MALMOE

Antisemitismus als Bedürfnis

Gestörtes Störendes #26

Ich möchte versuchen, verschiedene Funktionen, die Antisemitismus im aktuellen aufgeheizten Diskurs und darüber hinaus subjektiv und kollektiv haben kann, in den Blick zu nehmen. Mein Fokus ist dabei ein kritisch-psychologischer, also ein solcher, der die Menschen in ihren Handlungsbegründungen ernst nimmt und gleichzeitig die Verbindung zu gesellschaftlichen Bedingungen und Denkformen herstellt, um so Widersprüche deutlich zu machen, zum Beispiel zwischen emanzipatorischem Impetus und antiemanzipatorischer Praxis. Ich habe dabei natürlich selbst einen bestimmten Blickwinkel, der sich aus meiner gesellschaftlichen Position und Lebenslage ergibt. Ich stelle hier keine Urteile oder Diagnosen auf, sondern möchte Überlegungen zur Verfügung stellen, um verstärkt in einen Modus der intersubjektiven Selbstverständigung zu kommen. Damit meine ich die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Handlungsgründen und -begründungen, um sie erst einmal zu verstehen.

Analyse von Denkformen

Auch ich habe mir in meinem Leben schon problematische Denkformen angeeignet, die ich erst durch Reflexion und Diskussion auf Distanz bringen und somit kritisieren konnte. Eine Denkform dient der Orientierung in der Welt und gibt Sicherheit und Kontrolle. Sie hilft uns, unser Leben in den vorfindlichen Bedingungen zu führen. Die zentrale Frage ist, ob beziehungsweise inwieweit meine Denkform und die damit einhergehenden Handlungen die Unterdrückung anderer bedingt und miteinschließt (in der Kritischen Psychologie nennen wir das „restriktive Handlungsfähigkeit“). Eine Denkform, die Befreiung durch Vernichtung propagiert, ist definitiv keine emanzipatorische, auch nicht eine, die das Töten von ZivilistInnen jeglichen Alters als Mittel zum Ziel deklariert oder als Bagatelle auf dem Weg zur „Freiheit“. Umgekehrt kann sich das Töten von ZivilistInnen als Kollateralschaden ebenso wenig emanzipatorisch nennen, auch wenn das Ziel die Zerstörung einer klerikalfaschistischen Bewegung (Hamas) ist.

Der Wunsch nach Widerstand und Befreiung

Es dauerte nicht lange, bis nach dem Massaker in Israel vom 7. Oktober 2023 erste Stimmen auftauchten, welche die üblichen Denkformen Kolonialismus, Apartheid, Freiluftgefängnis, Freiheitskampf und so weiter bedienten. Schon bald waren für viele die getöteten und geschändeten jüdischen Menschen im Hintergrund. Mensch brauche sich nicht wundern, wer Wind sät, wird Sturm ernten und überhaupt, was haben wir denn gedacht, wie Dekolonialisierung aussieht? Es wird so getan, als ginge es um Befreiung. Endlich bekommt „der Unterdrücker“ ordentlich eins in die Fresse und spürt mal so richtig am eigenen Leib, was es bedeutet, gewaltsam unterdrückt zu werden. Es ist der Moment des Aufschreis gegen Jahrzehnte systematischer Gewalt, Diskriminierung, Apartheid, Rassismus usw. Es ist der Moment des Widerstandes und der (stellvertretenden) Revolution.
Dieser Diskurs findet statt vor dem Hintergrund des 7. Oktober, der jüdischen Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte und dem alltäglichen Antisemitismus – beziehungsweise noch spezifischer des eliminatorischen Antisemitismus. Das ist es, was wir am 7. Oktober gesehen haben und was viele UnterstützerInnen „im Westen“ nicht sehen wollen: Nicht die Befreiung von UnterdrückerInnen, sondern das Abschlachten von Menschen. Das zutiefst Unmenschliche der Hamas und vergleichbarer ideologisch gewaltsamer und eliminatorischer Gruppen wird ausgeblendet und verdrängt, um das Gefühl von Macht und Befreiung behalten zu können.

