausweis gilt am Tresen als Pfand gegen die wohl gehütete, tief verborgene Ware.“6Wissenskörper – Claudia Lomoschitz Nach dem Vorbild des Alltags, in dem man Dinge miteinander austauscht, räumt man auf. Wild gegen ruhig, voll gegen weniger voll, durcheinander gegen abgepackt und beschriftet. Durchsichtig eingepackt, wartend, gebraucht zu werden, bereit, gegen andere Waren eingetauscht zu werden, bereit, den Platz ewig zu hüten, bereit; habt Acht! Komme, was wolle.

Was kann man nicht aufräumen? Wo kann Ordnung schaden?

„[…] [G]rotesker wird es, sich vorzustellen, das menschliche Individuum erhielte seine Identität mit der Nationalität, die es hat, was aber behaupteter Weise gegenwärtig erheblichen Staub aufwirbelt und bei Licht betrachtet hanebüchener Unsinn ist.“7Editorial 3.3 Identitäten – Philipp Markus Schörkhuber

Erscheint dort, wo Ordnung ist, irgendetwas grotesk? Oder immer nur fehl am Platz; notwendig auszusortieren? Ist dort, wo Ordnung ist, genug Licht, um hanebüchenen Unsinn als hanebüchenen Unsinn zu lesen? Wie viele Schichten Schutzkleidung muss man anziehen, um selbst bei Licht hanebüchenen Unsinn nicht als solchen zu erkennen?

Ist innerhalb der Ordnung der einzige Schmutz gleichmäßiger, sich über die Dinge legender Staub? Eine Art zufriedenes Einschlafen, ein gemächliches Vergessen, was nichts macht, denn, was in Ordnung gebracht wurde, ist erledigt, ist ausreichend behandelt, bewegt sich nicht. „Der Staub hat nun Bücher verbrannt und das Atmen entzündet; rücksichtslos die Gegenwart.“8Materialisierung des Blicks – Lale Rodgarkia-Dara Räumt sich eine rücksichtsvolle Gegenwart auf? Wonach ordnet sie? Ist sie wild eingepackt in eine durchsichtige Tasche mit der Aufschrift „wild“? Was darin ist, kann sich nicht bewegen, obwohl es als Kind oberflächlich an einen Bären erinnerte.

„Der Ort wurde seitdem nicht verändert. Der Raum hingegen schon.“9Wer tanzt im Archiv? Oder: Das Repertoire der VBKÖ – Franziska Kabisch Der Ort bleibt derselbe, aber die aufgeräumte Atmosphäre macht ihn zu einem anderen, einem sicheren Raum. „Den Zuständen der Gegenwart anpassen.“10Materialisierung des Blicks – Lale Rodgarkia-Dara Das Aufräumen ist eine Umleitung. Jede Endstation aufgelöste Haltestelle. „Er zieht den Nebel vor die Erinnerung. So vergißt er in Augenblicken, daß wir mal eins waren und hofft auch, die Gegenwart für immer zu überdecken.“11Ebd. Ablenkung bis zur nebelhaften Auflösung der Gegenwart. Oder nebelhafte Gegenwart der Ablenkung. Die Gegenwart, „ein Gegenstand, der seine magischen Fähigkeiten, sein Selbstbewusstsein und seine Allgegenwärtigkeit mit dem Fortschreiten der Digitalisierung zusehends verliert.“12Editorial 3.2 Körperdinge – Tortuga Gedanken, die hüpfen wie blaues Displaylicht bei geschlossenen Augen. Finger, die nach der Uhrzeit greifen, die am Handy steht, Armbanduhr hin oder her, eine Minute nach dem letzten Danach-Greifen. Und noch irgendetwas stand dort. Die Stadt verschwindet nicht, weil das Weiß alle anderen Farbtöne überdeckt, sondern weil niemand aufsieht. Was gäbe es zu sehen, das das Gegenüber in der U-Bahn so zum Lächeln bringen würde, wie das, was es sieht, wenn es nicht aufsieht. „Insofern wird Identität als Singularbegriff zum Widerspruch, der er definitionsgemäß nicht sein kann, zumal er unbedingte Deckungsgleichheit verlangt.“13Editorial 3.3 Identitäten – Philipp Markus Schörkhuber

Egal, wie kalt es ist und wie sehr die Umleitung eine Ablenkung ist, man „kann sich aber auch loslösen, muss nicht dem doch relativ gefährlichen Massenhaften verfallen, kann noch widersprechen, kann auch zustimmen, kann strategisch oder spontan das und das und das und kann […] auch das sein.“14Editorial 3.3 Identitäten – Katharina Pressl Niemand klebt bewegungslos am Eis, nicht einmal mit der Zunge, und selbst wenn: Der Schmerz ist intensiv, aber kurz und man vergisst schnell, wenn die Autobusse ihn überfahren oder sich eine Schicht Weiß drüberlegt.

