MALMOE

Institutioneller Rassismus, ­situiertes Wissen und staatliche Kollusion

Der NSU-Komplex wissenschaftlich analysiert

Die Sozialwissenschaften in Deutschland tun sich schwer, den selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und sein Netzwerk zu analysieren. Das hat mehrere Gründe: Eine kaum etablierte Rassismusforschung, keine kritische Polizeiforschung und eine Rechtsextremismusforschung, die eng mit dem Verfassungsschutz kooperiert. Dazu kommt ein gesamtgesellschaftliches Desinteresse. Der Tagungsband „Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft“ ist eine Bestandsaufnahme dieses Mangels und ein wichtiger Schritt, um ihm etwas entgegenzusetzen.

Institutioneller Rassismus

Wer das NSU-Netzwerk, seine gesellschaftliche Verortung und seine Verbindungen zum deutschen Verfassungsschutz analysieren will, kommt um den Begriff des institutionellen Rassismus nicht herum. Leider bleibt der Beitrag im Band, der sich institutioneller Diskriminierung widmet, sehr allgemein und geht nicht näher auf den NSU-Komplex ein. Umgekehrt wenden die Beiträge, die konkret den NSU im Blick haben, das sozialwissenschaftliche Analysekonzept kaum an. Einzig der NSU-Prozess am Oberlandesgericht München wird unter dem Gesichtspunkt des institutionellen Rassismus analysiert: Die Juristin Doris Liebscher kritisiert den engen Rassismusbegriff im Recht. Rassismus gelte als (strafrechtsrelevanter) Skandal und könne deshalb im NSU-Prozess schwer thematisiert werden. Richter_innen und Anwält_innen bewegen sich selbst in einem rassistisch vorstrukturierten Raum, nehmen sich aber als vorurteilsfrei wahr.

Situiertes Wissen

Jahrelang ignorierten die Ermittlungsbehörden Hinweise der Angehörigen, dass die Mordserie einen rechten Hintergrund haben müsse. Stattdessen suchten sie die Täter_innen unter den Angehörigen und legitimierten das mit rassistischen Erklärungen. Es kam zu einer Täter-Opfer-Umkehr und vorhandenes Wissen z.b. über die wahren Täter wurde ignoriert. Der Band widmet sich daher auch dem situierten Wissen. Die polizeiliche, mediale und gesellschaftliche Ignoranz analysieren Ayşe Güleç und Johanna Schaffer als Teil einer Wissensstruktur, in der sie Ignoranz als aktive Verweigerung von bestimmten Informationen verstehen. Sie machen so den Zusammenhang zwischen Ignoranz und Rassismus begreifbar.

Dem britischen Institute of Race Relations (IRR) widmet sich ein Beitrag von Eddie Bruce-Jones. Das IRR soll als Positivbeispiel für die Analyse von strukturellem Rassismus dienen. Es erforscht Rassismus in der Polizei, in Gefängnissen, in den Medien etc. in Großbritannien. In jahrzehntelanger Arbeit wurde (situierte) Expertise zur Analyse von strukturellem und institutionellem Rassismus aufgebaut, die in Deutschland fehle. So blieb beim NSU-Prozess etwa die Unterstützung durch Wissenschaftler_innen aus.

Staatliche Kollusion

Als ein relevantes Tool zur Einordnung des NSU-Komplexes erweist sich der Begriff der staatlichen Kollusion: Er wurde im Rahmen des Nordirlandkonfliktes geprägt und beschreibt staatliches Handeln, das sich außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien bewegt und dabei straffrei bleibt. Gemeint ist damit etwa die verdeckte Zusammenarbeit von Polizei- und Sicherheitsbehörden mit V-Personen aus einer bestimmten Szene, deren Bekämpfung die eigentliche Aufgabe der Behörden wäre. Ebenso kann der Schutz der Täter_innen vor Strafverfolgung etwa durch die Vernichtung von Beweisen als Kollusion gefasst werden. Hanna Soditt und Fiona Schmidt zeigen in ihrem Beitrag, warum es sich beim NSU-Komplex um Kollusion handelt.

Die Verquickung von Verfassungsschutz und Neonaziszene wird in dem Tagungsband gut herausgearbeitet, allerdings nicht sozialwissenschaftlich analysiert (sehr wohl aber juristisch). Hier fehlen Beiträge aus der Rassismus- und aus der kritischen Rechtsextremismusforschung. Wer eine umfassende Analyse des NSU in diesem Buch sucht, wird enttäuscht. So weit ist die Forschung noch nicht. Doch umso wichtiger ist dieser Tagungsband, denn er trägt sehr unterschiedliche Perspektiven zusammen und kann so den Grundstein für eine umfassende Analyse legen. Er liefert brauchbare Ansätze für alle, die zum NSU forschen.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich für die Plattform Stoppt die Rechten verfasst, konnte dort aber nicht mehr veröffentlicht werden, da eine Arbeit der Plattform aufgrund fehlender Finanzierung eingestellt werden musste.

Juliane Karakayali / Çagri Kahveci / Doris Liebscher / Carl Melchers [Hrsg.innen]: Den NSU-Komplex analysieren: Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Transcript, Bielefeld 2017