Der Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus

Rassismus und Antisemitismus müssen im Kontext von Kapitalismus und Nationalstaaten gesehen werden. Ausbeutung wird anhand von Geschlecht, Race, Klasse und Nationalität gestaltet und entlang kapitalistischer Notwendigkeiten verändert. Daraus ergeben sich Hierarchien, in denen nach unten getreten werden kann. Das ist der subjektive „Vorteil“ von Rassismus: dass mensch die eigene Wut und Aggression gegen Schwächere einsetzen kann, statt gegen das (abstrakte) „System“, in welches mensch eingespannt ist, an welchem mensch mitwirkt und von welchem mensch abhängig ist. Der Rassismus „sichert“ in dieser Denkform den begrenzten und gewährten Zugriff auf meine Lebensbedingungen.
Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass „die Juden“ mit dem Abstrakten im Kapitalismus selbst gleichgesetzt werden, also dem Wert und seiner Vermehrungslogik, mitsamt Zinsen und verborgenen Netzwerken, die manipulativ im Hintergrund agieren. „Der Jude“ ist im antisemitischen Weltbild ein wurzelloses Individuum, welches die anderen Menschen parasitär ausbeutet. Mit „den Juden“ kann mensch mit dieser Denkform das Abstrakte des kapitalistischen Machtsystems konkret machen. (Daher erscheint auch Israel vielen als „künstliches“ Gebilde – als ob das bei irgendeinem Staat anders wäre.)
Der Impetus ist somit einer, der nach Befreiung und Widerstand strebt; durch das Ausblenden jeglicher Widersprüche ist es jedoch am Ende wieder nur eine Form restriktiver Handlungsfähigkeit, also einer solchen, die handlungsfähig macht beziehungsweise erhält auf Kosten anderer. Der Preis, den „die anderen“ hier zahlen, ist der höchste, nämlich mit dem eigenen Leben.
Rassismus und Antisemitismus sind neben dem Schaden für andere auch selbstschädigend, da sie nicht darauf abzielen, gemeinsam Widersprüche zu analysieren, sondern diese auf Kosten anderer zu verdrängen und somit die eigene Verstricktheit in Unterdrückungszusammenhänge und -mechanismen nicht fassbar machen. Die Selbstschädigung wird verdrängt. Nur dadurch ist es möglich, dass zum Beispiel Individuen und Gruppen aus der LGBTQ+ Community sich mit der Hamas solidarisieren, die, wäre sie an der Macht, diese sofort ebenfalls umbrächte. Die Selbstfeindschaft des Antisemitismus wird nirgends deutlicher.

PalästinenserInnen als Verschubmasse

Ich maße mir keine Expertise über die Situation in Gaza an, sondern formuliere nur die Hypothese, dass man es mit Denkformen zu tun hat, die überdurchschnittlich um Israel und Jüdisch-Sein kreisen: zum Beispiel „die Juden sind unser Unglück“, „nur die Zerstörung Israels kann uns Frieden bringen“ und so weiter. Der Hass auf Juden und ihre Stilisierung zur Ursache alles Schlechten scheinen zu einem Gravitationszentrum der palästinensischen Kultur in Gaza geworden zu sein. Womit nicht gesagt ist, dass das Leben dort nicht mühsam und schrecklich wäre. Aber anstatt sich der Traumata zuzuwenden, werden sie konserviert und in eine Hassökonomie eingespeist. Die Hassökonomie ist die Spiegelung der Hilfsökonomie, in welche Milliarden gepumpt wurden und werden, ohne Verbesserung für das alltägliche Leben. Und Schuld daran ist Israel, scheint das Narrativ zu sein. Die Anführer der palästinensischen Bewegungen leben übrigens sehr gut von dieser Hilfsökonomie. Hier stellt sich somit auch die Frage, warum das Interesse der arabischen Staaten und auch der UN an einer Lösung so gering zu sein scheint. Die gesamte Last eines Friedensprozesses wird Israel aufgebürdet, da ja nur es „der Täter“ ist, während die Palästinenser*innen „das Opfer“ sind. Daraus erklärt sich vielleicht auch, warum sie die einzige Bevölkerungsgruppe sind, die eine eigene UN-Suborganisation bekommen hat, das UNRWA, und in welcher der Flüchtlingsstatus vererbt wird.