Die Umlenkung ist ein (Bruch-)Stück des Ganzen, ein Teil einer Ganzheit. So ist es umgekehrtes Aufräumen: Aus den Bruchstücken ergibt sich ein Ganzes und es wird nicht einem vorgegebenen Ganzen untergeordnet. Zuerst der Text, dann der Titel. Zuerst Argumente, dann die Schlagzeile. Zuerst suchen, dann finden. ­Zuerst Punkte, dann Spirale. Und in den Hallen unserer Zeit fänden sich Weg­weiser, Routen, vielleicht Umleitungen. Wüsste man nicht, was einen innerlich unordentlich macht, würde man „Auf ‚zu widerständigen Archiven‘!“15Wer tanzt im Archiv? Oder: Das Repertoire der VBKÖ – Franziska Kabisch rufen und loshüpfen, mit dem beruhigenden Wissen, es wird sich etwas finden. Und alle die liegengebliebenen Bruchstücke wurden einander gegenübergestellt, geklebt, geknetet und die Teile, die vorher einzeln und ­verloren waren, stehen einem „aus Pfropfungen gebildeten Körper entgegen: ohne eigene oder dominierende Teile, ohne Hauptkörper.“16Glaskörper. Fragmente über Derrida und die Anatomie des absoluten Geistes – Ingo Ebener

Ein wurmiges, unaufgeräumtes Etwas, das sich nicht ordentlich fühlt, aber auch kein Bedürfnis hat, sich aufzuräumen oder Buslinien, die einem das Herz zerfahren, zuzulassen.

Wie die schwindende Gefasstheit überwinden? Wie anfangen aufhören aufzuhören?

Anfangen.

Es „[…] begann zu blühen, als du mir entgegenkamst, das heißt: die Anfangswerte. ich wohnte mich hinein. […]“17Alles aus dem Du – Ron Winkler

Bruchstück sein. „Wird hingegen der Körper als noch-lebendig gedacht, ist er in seiner Auseinandersetzung mit Arbeit und Maschinen immer sowohl mit seiner Abnutzung als auch seiner Überflüssigkeit konfrontiert.“18Editorial 3.2 Körperdinge – Tortuga Nicht am Eis festkleben. „Seite für Seite, für und gegeneinander.“19Glaskörper. Fragmente über Derrida und die Anatomie des absoluten Geistes – Ingo Ebener Nicht aufräumen. „[W]enn wir uns dagegen dauerhaft geliebt fühlen“20Love – Ulrike Königshofer. Nachsehen, wenn etwas liegen bleibt. „[G]egen die Grundannahmen“21Nachrichten von New Materialism an den Körperbegriff – Stefan Schweigler. Noch einmal nachschauen. „Eine andere Lesart decodiert die Zeichen eines auf den ersten Blick nicht erkennbaren Widerstands.“22Editorial 3.3 Identitäten – Adina F. Camhy Menschen mit Bärenohren wahrnehmen. „körper als gegenpart zu sich selbst“23Korporal – Joshua Möbe. Innere Unordnung nicht als Fehler empfinden. „[D]em eigenen Schönheitssystem widerstreben“24Der Zwang zum schlanken Körper – Lotta Trice. Wissen, dass hinter Glasscheiben Luft ist. „Maquis übersetzt Paul Celan wie folgt: ‚setzen wir das bewusste Erkennen des Geschehenden wider das Voraussetzungslose‘.“25Ein Besteckkasten und nur fünf Sinne – Alexandru Bulucz Gegen und wider suchen, zusammenkleben und etwas Neues daraus machen. „[…] [S]tehen sich jedoch nicht in Konkurrenz oder Widerspruch gegenüber: ‚They usually work in tandem‘.“26Wer tanzt im Archiv? Oder: Das Repertoire der VBKÖ – Franziska Kabisch Gegen die Grundannahme, widerständig handelnd zu sein. „[E]ine radikal gegenhegemoniale Denkweise“.27Nachrichten von New Materialism an den Körperbegriff – Stefan Schweigler Wider. Gegen. Wider Erwarten braucht Widerständigkeit nicht immer einen Gegen-Standpunkt, es kann wiederum auch eine Gegenbewegung sein, die ein Gegenüber erwartet

Die vollständigen Tortuga-Hefte sind in ausgewählten Buchhandlungen (siehe http://www.tortuga-zine.net) sowie via Mail über bestellung(at)tortuga-zine.net erhältlich.