Antisemitismus als Widerstand

Diese eigenartigen Tatsachen bringen uns zurück zu den westlichen Denkformen, denn diese müssen wir uns anschauen. Es gibt ein Bedürfnis nach Antisemitismus. Antisemitismus ist funktional in die kapitalistische Gesellschaft eingewoben – genauer: in das kapitalistische Denken, das Denken in der Wertform. Der Antisemitismus gibt konkrete Antworten zu unübersichtlichen und abstrakten Prozessen und Gesetzen. Anstatt das kapitalistische Weltverhältnis in seiner Totalität denken zu müssen, kann ich unterscheiden zwischen „guter“ Wirtschaft und „degenerierter“ Finanzwelt, zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital. Das Problem eines unfassbaren Systems, in das ich selbst widersprüchlich eingewoben bin und an dem ich mitwebe, kann externalisiert und personalisiert werden: Gierige, verschlagene, skrupellose Menschen sind das Problem! Im Kampf gegen diese bekomme ich Sicherheit und Kontrolle, denn der Feind ist klar und er kann bekämpft werden. Außerdem scheint eine „Endlösung“ der Zerrissenheit, Entfremdung und so weiter im Kapitalismus möglich: Die Eliminierung der Juden bringt die Welt ins Gleichgewicht. Das Jüdische wird also als das Problematische des kapitalistischen Weltverhältnisses identifiziert, das Element, das unharmonisch, geschwürartig, pervers ist. Es zeigt sich somit auch, dass dieselbe Logik, die dem Antisemitismus des Nationalsozialismus zugrunde lag, ebenfalls dem heutigen Antisemitismus als Basis dient. Damit ist nicht gesagt, dass alle, die sich antisemitische Denkformen aneignen, Nazis sind, aber schon, dass sie, durch das „Benutzen“ dieser Denkform, in einer historischen Tradition stehen.
Eine weitere Attraktivität des modernen Antisemitismus ist, dass durch die „Täterschaft“ Israels die Ungeheuerlichkeit der Shoah und die Überforderung, diese zu denken oder gar zu fühlen, abgemildert werden kann, zusätzlich zur Entbindung von der historischen Verantwortung, da „die Juden“ ja in Gaza gleich schlimm sind wie damals die Nazis. Das bedeutet also, dass durch Täter-Opfer-Umkehr, Verharmlosung, Vergleiche und Relativierungen die Shoah handhabbar und harmloser gemacht wird, was das Gefühl von Kontrollierbarkeit erhöht.
Was wir hier, im „Westen“, also machen sollten ist, uns und unsere Bedürfnisse in den Blick zu nehmen: Welche Gefühle bekomme ich durch die „Kritik“ an Israel, was kann ich dadurch kompensieren und welchen Preis zahle ich dafür, nämlich die Einreihung in antisemitische Bündnisse mit den schon geschilderten Konsequenzen. Das Kontrollbedürfnis mittels antisemitischer Denkformen zu befriedigen ist keine emanzipatorische Option.

Struktureller Rassismus

Was wir uns aber auch anschauen müssen, ist die Attraktivität des palästinensischen „Befreiungskampfes“ für hier lebende PoC. Die Attraktivität rührt meines Erachtens aus der oben schon angeführten Denkform von „Israel als kolonialem Unterdrücker“ und attraktiv ist die Denkform für hier lebende PoC, da sie eine Ermächtigung verspricht gegen den subjektiv erlebten und generational tradierten Rassismus in Österreich (und anderen europäischen Ländern). Wir haben es also mit Menschen zu tun, die teilweise seit Generationen hier leben und trotzdem nie ankommen, da Österreich rassistisch strukturiert und imprägniert ist. Hier lebende PoC haben hier kaum Repräsentanz. Sie haben (bewusst oder unbewusst) Aggressionen gegen Österreich (bzw. „den Westen“) und Weiße. Und zwar aus gutem Grund. Die tiefgreifende und strukturelle Dimension von Rassismus muss von Weißen anerkannt werden. Es geht um Ungleichheit und Diskriminierung. Die Berechtigung des Affektes muss anerkannt werden, um in der Folge überhaupt die Denkform kritisieren zu können.
Durch den Diskurs des „importierten Antisemitismus“ – so wichtig es auch ist, diesen zu adressieren – verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf „die Ausländer“ und macht sie zu noch aufzuklärenden, zu erziehenden Individuen. Schon wieder werden sie zum Ziel von „integrierenden“ Maßnahmen, die sie zu ungleichen Subjekten macht. Sie bleiben Subalterne in den westlichen Gesellschaften (und auch in der allgemeinen Weltordnung). Dieses Kleinhalten macht viele Betroffene und ihre Weißen Verbündeten zu Recht wütend. Diese Wut muss anerkannt und mit den sie fördernden Bedingungen analytisch verknüpft werden. Sie muss allerdings auch kritisiert werden, wenn sie antiemanzipatorische Denkformen enthält, die eventuell in entsprechende Handlungen münden.